Kolja Zydatiss / 29.03.2022 / 06:11 / Foto: Bene16 / 110 / Seite ausdrucken

Schwarze Löcher auf Kollisionskurs

Putins Posieren gegen den „dekadenten“ Westen verfängt, weil es etwas Wahres berührt. Sein Hauptzweck ist, von gravierenden, kaum behebbaren internen Problemen abzulenken – Eskalation programmiert.

Bei Wladimir Putin sei „eine Motivlage erkennbar, die weit über den Wunsch hinausweist, eine staatliche Zusammengehörigkeit eines Volkes zu erzwingen“, schreibt der Welt-Autor Torsten Krauel in einem aktuellen Meinungsbeitrag zur russischen Invasion der Ukraine. Er verweist auf eine Rede Putins vom 24. Februar, in der der russische Präsident behauptete, die USA „mit ihren niedrigen kulturellen Standards“ wollten Russland „aller traditionellen Werte berauben“ und dem Land „falsche Werte aufzwingen“, die es „von innen aushöhlen würden“ – nämlich „Verhaltensweisen, die auf direktem Weg in die Entartung und Degenerierung münden, weil sie der menschlichen Natur zuwiderlaufen“.

Auch in einer weiteren, am 16. März gehaltenen Rede hat Putin den russischen Patriotismus gegen aus seiner Sicht zersetzende soziokulturelle Trends in Stellung gebracht. Russen, die geistig im Westen lebten, schalt der Präsident als „innere Feinde“ und „Verräter“, die nicht auf Foie gras verzichten könnten, auf Austern „oder auf freie Geschlechterwahl, wie sie das nennen“.

Andere Aussagen von russischen Regierungsmitgliedern bzw. regierungsnahen Personen bestätigen das Bild einer Kreml-Clique, die sich in einer Art apokalyptischem (Kultur-)Kampf mit dem Westen im Allgemeinen und den USA im Besonderen wähnt. So haben sowohl Wladimir Putin als auch sein Außenminister Sergej Lawrow mit ähnlichen Worten unverblümt ausgesprochen, dass die russische Kriegsentscheidung wenig oder gar nichts mit der Ukraine an sich zu tun hat. „Es geht um die internationale Ordnung statt um die Ukraine allein“, sagte Lawrow etwa am 16. März in einem Interview.

Ziel eines „primitiven Spiels“ der Amerikaner

Der prominente erzkonservative und ultranationalistische Philosoph, Historiker und Soziologe Alexander Dugin, oft Chefideologe oder „Rasputin“ Putins genannt, hat in einem aktuellen Interview mit dem katarischen Sender Al-Jazeera bemerkt, dass die derzeitige Konfrontation sich auch gegen „die globalen liberalen Eliten“ richtet, „die versuchen, die Welt zu übernehmen“. Der Krieg in der Ukraine sei tatsächlich ein Kampf gegen die „Hegemonie“ der USA und ihrer Verbündeten. „Wir kämpfen gegen das hegemoniale totalitäre liberale System und nicht gegen die USA als Land oder Europa oder die Ukraine als Land“, führt Dugin weiter aus. „Es ist ein Krieg der Ideen.“

In einem ebenfalls beachtenswerten, zuerst auf dem Messaging-Dienst Telegram veröffentlichten Text hat der ehemalige russische Staatspräsident, enge Putin-Vertraute und heutige Vize-Chef des nationalen Sicherheitsrates Dmitri Medwedew vor wenigen Tagen verlautbart, Russland sei Ziel eines „primitiven Spiels“ der Amerikaner geworden, die das Land demütigen, begrenzen, erschüttern, spalten und zerstören wollten.

In der Welt attestiert Torsten Krauel dem russischen Präsidenten eine „tiefe Kulturangst“, die neben geopolitischen Überlegungen ein wesentlicher Teil seines Weltbilds sei. Werde Putin, „überspitzt formuliert, wegen des Gendersternchens einen Atomkrieg beginnen“, fragt der Autor in einer ziemlich albernen Passage. Leider bleibt Krauels eigentlich aufschlussreicher Text zu sehr dem „linksliberalen“, identitätspolitischen Zeitgeist und dessen Dogmen verhaftet und schafft es daher nicht besonders gut, Putins Motivation zu durchdringen und überzeugende Erklärungen für sein Handeln zu liefern.

Offenlegung der Schwächen beider Systeme

Aus meiner Sicht erscheint es äußerst unwahrscheinlich, dass Putin von einer tiefen Angst vor Gendersternchen, Trans-Personen, CSD-Paraden, „La Dolce Vulva“-Pullis oder anderen vermeintlichen kulturellen Errungenschaften des Westens getrieben ist. Vielmehr wird es ihm wesentlich darum gehen, dem eigenen System ex negativo einen Sinn zu geben, das in vielerlei Hinsicht noch dekadenter, dysfunktionaler und maroder ist als der zeitgenössische Westen.

Es ist viel über das extravagante und doch sinnentleerte Leben der russischen Oligarchenklasse geschrieben worden, fiktionalisiert etwa im Bestsellerroman „Snack Daddys abenteuerliche Reise“ (Originaltitel: „Absurdistan“, 2006) des 1972 in Leningrad geborenen und heute in den USA lebenden Journalisten Gary Shteyngart. Helmut Schmidts zugespitzte Charakterisierung Russlands als „Obervolta mit Atomraketen“ ist noch immer zutreffend. Die Wirtschaft ist einseitig auf Erdgas, Erdöl und den Verkauf von zu Sowjetzeiten entwickelten Rüstungsgütern an Schwellen- und Entwicklungsländer ausgerichtet, die meisten Bewohner haben einen im Vergleich zum Westen sehr niedrigen Lebensstandard, Korruption und Vetternwirtschaft sind endemisch und vieles funktioniert nicht besonders gut, auch bei den konventionellen Streitkräften, die gerade in der Ukraine an ihre Grenzen stoßen.

Faszinierend ist, wie der aktuelle Konflikt die Schwächen beider Systeme offenlegt. So zeigen die westlichen Bemühungen, das Eigentum russischer Oligarchen zu beschlagnahmen, deren sagenhaften Reichtum, lenken aber auch den Blick darauf, wie viele Luxusimmobilien in von chronischem Wohnraummangel geprägten Städten wie London oder New York große Teile des Jahres leer stehen, weil sie ebenjenen Oligarchen als Spekulationsobjekte dienen. 

Zwei schwarze Löcher des postideologischen Zeitalters

Hier haben sich zwei im Grunde schwache, kriselnde Systeme aneinander festgesaugt, zwei schwarze Löcher des postideologischen Zeitalters, die nicht mehr sagen können, wofür sie eigentlich stehen, und das durch aus dem Hut gezauberte Behelfsweltbilder notdürftig zu überspielen versuchen. Im Falle des Westens sind das im Wesentlichen eine sich auf „immer skurrilere Minderheiten“ (Sahra Wagenknecht) konzentrierende Identitätspolitik und der Ökologismus als Ersatzreligion. Im Falle Russlands sollen „ein bisschen Kirche, etwas Glorifizierung der alten Sowjetunion und daraus abgeleiteter Hass gegen die Staaten und ihre Führer, die sich von Russland abgewandt haben, Männerbündnisse bis hin zu Rockerbanden […] irgendwie eine Staatsidee hergeben“ (Udo Lielischkies im Focus). Dass letzteres, objektiv betrachtet kaum überzeugendes Programm bei nicht wenigen Russen tatsächlich verfängt, liegt vor allem daran, dass Putins Posieren gegen die Dekadenz und Orientierungslosigkeit des zeitgenössischen Westens etwas Wahres berührt.

Wie weit wird der Kreml gehen? Kann er noch umsteuern, oder muss er notgedrungen festhalten an seinem Kollisionskurs mit dem Westen, der wohl in erster Linie von innenpolitischen Problemen und dem eigenen Legitimationsdefizit ablenken soll, die, zumindest auf kurze Sicht, kaum behebbar sind? Torsten Krauel weist darauf hin, dass Putin mittlerweile viel Zeit in einem Atombunker tief unter dem 1.600 Meter hohen Berg Jamantau im südlichen Ural verbringt. „Der Präsident unter dem Jamantau bedeutet: Putin hat den Ukraine-Überfall von Anfang an auf die Stufe eines möglichen Atomkriegs gehoben. Kein US-Präsident würde jemals einen mit konventionellen Waffen geführten Krieg aus dem Regierungsbunker Raven Rock befehligen.“

Dmitri Medwedew hat in seinem bizarren Telegram-Traktat ein apokalyptisches Bild gezeichnet. Sollte der Westen mit seiner Verschwörung zur Destabilisierung und Zerstörung Russlands fortfahren, werde am Ende eine „große atomare Explosion“ stehen. Auf die Frage des Al-Jazeera Moderators an Alexander Dugin, ob er davor warne, dass eine russische Niederlage zu russischen Atomschlägen, einem nuklearen Holocaust und dem Ende der Welt führen würde, bestätigte Letzterer, dass dies „genau“ der Fall sei. „Dies sind die Worte unseres Präsidenten. Ohne Russland gibt es keine Menschheit.“ Alles nur Bluff, oder steht uns tatsächlich der Weltuntergang bevor, nur ganz anders, als die Klima-Kiddies der „Letzten Generation“ erwarten?  

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Novo-Argumente.

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Leserpost

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T. Schneegaß / 29.03.2022

Nur mal so ganz nebenbei am Thema (scheinbar) vorbei: Die heute wichtigste Stadt im weltweiten Handel verhängt einen kompletten Lockdown. Auslöser sind 47 Omikron-Erkrankte und 2.600 symptomlos Getestete bei 26 Millionen Einwohner !!! Alles hängt mit Nichts zusammen, logisch.

Frank Holdergrün / 29.03.2022

Russland zusammenzuhalten ist eine völlig andere Aufgabe als woken Deutschen Maulkörbe und grüne Angstparolen zu verordnen. Bei dem Verständnis dieser Herkulesherausforderung kommen deutsche Journalisten gewaltig unter die Räder.

T. Schneegaß / 29.03.2022

@Jürg Sand: “Wer den Frieden will, der hat ihn in Friedenszeiten zu festigen”. Der beste Satz, der zu diesem Thema auf der Achse geschrieben wurde.

Walter Weimar / 29.03.2022

@Walter Gustav, ganz richtig, selbst denken hilft, und gegen den Strom zu schwimmen, um an die Quelle der Erkenntnis zu gelangen macht allemal mehr Spaß, als sich ins Meer der Dummen spülen zu lassen.

T. Schneegaß / 29.03.2022

@th. bode: “Einfach als Bürger frei sein und individuell sein Leben leben, reicht ihnen nicht.” Also um es ganz kurz zu sagen: mir würde das vollkommen reichen. Und nun ab ins Impfzentrum, mit Maske, soviel Freiheit und Individualität darf schon sein!

T. Schneegaß / 29.03.2022

@Friedrich Richter: Meines Wissens hat bisher nur das “Werte-Vorbild” von denen, die sie besitzen, die Atombombe eingesetzt. Ausschließlich gegen Zivilisten und ohne jede militärische Notwendigkeit, da der Krieg entschieden und in Europa schon 3 Monate vorbei war. Hätten Sie eine Erklärung für diese damalige “Botschaft” der USA?

Arne Ausländer / 29.03.2022

Mit den schwarzen Löchern ist der weltpolitische Kontext gut beschrieben. Nur logisch, daß die ukrainische Perpektive dabei nicht vorkommt. Den großen Spielern in Ost und West sind die Leute dort ebenso egal wie die in Syrien, Libyen und anderswo. Wir hier aber sollten mehr auf die Situation der Menschen “auf dem Spielfeld” schauen, denn wer weiß, wann auch wir in solch einer Lage sein werden. Nur wohl ohne Fluchtoption. JEDER hier sollte auf den aktuellen Krieg schauen mit den Gedanken daran: Wie könnte ICH in solch einer Situation überleben? Was kann man dagegen tun, daß es so weit kommt?—Schon im Juni 2020 zeigte sich Bill Gates von der Letalität von Covid19 enttäuscht, und nun wirkt (angeblich) auch noch Omikron wie eine bessere Impfung (“sadly”). Die Proteste sind - anders als in den Szenarien vorgesehen - grundsätzlich penetrant friedlich, können also nicht einfach zusammengeschossen werden. Auch Lieferketten sind doch nicht ganz so fragil wie gedacht. Was bleibt den Strategen da noch an Optionen - außer Krieg? Denn die Menschenherde muß doch reduziert werden…

dina weis / 29.03.2022

Wie sagte hier einer :die Menschheit hat fertig. Ob Dekadenz oder Größenwahn, wir werden von Egoisten , Hohlköpfen und Psychopathen regiert und das mehrheitlich auf dieser Welt. Und da mehrheitlich das Volk das zulässt ist, weil sie teils selbst so sind wird die Zukunft nur noch darin bestehen sich gegenseitig aufzureiben. Warum gibt es denn Superreiche, die alles abschöpfen, warum gibt es Politiker, die unsinnige Gesetze durchsetzen können, warum gibt es Konzerne, die das Sagen haben, warum lässt das Volk das überhaupt zu, genau weil sie eigentlich selbst so sein wollen und weil viele betreut werden wollen. Geld bestimmt die Welt. Wer es hat, hat die Macht. Da zieht sich durch das ganze System, das den Menschen in den Abgrund führen wird und das unter allen Umständen beibehalten wird. Schon alleine der Wachstumsgedanke auf einem begrenzten Planeten ist krank. Spätestens wenn das Finanzsystem crasht ist es vorbei. Wer an was glaubt, der hats leichter damit umzugehen und keine Sorge im Himmel herrscht kein Gedränge, da wird man sie nicht mehr sehen, die Superreichen, die Korrupten, die Raffgierigen, die Menschen- und Tierquäler . Und auch kein Lauterbach. I hope so!

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