Thilo Schneider / 13.05.2022 / 10:00 / Foto: Arpingstone / 72 / Seite ausdrucken

Russenhass? Nicht mit mir!

Ich war bei Russen zu Gast und habe Russen als herzliche, neugierige und freundliche Menschen erlebt. Ich will nicht glauben, dass ich diese Russen in Sippenhaft für die Grausamkeiten ihrer Armee nehmen muss.

1987, im zarten Alter von 20 Jahren, machte ich eine Studienreise nach Moskau. In unserem Komsomol-Hotel mit dem hübschen Namen „Druschba“ waren neben uns Wessis auch eine Schulklasse aus Rostock und georgische Jugendliche untergebracht. Es war schön, es war ein Miteinander. Wir tauschten unsere Pali-Tücher und Musikkassetten gegen Blechorden, FDJ-Hemden, und einer der Georgier nahm eine junge Dame aus Rostock und mich mit auf sein Zimmer und ich durfte selbstgebrannten Wodka probieren. Ich rief „Bayern München“ und er brüllte „Dynamo Tbilissi“, und so kamen wir gut miteinander aus. Die Leute aus der DDR waren locker drauf und nahmen sich gegenüber der russischen Miliz Dinge heraus, bei denen ich Angst gehabt hätte, für den Rest meines Lebens in Sibirien russische Profanbauten zu bewohnen. Die waren viel angstfreier, weil wahrscheinlich besser als wir im Umgang mit Polizeikräften von Gewaltstaaten trainiert.

Alkoholismus und Mangelwirtschaft

Moskau selbst war in diesem Oktober wahnsinnig sauber und wunderschön. Vor den Spirituosenläden, die nur ein, zwei Stunden auf hatten, bildeten sich kilometerlange Schlangen russischer Alkoholsüchtiger. Im Kaufhaus GUM, dem größten Kaufhaus der Welt, gab es massig Stoffe und Uniformteile zu kaufen, und es gab kilometerlange Regale mit Bärenfellmützen. Das war es dann auch schon. Auf dem Kalininprospekt besuchten wir ein Lokal, in dem wir eine Viertelstunde auf die Anweisung eines Platzes warten mussten, obwohl alles frei war. Dafür war aber das einzige Gericht auf der Karte lecker, wenngleich lauwarm. Wir hatten uns kurz verlaufen und starrten auf den Stadtplan, als uns ein gepflegter Herr auf Deutsch ansprach und uns half, den korrekten Bus zum Hotel zu finden. Er war Deutschprofessor an der hiesigen Universität und hatte wohl unsere Irritation bemerkt. 

Und wir waren in Sagorsk, tatsächlich eine Großstadt mit 100.000 Einwohnern, 71 Kilometer von Moskau entfernt, und haben das dortige Kloster besichtigt. Während wir in der Kirche herumliefen, kam eine steinalte Frau und legte sich in Kreuzform vor den Altar und betete. Ich habe nie wieder eine derartige Form allertiefster Frömmigkeit gesehen. Die Menschen, denen wir begegneten, waren durch die Bank freundlich und hilfsbereit, ob das nun vom KGB gestellte Schauspieler oder echte Einwohner waren, kann ich nicht sagen, ich vermute Letzteres. 

Als Russland seine eigenen Matrosen im Stich ließ

Als 1989 die Mauer fiel, freute ich mich nicht nur für die Bewohner der DDR, sondern auch für die Russen. Der „wind of change“ wehte ja tatsächlich sowohl in Berlin als auch in St. Petersburg. Russische Filme fanden Anschluss an westliche Qualität, und die Russen selbst waren keine Bedrohung mehr, die ich mir von diesen freundlichen und aufgeschlossenen Menschen sowieso nicht mehr vorstellen konnte. Dann sank die Kursk, und die russische Marine ließ lieber ihre Matrosen ersaufen, als westliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dummheit und Stolz… da war es wieder: das menschenverachtende Verhalten des Kalten Krieges.

Und heute? Heute sollen dies die gleichen Menschen sein, die ich jetzt hassen soll. Wegen der Ukraine. Wegen Butscha. Wegen der Oligarchen. Wegen der Korruption. Wegen Putin. Wegen des Gases. 

Ich will aber nicht! Ich will die Russen nicht hassen! Ich war bei Russen zu Gast und habe Russen als herzliche, neugierige und freundliche Menschen erlebt. Ich will nicht glauben, dass ich diese Russen in Sippenhaft für die Grausamkeiten ihrer Armee oder die Dummheit ihres Führers nehmen muss. Ich war dort, ich habe sie gesehen, die Russen. Das sind doch noch die Gleichen wie 1987, nur eben jetzt Mitte 50? Ich will nicht glauben, dass „die Russen“ eine Ansammlung von barbarischen Orks sind, die Ukrainern oder mir den Schädel einschlagen und mich töten wollen, wenn ich gerade einmal nicht hinsehe. Ich weigere mich. 

Auch die Russen lieben ihre Kinder

Ja, ich habe nach der Wende russische Kasernen besichtigt, in denen nach einem Rohrbruch einfach der Keller zugemauert und zugeschissen wurde. In denen sogar Toiletten, Waschbecken und die Fensterrahmen zurück nach „Mitterchen Rrusland“ geschleppt wurden. In deren Offizierswohnungen sich das Parkett auf 50 cm Höhe aufgrund des Schwamms im Keller angehoben hatte. Ja, die haben gehaust wie die sprichwörtlichen Schweine. Auf Bodenproben hat der kommerzielle Käufer dann verzichtet. Da dürfte mehr Altöl als in so manch einem Russentanker gewesen sein. Aber das ist nun einmal nicht alles. Das ist „Besatzer-Armee“.

Dass wir uns niemals in die Abhängigkeit russischen Gases hätten begeben dürfen – geschenkt. Dass die Politik der Merkel-Regierung und speziell der SPD gegenüber Putin falsch war – hinterher weiß man es immer besser. Dass Putin sich in lächerlicher Weise und mit freiem Oberkörper inszeniert – ja mei. Dass er Oppositionelle killt, Journalisten verhaften lässt und Kritiker kaltstellt – der Mann ist nun einmal ein Diktator. Ich könnte mich vielleicht sogar damit abfinden, dass er sich in sämtliche Konflikte in seinen Grenzstaaten einmischt und unabhängige Staaten überfällt oder in Weißrussland eine Marionette als Aushilfsdiktator zappeln lässt – Erdogan macht das auch. Und der gilt als „Freund und Verbündeter“. Das ist nun einmal Politik. Nicht schön, dafür zynisch und bisweilen grausam. 

Dass ich aber seinetwegen und wegen der Barbareien seiner Truppe Russland und die Russen verachten und hassen soll – das verzeihe ich nicht. Auch die Russen wollen ihre Eltern, Söhne, Töchter und Geschwister nicht als geschändete oder verkohlte Leichen am Straßenrand sehen. Denn auch die Russen lieben ihre Kinder. Da bin ich ganz sicher! 

Foto: Arpingstone via Wikimedia Commons

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

A. Smentek / 13.05.2022

“Ich will nicht glauben, dass ich diese Russen in Sippenhaft für die Grausamkeiten ihrer Armee nehmen muss.” Nun war ich zwar noch nie bei Russen zu Gast, doch sehe ich so oder so nicht den geringsten Grund für mich, Russen abzulehnen oder gar zu hassen. Und was die “Grausamkeiten ihrer Armee” betrifft, so weiß ich erstens nicht, was sich in diesem Konflikt TATSÄCHLICH abspielt (denn wie in allen Kriegen ist die Wahrheit das erste Opfer), und zweitens sehe ich nicht, wie man alle Russen in Sippenhaftung für die Taten ihrer Armee nehmen könnte. So etwas ist immer unsinnig. In Kriegen werden stets, und zwar von allen Kriegsparteien, Taten begangen, die man im zivilen Leben als Verbrechen betrachten würde. Wenn ich aber die genauen Umstände nicht weiß, kann ich auch nicht pauschal alle Soldaten als Kriegsverbrecher betrachten. Im Übrigen glaube ich auch nicht daran, dass alle Ukrainer blütenweiße Unschuldslämmer sind, die nur ihre Freiheit verteidigen und für “westliche Werte” kämpfen. Was für ein Unsinn! Wer’s genauer wissen möchte, lese das Ukraine-Kapitel in Peter Scholl-Latours Buch “Rußland im Zangengriff”. Dort bekommt man Informationen statt Lobhudelei und Heiligsprechung.—- Um es auf den Punkt zu bringen: Nein, mit mir gibt es keinen Russenhass und auch kein Russland-Bashing. Den Umgang mit Russen, den ich in den letzten Monaten in Deutschland mitbekam, finde ich genau so beschämend wie den Umgang mit den Ungeimpften. Solch ein Verhalten sollte eigentlich nach über 70 Jahren funktionierender Demokratie (gilt nicht mehr für die letzten zwei Jahre) unvorstellbar sein. Es ist erschreckend, wie schnell die alten Ungeister wieder aus ihren Löchern gekrochen sind.

Walter Weimar / 13.05.2022

@Dr. Robert Lederer, mich wundert ihr Verweis, der richtig ist, veröffentlicht Wie oft werde ich hier auf der achse selber zensiert kann ich nicht mehr zählen.

Ludwig Luhmann / 13.05.2022

@T. Schneegaß / 13.05.2022 - “@Ludwig Luhmann: “Manche Menschen blühen regelrecht auf im Krieg.” Ja, Herr Luhmann, ich kenne da auch manche, zu meinem Glück nicht persönlich. Das sind solche, die noch vor ein paar Wochen am liebsten Luftgewehre in Privathänden verboten hätten und Bundeswehrsoldaten als Mörder in Uniform bezeichnet haben.”—- Ja, Herr Schneegaß, und ich kenne Leute, die Angegriffenen die Waffen verweigern würden, die sie brauchen, um sich gegen massenmörderische Kriegsverbrecher zu wehren. Um des verlogenen Pazifismus willen.  - Die Ukraine hätte niemals ihre Atomwaffen abgeben dürfen. Kommunisten und Postkommunisten kann man eben nicht trauen.

Roland Müller / 13.05.2022

Die Frage ist, wie viele von den “Grausamkeiten” der russischen Armee Erfindungen aus der Kiewer Propagandaküche und Erfindungen der CIA und Co. sind. Klar ist nur, dass der Otto-Normalbürger massiv mit Propagandamüll zugeschüttet wird. Sonst nichts.

M. Wirth / 13.05.2022

“Ich will nicht glauben, dass ich diese Russen in Sippenhaft für die Grausamkeiten ihrer Armee nehmen muss.” Ich will nicht glauben, dass irgendjemand das ernsthaft verlangt haben soll. Was ist also der Sinn dieses Artikels?

Heiko Loeber / 13.05.2022

Der letzte Schrei: “Rechtes” Gutmenschentum - wie bei Linken auch, ganz typisch, als Gratis-Edition. Ich hasse auch keine Russen - meine Familie ist ja auch gerade neulich nicht von Russen abgeschlachtet worden. Mir ist gerade trotzdem mehr nach Ukrainern als nach Russen - so rein mitgefühlsmäßig, meine ich. Auch wenn das total mainstream ist und nicht alle Ukrainer gut sind - ist mir in diesem Fall egal.

Thomas Taterka / 13.05.2022

Die Sorgen der allermeisten Völker bestehen darin , was man ihnen von Oben durch Handlanger antun kann und in ihrer Angst davor , dem schutzlos ausgeliefert zu sein . - Also in ihrem aufrichtigen Gerechtigkeitsgefühl. - Russen und Ukrainer haben davon gleichermaßen sehr,  sehr viel ( oder , je nach Charakter, sehr , sehr wenig ). Wenn ich das beiläufig und unbemerkt getestet habe , gebe ich einen Vertrauensvorschuss.

Franz Klar / 13.05.2022

“Dass ich aber seinetwegen und wegen der Barbareien seiner Truppe Russland und die Russen verachten und hassen soll…” Wer verlangt das ? Wahr ist aber auch der Ausspruch eines KZlers : “Nicht Hitler hat die Gaskammern befüllt , sondern deutsche Familienväter ” !

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Thilo Schneider / 30.01.2024 / 16:00 / 20

Jahrestag: Die Schlacht von Stalingrad geht zu Ende

Heute vor 81 Jahren ernannte Hitler General Paulus, der mit seiner 6. Armee in Stalingrad dem Ende entgegensah, zum Generalfeldmarschall. Denn deutsche Generalfeldmarschälle ergaben sich…/ mehr

Thilo Schneider / 26.01.2024 / 16:00 / 20

Anleitung zum Systemwechsel

Ein echter demokratischer Systemwechsel müsste her. Aber wie könnte der aussehen? Bei den Ampel-Parteien herrscht mittlerweile echte Panik angesichts der Umfragewerte der AfD. Sollte diese…/ mehr

Thilo Schneider / 18.01.2024 / 16:00 / 25

Neuer Pass für einen schon länger hier Lebenden

Ich will einen neuen Reisepass beantragen. Doch um ihn zu bekommen, soll ich den abgelaufenen mitbringen, ebenso meine Heiratsurkunde und Geburtsurkunde. Warum muss ich mich…/ mehr

Thilo Schneider / 16.01.2024 / 15:00 / 73

Zastrow-FDP-Austritt: „Ich will den Leuten noch in die Augen schauen können“

Holger Zastrow, Ex-Bundesvize der FDP, kündigt. In seiner Austrittserklärung schreibt er: „Als jemand, der in der Öffentlichkeit steht und durch seinen Beruf mit sehr vielen…/ mehr

Thilo Schneider / 11.01.2024 / 14:00 / 64

Was würden Neuwahlen bringen?

Kein Zweifel, die Ampel hat fertig. „Neuwahlen!“ schallt es durchs Land, aber was würden die angesichts der aktuellen Umfrageergebnisse bringen, so lange die „Brandmauer“ steht…/ mehr

Thilo Schneider / 10.01.2024 / 14:00 / 35

Das rot-grüne Herz ist verletzt

Die Leute begehren auf, vorneweg die Bauern. Es wird viel geweint. In Berlin, Hamburg, München und Stuttgart. Aus Angst. Aus Angst, von den Futtertrögen des…/ mehr

Thilo Schneider / 24.12.2023 / 12:00 / 25

Meine Agnostiker-Weihnacht

Herrgottnochmal, ich feiere tatsächlich Weihnachten. Wenn es doch aber für mich als Agnostiker eigentlich „nichts zu feiern gibt“ – warum feiere ich dann? Die Geschichte…/ mehr

Thilo Schneider / 02.12.2023 / 12:00 / 15

Jahrestag: High Noon bei Austerlitz

In der auch „Drei-Kaiser-Schlacht“ genannten Schlacht in Mähren besiegt Napoleon Bonaparte am 2. Dezember 1805, genau ein Jahr nach seiner Kaiserkrönung, eine Allianz aus österreichischen…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com