Jesko Matthes / 31.05.2018 / 14:00 / Foto: Jonas Rogowski / 16 / Seite ausdrucken

Steinmeier widersteht Steinmeier

Achtung! Es spricht der Bundespräsident. Er spricht vor eine Kiewer Universität über ukrainische Verhältnisse – und über Hannah Arendt:

Eine gewisse Renitenz, die Bereitschaft, sich Unzumutbarem zu widersetzen und der Wille zu Veränderungen sind Eigenschaften, die wohl den meisten Menschen als Tugenden gelten. Politikern sollten sie nicht fremd sein.

Nach allem, was ich gesehen, gehört und gelesen habe, hatten die Proteste auf dem Kiewer Majdan 2004 und 2013 aber noch eine andere Qualität: Gemeinsinn ist vielleicht die beste Umschreibung dafür – der unbedingte Wille, beieinander zu bleiben und gemeinsam für ein Ziel einzustehen, dafür, die Zukunft in die eigenen Hände nehmen zu können. Vor unser aller Augen entstand ein politischer Raum, ein Majdan, wenn ich diesen Begriff so interpretieren darf.

Ohne diesen politisch garantierten öffentlichen Raum hat Freiheit in der Welt keinen Ort, sagt uns Hannah Arendt, "auch wenn sie immer und unter allen Umständen als Sehnsucht in den Herzen der Menschen wohnen mag […]. Wir erleben Freiheit nur im Umgang mit anderen, nur in Bezug aufeinander, also nur im Bereich des Politischen. In der Realität fallen Politik und Freiheit zusammen", das ist Arendts Überzeugung: "Sie verhalten sich zueinander wie die beiden Seiten der nämlichen Sache".

Sie haben uns zu Zeugen dessen gemacht, was Hannah Arendt beschreibt. Das kann mich und das kann die Menschen meines Landes nicht gleichgültig lassen.

Nationale Identität

Wenig später würdigt der Bundespräsident die Ukraine als eine seit Jahrtausenden multikulturelle Gesellschaft und fährt sogleich fort:

Wechselwirkungen zwischen Geschichte und Politik sind immer nur schwer zu definieren, weil die Geschichte selbst widersprüchlich und komplex bleibt. Sie stiftet Identität, auch nationale Identität [...]

Lese ich richtig? Eine gewisse Renitenz, die Bereitschaft, sich Unzumutbarem zu widersetzen? Ein politisch garantierter öffentlicher Raum, ohne den es keine Freiheit gibt? Entsprechend darf ich vermuten, dass der Bundespräsident diese Renitenz schätzt, dass er es gutheißt, wenn Proteste gegen die Regierung auf der Straße ausgetragen werden, wenn gar das Parlament blockiert, Präsidenten zur Abdankung gezwungen werden? Dass Bürger sich gegen eine ganze politische Klasse erheben, wenn diese ihnen als abgelebt und Überholtem, Unzeitgemäßem, Korrumpierendem verhaftet erscheint? Dass er, der Bundespräsident, es würdigt, wenn die freien Bürger eines Staates diese Freiheit selbst in die Hand nehmen, die alles Politische kennzeichnet? Dass er es achtet und wertschätzt, wenn eine widersprüchliche Geschichte dabei „nationale Identität“ stiftet?

Nun, was den Umgang mit der Wahrnehmung dieser Freiheiten und Identitäten betrifft, habe ich denselben Bundespräsidenten auch schon ganz anders reden hören, allerdings nicht in der Ukraine, sondern vor kurzer Zeit in der Schweiz:

Vielleicht muss es uns da gar nicht verwundern, dass derzeit gerade diejenigen politischen Kräfte die digitale Zukunft für sich zu nutzen wissen, die eine goldene Vergangenheit heraufbeschwören. Populisten nutzen die neuen Kanäle, um alte Antworten auf die Frage nach Identität und Orientierung zu geben: Abschottung, Ausgrenzung, Nationalismus.

Ah, so ist das! Wenn jemand „alte Antworten“ auf aktuelle Fragen gibt, dann ist Schluss mit dem freien öffentlichen Raum der Bürger, dann ist der moderne Staat ein Staat ohne Grenzen und ein schutzloses Gemeinwesen, das sich gegen nichts und niemanden abschottet und keinen ausgrenzt – außer jenen, die genau diesen hanebüchenen, sich selbst widersprechenden Unsinn von politischer Theorie kritisieren und auf längst Erkanntes, Bewährtes verweisen. Diese Leute, die den Frieden einer Gesellschaft in Freiheit verteidigen, indem sie den entgrenzten Tendenzen einer Fragmentierung der Gesellschaft durch „offene Grenzen“ bei gleichzeitiger Beschneidung des öffentlichen Raumes der Bürger widersprechen, diese Leute, zu denen auch ich mich bereitwillig bekenne, sind also „Nationalisten“. Ein solcher Eintrag in mein Stammbuch zieht meinen Eintrag ins Stammbuch des Bundespräsidenten zwanglos nach sich.

Bei Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie Hannah Arendt!

Denn diese geistigen Angelegenheiten und Herzensanliegen des Frank-Walter Steinmeier haben noch eine ganz andere Dimension, eine philosophische. Immerhin zitiert er Hannah Arendt, aus Ihrem Essay „Freiheit und Politik“.

Genau in diesem Text warnt Arendt eindringlich vor jeder Beschneidung des öffentlichen Raumes. Sie selbst bezieht sich dabei gleich zweimal auf Montesquieu, seine Begriffe einer Freiheit, die gleichzeitig (!) die Sicherheit der Bürger bedeute, und des – öffentlichen – Raisonnierens, sie zielt dabei also direkt auf den Gebrauch der eigenen Vernunft der Bürger ohne jede ideologisch motivierte Einschränkung ihrer Freiheiten. Dies sei nur in der Demokratie möglich, die eigentlich eine Isonomie sei, eine Gleichheit vor dem Gesetz, eine gesicherte Teilhabe, aus der das notwendige Führen und Handeln der Politik erst erwächst, die am Ende ein Gemeinwesen leitet und begleitet, gerade indem es dieses Gemeinwesen vor jeder ideologischen Erstarrung nebst der dann automatischen Einschränkung aller seiner Freiheiten schützt.

Wer, wie der Bundespräsident es tut, Hannah Arendt nur in der Ukraine auspackt, sie jedoch in die Schweiz oder gar zu sich nach Hause nur als geheime Verschlusssache im Diplomatengepäck mitnimmt, der sollte lieber etwas ganz anderes tun: Die eigenen verquasten Aussagen ganz weglassen und einfach den gesamten Text der Hannah Arendt überall verlesen, immer wieder, und dann auch selbst danach handeln. Auf die eigene Gefahr hin, dies könne am Ende auf etwas ganz anderes hinauslaufen als alle die bisherigen präsidialen Reden: die Freiheit der Bürger – eine gewisse Renitenz.

Foto: Jonas Rogowski - Eigenes Werk, CC BY 3.0 via Wikimedia Commons

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Michael Jansen / 31.05.2018

Alte Übung nicht nur für Präsidenten sondern für viele Politiker bei Sonntagsreden! Nach der alten Weisheit “Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?!?” werden regelmäßig Reden gehalten, deren primärer Zweck es ist erstens die Belesenheit des Sprechers und seine philosophischen Qualitäten zu illustrieren und zweitens mit den geäußerten Ansichten beim Publikum einen guten Eindruck zu hinterlassen. So kann man also mühelos in der Ukraine den Nationalismus als Antrieb für eine Revolution loben, während man sich bei anderer Gelegenheit als Retter der Demokratie inszenieren will und den Nationalismus (wäre wohl eigentlich eher Patriotismus), verbunden mit anderen negativ konnotierten Begriffen, als amoralisch diskreditiert. Wenn dies auch noch eine Verunglimpfung des innenpolitische Gegners beinhaltet, ist das aus Sicht der Regierenden sicher noch ein positiver Nebenaspekt einer solchen Rede, auch wenn die parteipolitische Neutralität des Bundespräsidenten sich vielleicht nicht unbedingt mit einem solchen verkappten Wahlkampfauftritt vereinbaren lässt.

Georg Dobler / 31.05.2018

Daran habe ich mich schon gewöhnt. Das was unsere politische Klasse gerne bei kritisch betrachteten Regimen anmahnt will man im eigenen Land nicht hören. Große Töne über die Presse- und Demonstrationsfreiheit Richtung China, Russland, Türkei und zum bösen Trump. Zuhause dann aber sofort Gegendemonstrationen unterstützen und organisieren wenn eine kritische Opposition demonstriert.  Störungen und Behinderungen von Demos zulassen und wegsehen. Was Steinmeier tut ist also völlig normal. Eine noch mächtige Gruppe bestimmt die Richtung und gibt vor, wer schützenswerte Opposition ist und wer die zu bekämpfenden “Populisten” sind. Die Sonntagsreden müssen so zwangsläufig gelegentlich sich selber widersprechen. Die haben kein Problem sich beim Rasieren im Spiegel in die Augen zu sehen.

Maja Schneider / 31.05.2018

Was für die Ukraine gilt, gilt noch lange nicht für die eigene Bevölkerung. Man kommt aus dem Staunen (gelinde gesprochen) über unsere Politiker gar nicht mehr heraus. Merken sie - und in diesem Fall unser BP - gar nicht mehr, was sie da manchmal an Widersprüchen von sich geben oder haben sie sich inzwischen so in der seit 2015 völlig entgleisten Politik verheddert, dass sie vieles selber nicht mehr verstehen, was sie bei ihren offiziellen Auftritten zum Besten geben.

Peter Wachter / 31.05.2018

Das ist nicht mehr mein BP, ich machs wie Özil, ich hab es auch einen anderen BP, weiss nur nocht nicht, nehm ich den von Polen oder den von Ungarn, kann mich gar nicht entscheiden! LOL

Gottfried Meier / 31.05.2018

Das ist zuallererst ein dummes Gefasel hinter einem intellektuellen Deckmantel. Otto Normalverbraucher kann damit nichts anfangen. Herr Steinmeier sollte sich vielleicht mal bei Papa Heuss oder Helmut Schmidt umschauen. Die hat man verstanden, ohne um die Ecke denken zu müssen.

Armin Hoffmann / 31.05.2018

Der Hauptzweck und die größte Schwierigkeit der Regierung ist es, die individuelle Armut zu erhalten.

Karla Kuhn / 31.05.2018

“Wer, wie der Bundespräsident es tut, Hannah Arendt nur in der Ukraine auspackt, sie jedoch in die Schweiz oder gar zu sich nach Hause nur als geheime Verschlusssache im Diplomatengepäck mitnimmt, der sollte lieber etwas ganz anderes tun: Die eigenen verquasten Aussagen ganz weglassen und einfach den gesamten Text der Hannah Arendt überall verlesen, immer wieder, und dann auch selbst danach handeln. Auf die eigene Gefahr hin, dies könne am Ende auf etwas ganz anderes hinauslaufen als alle die bisherigen präsidialen Reden: die Freiheit der Bürger – eine gewisse Renitenz.”  Vielleicht sollte dem BP ans Herz gelegt werden, daß er seinen Posten räumt ? Das ist ja nicht zu fassen.

Chr. Kühn / 31.05.2018

So etwas Aehnliches hat er doch schon bei seiner Rede zum 100-Jaehrigen-Bestehen der Augsburger Synagoge gesagt: “Die Barbarei der Nationalsozialisten, aber auch das mangelnde Mitgefühl mit den jüdischen Nachbarn, der fehlende Mut der Mehrheit, den Mächtigen in den Arm zu fallen (...)” Waere uns sein Wohlwollen und Applaus in der Gegenwart sicher, wenn wir den Mut haetten, den derzeit Maechtigen in den Arm zu fallen?

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