Als eingefleischter Naturwissenschaftler neige ich nicht zur Heldenverehrung. Schon klar, dass viele Menschen, vielleicht vor allem junge, sich gerne an Vorbildern orientieren. Solange das nicht zur unreflektierten Heldenverehrung führt, kann das auch sinnvoll sein. Ich bin jedoch der Meinung, man sollte Menschen in erster Linie an ihren Taten messen. Und da wird es, wenn man mal genauer hinschaut, immer Licht und Schatten geben
Nichtsdestotrotz geschieht es hin und wieder, dass einzelne Menschen Außerordentliches leisten, ja vielleicht sogar „Heldentaten“. Meiner Meinung nach gehört dazu immer ein Abweichen vom „Mainstream“ (in Deutschland im Jahre 2021 zu einer Pride-Veranstaltung zu gehen, zählt wohl eher nicht zu den „Heldentaten“; dasselbe vor 80 Jahren in Deutschland oder 2021 in Saudi-Arabien wohl schon).
Heute möchte ich für die deutsche Leserschaft von einer solchen demokratischen „Heldentat“ in Schweden, mit deutlich deutscher Konnotation, berichten. Im März dieses Jahres ist die schwedische Parteivorsitzende der Liberalen, Nyamko Sabuni, ein bisschen in die „Fußstapfen“ von Thomas Kemmerich (liberaler Kurzzeitministerpräsident von Thüringen – ich muss die Geschichte hier wohl nicht wiederholen) getreten.
Daraufhin hat, wenig überraschend, der schwedische Staatsminister Stefan Löfven irgendwie versucht, in Angela Merkels Fußstapfen (Gefahr für die Demokratie! Rückgängig machen!) zu treten. Allerdings – und dies spricht für die Funktionalität der schwedischen Demokratie – mit deutlich weniger Erfolg. Solche Vergleiche sind natürlich immer Äpfel und Birnen, können aber nichtsdestotrotz zum Erkenntnisgewinn beitragen. Wie in der Coronakrise hat Schweden auch hier einen anderen Weg eingeschlagen als Deutschland in beiden Fällen, meiner Meinung nach einen freiheitlicheren, demokratischeren Weg. Warum? Und was ist passiert?
Alleinherrschaft der Sozialdemokraten gebrochen
Um das zu verstehen, ein wenig (vereinfachter) schwedischer parteipolitisch-historischer Hintergrund:
In Schweden gibt es ein ähnliches Parteienspektrum wie in Deutschland. Von links nach rechts aufgezählt wären dies: die Linkspartei (V=Vänster), die Grünen (MP=miljöparti), die Sozialdemokraten (S, aktuell dominierende Linkspartei), die Zentrumspartei (C=centerpartiet), die Liberalen (L=liberalerna), die Moderaten (M=moderaterna, aktuell dominierende Rechtspartei), die Christdemokraten (KD=kristdemokraterna), sowie die Schwedendemokraten (SD=sverigedemokraterna).
Die schwedischen Sozialdemokraten haben in den letzten >100 Jahren eine ähnlich dominante Rolle gespielt wie die CDU in Deutschland seit Gründung der BRD (die DDR lasse ich jetzt mal außen vor). Sie waren zwischen 1932 und 2000 nur 9 Jahre in der Opposition. Meistens bildeten sie alleine die Regierung; wenn die Stimmen nicht ausreichten, konnten sie sich auf Unterstützung durch die Linkspartei (Bis 1967 hießen sie noch Linkspartei/Kommunisten) verlassen, die sich häufig damit zufrieden gab, gegen die „Bürgerlichen“ (Rechtsparteien) zu stimmen. Die „Bürgerlichen“ (C, L, M, KD) mussten sich meistens mit der Oppositionsrolle begnügen.
Diese „Stabilität“ endete (ähnlich wie in Deutschland, wenn auch mit leicht unterschiedlichem Timing) mit dem Einzug (schwedischer Reichstag – riksdag) der „umweltpopulistischen“ Grünen (MP) in den Neunzigern und dem Einzug der „migrationspopulistischen“ Schwedendemokraten (SD) im Jahre 2010. Wie in Deutschland mit den Grünen hat es eine Weile gedauert, aber irgendwann haben die Sozialdemokraten die Grünen politisch akzeptiert und eine gemeinsame Regierung gebildet.
Bürgerliche arrangieren sich langsam mit den Rechten
Ebenso wie in Deutschland die AfD, wurden die migrationskritischen/rechtsextremen (je nachdem, wen man fragt) Schwedendemokraten als neue rechte Partei von den etablierten Parteien mit der gewohnten Rhetorik bekämpft. Ein Teil der Kritik war sicherlich gerechtfertigt, ein Teil wurde nur instrumentativ zur Konkurrenzbekämpfung vorgebracht.
Mit der Zeit (und zunehmender Migration) wuchs der Anteil der Schwedendemokraten von 5,7% (2010) über 12,9% (2014) bis 17,5% bei der letzten Wahl 2018. Weil die Schwedendemokraten sowohl Stimmen von links als auch von rechts unter sich vereinen konnten, war 2006 das letzte Mal, dass eines der beiden traditionellen Lager (sozialdemokratisch/links oder bürgerlich) eine Mehrheit zusammenbringen konnten. Seitdem regierten reine Minderheitsregierungen. Der jeweils stärkste Block durfte den Staatsminister stellen (2010, die Bürgerlichen, 2014 und 2018 die Rot-Grünen).
Nach der letzten Wahl bekamen die Rot-Grünen die Unterstützung der Zentrumspartei (C) und der Liberalen (L), damit konnten sie weiter regieren als Minderheitsregierung. Allerdings hätten die Sozialdemokraten unter Stefan Löfven es bevorzugt, mit der größten bürgerlichen Partei (M) eine GroKo (vielleicht nach deutschem Vorbild?) einzugehen. Zum Glück, und im Gegensatz zu Deutschland, lehnten die Moderaten dies ab und S war gezwungen, in eine erneute und unbequemere Minderheitsregierung zu gehen, wo sie sich Mehrheiten in Sachfragen immer wieder neu suchen mussten anstatt „durchzuregieren“.
In den zwei Jahren seit der letzten Wahl haben sich dann die „rechtesten“ Parteien der Bürgerlichen (M & KD) mit SD „arrangiert“. Für eine mögliche gemeinsame Mehrheit war allerdings noch mindestens eine weitere bürgerliche Partei vonnöten. Dies passierte jetzt im März dieses Jahres. Unter Leitung von Nyamko Sabuni entschieden sich die Liberalen im März, von ihrer vorherigen totalen Ablehnung der Schwedendemokraten abzurücken, was nach einer Neuwahl mit entsprechendem Ergebnis eine bürgerliche Regierung unter Tolerierung durch die Schwedendemokraten wahrscheinlicher macht. Die Liberalen wollen nicht mit SD in einer Regierung sitzen, aber in Sachfragen möglichst miteinander Einigung suchen.
Die Reaktion der Machtpartei (S) war nicht unerwartet. Stefan Löfven (Staatsminister) äußerte in einem SVT Interview seine Sorge um die schwedische Demokratie. SvD titelte daraufhin „Löfven: Die Demokratie wird durch einen Machtwechsel bedroht“.
Wachsende Zufriedenheit mit der Demokratie
Wäre das alles in Deutschland passiert, ich bin mir sicher, Lindner (FDP) wäre nach einem „shitstorm“ gigantischen Ausmaßes zu Kreuze gekrochen und hätte den Beschluss rückgängig gemacht. Nicht so in Schweden. Natürlich gab es Kritik, aber nicht nur; es gab sowohl pro als auch contra. Den wohl besten Beitrag brachte der Professor für Staatskunde, Stefan Dahlberg. In einem SvD-Artikel erklärte er: „Was wir heute wissen hinsichtlich der Konsequenz von Zusammenarbeit mit rechten Partein wie SD, so führt so etwas in der Bevölkerung zu einer wachsenden Zufriedenheit mit der Demokratie… Fakt ist, dass es nicht ein einziges Beispiel gibt, wo ein konsolidiertes demokratisches System wie das schwedische zusammengebrochen ist. Eine Erhöhung der Zufriedenheit mit der Demokratie sollte im Gegenteil eher dazu führen, dass radikale Übergänge zu mehr autoritären Systemen unwahrscheinlicher werden.“
Zusammengefasst hat also die im Alter von 12 Jahren aus Afrika eingewanderte Nyamko Sabuni etwas getan, was die Zufriedenheit mit der Demokratie in Schweden verbessern wird – weil sie eingesehen und Konsequenzen daraus gezogen hat, dass es „undemokratisch“ ist, über 17% der schwedischen Wähler (die Wähler von SD) von jeglicher politischer Teilhabe auszunehmen.
Dies jetzt, um zum Anfang zurückzukommen, eine Heldentat zu nennen, ist vielleicht ein wenig zu stark. Aber sie hat durchaus eine Menge riskiert (dem werden sicher die meisten deutschen Leser hier zustimmen). Weniger demokratisch, wie ich finde, äußerte sich Annie Lööf, die Parteivorsitzende der bürgerlichen Zentrumspartei. In einer Debatte mit Jimmie Åkesson (Parteivorsitzender der Schwedendemokraten) hatte sie weniger Argumente, aber mehr „Emotionen“ gegenüber seinen Behauptungen hinsichtlich Kriminalität und Einwanderung; sie spürte, Zitat: „eine solche Verachtung“ (sådant förakt) Jimmie Åkesson gegenüber.
„Alternativlosigkeit“ hat hier keine Chance
In meinen Augen kann die eingeboren-schwedische Frau Lööf noch einiges in Sachen freiheitlicher Demokratie von der eingewanderten Frau Sabuni lernen. Ich hoffe sehr, dass Frau Sabuni und ihre Partei bei der nächsten Wahl für ihren demokratischen Mut belohnt werden.
Aber auch wenn die Bürgerlichen mit den Liberalen (unter Tolerierung durch die Schwedendemokraten) nächstes Jahr keine Mehrheit bekommen, macht es nicht viel aus, denn „die Linken“ wissen, es gibt eine politische Wirklichkeit und Alternative:
- jenseits des „Kampfes gegen rechts“,
- jenseits eines überideologisierten Kampfes gegen die Klimaerwärmung (die Bürgerlichen inkl. SD und L haben sich für einen Ausbau der Kernenergie ausgesprochen) und auch
- jenseits einer wirklichkeitsfernen Migrationspolitik (Nyamko Sabuni fragte Annie Lööf rhetorisch in oben genannter Debatte, ob sie „die ganze Welt nach Schweden holen wolle“).
In einer funktionierenden Demokratie hat Alternativlosigkeit keine Chance.
Ob das Ganze auf Deutschland übertragbar ist, ist eine andere Frage. Vielleicht ist es ja wahr, dass Deutschland – mal wieder – mit der AfD die einzige echt gefährliche Rechtspartei Europas hervorgebracht hat. Und dass RotRotGrünSchwarzGelb Deutschland rettet, indem man dieser Partei nicht einmal den kleinsten Finger reicht und alles dem alternativlosen „Kampf gegen rechts“ unterordnet. Ich, als deutscher Migrant in Schweden, habe so meine Zweifel und folge lieber Nyamko Sabuni als Vorbild.