Oliver Zimski / 13.03.2022 / 10:00 / Foto: Ljube / 42 / Seite ausdrucken

Putins Pferd

Dass Nikolai Rastargujew, der Leadsänger von „Ljube“, offenbar mit Vorliebe in Militäruniform auftritt, und das schon Jahre vor der Annexion der Krim, irritierte mich lange nicht. Doch plötzlich höre ich das Lied vom Pferd mit anderen Ohren. 

Als mein spät erwachtes Interesse an Russland vor einigen Jahren auch die dortige populäre Musik erfasste, stieß ich im Internet zufällig auf ein besonders poetisches und zugleich melodisches Lied: „Kon“ (Das Pferd) von der Gruppe „Ljube“. Wenn man dazu die vielen gelungenen Coverversionen hört, etwa die virtuose Corona-Fassung des Moskauer Kosakenchors oder das kraftvolle Duo mit dem populären Sänger Jaroslav Sumishevskij, kann dieses Lied ein echter Ohrwurm werden:

Verliebt in Russland

So harmlos und naturverbunden fängt der Text an:

„Ich werde nachts mit meinem Pferd hinausgehen, 
in der dunklen Nacht werden wir leise übers Feld laufen,
ich und mein Pferd, zu zweit übers Feld.

Nachts unterm Sternenmeer ist niemand zu sehen,
nur ich und mein Pferd,
wie wir über das Feld gehen.

Ich werde mein Pferd besteigen,
trage du mich übers Feld,
über mein grenzenloses Feld!

Das „grenzenlose Feld“ reicht bis zum Sonnenaufgang, umfasst den goldenen Roggen, den Flachs und die Lichter in den Dörfern. Am Ende heben sich die Stimmen zu einem unerwarteten patriotischen Bekenntnis: „Ich bin verliebt in dich, Russland!“ 

Dass Nikolai Rastargujew, der Leadsänger von „Ljube“, offenbar mit Vorliebe in Militäruniform auftritt, und das schon Jahre vor der Annexion der Krim, irritierte mich nicht. Viele russische Lieder handeln ja von Kampf, Krieg und Kameradschaft. Gut, dachte ich, die Russen haben eben das, was uns – aus mehr oder weniger guten Gründen – abhandengekommen ist: ein normales Verhältnis zum Eigenen, zu Heimat und Tradition.

In Putins Kopf

Erst vor zwei Wochen, nach dem Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine, wurde ich stutzig und begann zu recherchieren. „Ljube“, so las ich, ist so etwas wie Wladimir Putins Hausband. Rastargujew soll sogar sein „Lieblingsrocker“ sein, weshalb ihm auf Anordnung von oben ein Sitz in der Staatsduma, dem russischen Parlament, zugeteilt wurde, als Vertreter der Putin-nahen Partei „Einiges Russland“. 

Ich hörte mir andere Lieder der Band an und gewann den Eindruck, dass sie seit vielen Jahren die propagandistische Begleitmusik zu Putins Bestrebungen liefern, in Langzeitperspektive ein neues großrussisches Reich zu errichten, für dessen Legitimation er – wie der französische Philosoph Michel Eltchaninoff in seinem Werk „In Putins Kopf“ treffend analysiert – Motive aus der Sowjet- und Zarenzeit zu etwas Neuem zusammenmixt.

Damit traf und trifft der russische Präsident offenbar den Gefühlszustand patriotisch gesinnter Landsleute, die den Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 als ähnliche Demütigung empfunden haben mögen wie viele Deutsche 1919 die „Schmach“ von Versailles.

Plötzlich höre ich das Lied vom Pferd mit anderen Ohren. Auf einmal scheint es mir einen direkten Weg in Putins Fühlen und Denken zu weisen – als wäre es ihm auf den Leib geschrieben. 

Idylle schlägt um in Horror

Das Pferd, dieser treue Begleiter, der nicht bockt oder aufmuckt, ist das russische Volk. Das „grenzenlose Feld“ ist Putins Russland, zu dem neben den Weißrussen auch die Ukrainer als „Kleinrussen“ gehören sollen. Die Balten könnten hinzukommen, aus strategischen Gründen, aber auch weil dort große russische Minderheiten leben, die möglicherweise ebenfalls von „Völkermord“ bedroht sind. 

„Wir haben schon allerlei erlebt, alles geht vorbei“, heißt es stoisch in der letzten Strophe, wie in einer Vorwegnahme der westlichen Sanktionen. Die gesamte Landschaft soll davon singen, wie sehr das lyrische Ich Russland liebt. Und die Frage, die sich jedem aufdrängt, der den Text ernst nimmt, wird auch gestellt: „Gibt es diesen Ort, oder gibt es ihn nicht?“ Nein, es gibt ihn nicht, und es gab ihn auch nie. Er ist ein Klischee von der Vergangenheit, ein nostalgisches Utopia, die Fata Morgana des „ewigen Russlands“, jenseits von Kommunismus und Globalisierung. Lockmittel und Balsam für den verletzten Stolz vieler Russen.

Hier zeigt sich, dass die radikale Reduktion auf das Eigene – für die sowohl das Lied als auch Putins Politik stehen – kein Gegenentwurf sind zu Selbstverleugnung, Kultur- und Werterelativismus, „Dekadenz“ des Westens, sondern Ausdruck eines „grenzenlosen“ Narzissmus, der für seine Ziele über Leichen geht. Über hunderttausende von Leichen. So schlägt Idylle um in Horror.

Eine Liebe wie eine Bombe

Denn was ist das für eine Liebe, die die ukrainischen Brüder und Schwestern in Grund und Boden bombt? Die die eigenen jungen Wehrpflichtigen mit der Lüge, sie würden nur ins Manöver ziehen, als Kanonenfutter verheizt? Eine Liebe wie eine Bombe!

So sehr verliebt ist der Reiter in Russland, dass er mit seinem Pferd auf das Feld des Nachbarn reitet und diesen umbringt. Dadurch sein eigenes Land auf Jahre oder gar Jahrzehnte zum Paria macht. Jetzt wird auch klar, warum er allein über das Feld reitet. Dieses „Ich“, das permanent klagt, dass ihm nicht der gebührende Respekt entgegengebracht werde, duldet kein „Du“ auf Augenhöhe, sondern nur das duldsame, stumme Pferd unter sich.

Bei dem – offenbar schon seit Jahren vorbereiteten – Angriffskrieg gegen die Ukraine geht es nicht um frühere Fehler des Westens, der vor 15 Jahren Putins ausgestreckte Hand nicht ergriffen hat. Nicht um eine Verwicklung von CIA und NGOs in die Maidan-Revolution, auch nicht um die Frage, wie demokratisch oder korrupt die Ukraine war oder ist. Sondern um das Monster, das Russland in Reaktion auf den Zerfall der Sowjetunion gepäppelt hat und das vor zwei Wochen von der Kette gelassen wurde. 

Dieser Krieg ist ein Wendepunkt. Er legt frühere Fehleinschätzungen offen und zwingt dazu, bisherige Überzeugungen zu revidieren. Wie verblendet muss man sein, um immer noch zu glauben, dass ein Mann, der dem „christlichen Abendland“ mit Vernichtung durch Atomraketen droht, zugleich dessen Hüter sein soll? Dass ein Autokrat, der seine Herrschaft durch gleichgeschaltete Lügen-Medien und politische Morde absichert, ein Verbündeter gegen Brüssel-Eurokraten, One-World-Ideologen und Cancel Culture sein könnte?

Vom Bösen – das stets behauptet, im Namen des Guten zu handeln – gibt es viele Spielarten. Putins großrussischer Imperialismus ist eine davon. 

Foto: Ljube

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Silvia Polak / 13.03.2022

Schon interessant, wie einige Foristen, seit längerer Zeit in durchaus akzeptabler Form und Aussage hier unterwegs, bei dem sicher schwierigen Thema Putin/Ukraine komplett ausrasten, ihre Wut und Aggression ohne Hemmung regelrecht auskotzen. Hat schon die Plandemie vielen die Maske heruntergerissen, so macht es dieser Krieg, und zwar nur dieser Krieg, erst recht.

Arne Ausländer / 13.03.2022

Schon daß die Russen zur Abwehr jeglicher Kritik das Wort “russophob” erfunden haben, ähnlich sinnfrei konstruiert wie das westliche “homophob”, offenbar nach diesem Vorbild, sollte doch nachdenklichen Beobachtern den Gedanken nahelegen, daß auch in Rußland nur eine etwas Variantion des kulturrevolutionären Theaters gespielt wird, das sich in den letzten Jahrzehnten in die ganze Welt geschlichen hat. Statt dessen folgt man auch hier wieder dem von Huntington als Warnung verklausierten Programm in Richtung “Clash of Cultures” mit seiner Überspitzung der Gegensätze von Konfessionen und Nationalitäten, DAMIT die sich gefälligst gegenseitig totschlügen, als wäre dies ein Naturgesetz, als gäbe es nicht hunderte Beispiele aus Geschichte und Gegenwart, wo Menschen eben recht gut mit derartigen Unterschieden leben können, mit banalen kleinen Streitigkeiten, die kaum je wirklich gefährlich werden. Es sei denn - eben! - wenn sie geschickt benutzt und verstärkt werden. Orthodoxe, Katholiken und Lutheraner leben seit Jahrhunderte in Siebenbürgen in engster Nachbarschaft - um nur mal ein nicht allzu fernes Beispiel zu nennen. Auch in Nordirland, allen Teilen Ex-Jugoslawiens und Zyperns, in der Ex-Sowjetunion (ohne Kaukasien und Mittelasien - da war ich nicht) oder auch z.B. in Süd-Dakota auf Reservationen und drum herum - überall war die große Ausnahme, daß kulturelle Unterschiede zu nennenswertem Streit führten. Das aus den Medien Bekannte über die genannten Regionen sind eben die GESCHÜRTEN Konflikte. Auf der Krim z.B. am ehesten durch die provakativ auftretende Präsenz des russiscchen Militärs vor 2014. Oder in Nordirland durch noch schlimmeres Agieren des britischen.—Ich vermute, die ehrlichen unter den Putinverteidigern sind nie in den “Genuß” russisch-nationalistischer “Folklore”-Darbietungen der Putinära gekommen. Denn da muß jedem übel werden, der nicht vom grenzenlosen Rußland träumen mag. Das hier beschriebene Lied ist nur eins unter vielen, nicht das Schlimmmste.

Heribert Glumener / 13.03.2022

Jenen, die Herrn Putin gern als “Psychopathen” einordnen, sei der aktuelle Beitrag des erfahrenen Psychiaters Manfred Lütz anempfohlen. Putin ist demnach „psychisch überhaupt nicht gestört“. P. habe keine psychischen Probleme, sondern sei “schrecklich normal”. Überzeugende Darlegung. Aber womöglich nicht ins Kindchen-Schema (Böse-Gut) passend.

Ralf Pöhling / 13.03.2022

Zitat:“Bei dem – offenbar schon seit Jahren vorbereiteten – Angriffskrieg gegen die Ukraine geht es nicht um frühere Fehler des Westens, der vor 15 Jahren Putins ausgestreckte Hand nicht ergriffen hat. Nicht um eine Verwicklung von CIA und NGOs in die Maidan-Revolution, auch nicht um die Frage, wie demokratisch oder korrupt die Ukraine war oder ist. Sondern um das Monster, das Russland in Reaktion auf den Zerfall der Sowjetunion gepäppelt hat und das vor zwei Wochen von der Kette gelassen wurde.” Das eine bedingt das andere, Wenn man Russland nicht wirklich in die westliche Staatengemeinschaft aufzunehmen bereit ist, darf man sich nicht darüber wundern, wenn Russland seinen eigenen Weg geht, der dann in eine andere Richtung führt. Die Deutschen können davon ein Liedchen singen was mit Russland schief gelaufen ist, denn nach der Staatsgründung 1871 ist uns von der westlichen Staatengemeinschaft der selbe kalte Wind ins Gesicht geblasen worden, man sah uns als Konkurrenz und wollte uns wieder loswerden, was dann dazu führte, dass Deutschland ebenso seinen eigenen Weg ging. Wenn man jemanden andauernd mit Verachtung und Ausgrenzung abstraft, darf man sich nicht darüber wundern, wenn man von ihm irgendwann einen Kinnhaken bekommt. Actio und Reactio eben. In einer globalen Gesellschaft bleibt nichts ohne Rückwirkung. Alles interagiert mit allem anderen und das hat Folgen. Und das gilt auch für Passivität oder Ablehnung und Ausgrenzung. Man muss jemand anderem nicht direkt den Fehdehandschuh hinwerfen, um ihn auf die Palme zu bringen. Manchmal reicht es auch, ihn andauernd zu übergehen.

Harald Unger / 13.03.2022

@ H. Winter - Ihr ausgesprochen selbstreferenzieller Kommentar, erzählt von der dichten faschistischen Denkweise der räudigen Putinista Kompanie.

Frank Holdergrün / 13.03.2022

@A. Ostrovsky / 13.03.2022 - perfekt, Ihre Sichtweise trifft in die 12! Danke für die präzise Erklärung. !

Frank Holdergrün / 13.03.2022

@Dirk Jäckel / 13.03.2022 @Herr Holdergrün, auf Iljin, Putins rechtsextremes Vorbild, >>>>>>Sie sollten nicht allzuviele Pauschalismen verwenden, sondern einfach lesen. Glauben Sie mir, das hilft.

Ludwig Luhmann / 13.03.2022

***The Leader of the Pack*** - Putlers Lieblingsrocker macht auf mich den Eindruck, ein Zoophilist zu sein. Ich finde, das passt zu Putin, der gerne Pferde besteigt und sein Land hart reitet. Diese dreckig kitischigen Rocker habe ich vor etwa 10 Jahren mal in einem Video gesehen und es gab auch Artikel gab es über deren Verhältnis zu Putin. Ich dachte damals, dass die von Mad Max Filmen inspiriert wurden. Sind die nicht sogar mal bis Berlin gefahren? - Das momentan weltweit größte Nazischwein ist Putin, was man daran merkt, dass er wie Hitler handelt. Wenn der Verfall einer Gesellschaft ein Zeichen von Dekadenz ist, dann ist Putins Russland superdekadent. - Ich nehme die Drohung Putlers persönlich, weil er implizit meine Tötung billigend in Kauf nimmt. Dass meine Perspektive von den Putinkriechern nicht eingenommen werden kann, hängt mit der IQ-abhängigen Disposition zu Übersprungshandlungen zusammen, was man an vielen repetitiven und zirkelschlusshaltigen Kommentaren auch bei TE erkennen kann.  Die Unfähigkeit, die Realität zu erkennen, ist ebenfalls ein Zeichen von Dekadenz - von Rudeldekadenz.  - Let’s go Putin!

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Oliver Zimski / 14.07.2022 / 06:00 / 175

Merkel, Corona und der Ukraine-Krieg

Viele, die mit ihrer Kritik an den deutschen Zuständen an den rechten Rand gedrängt wurden, fragen sich:  Wieso sollen wir jetzt denselben Politikern und Medien…/ mehr

Oliver Zimski / 04.05.2022 / 12:00 / 82

„Saisonstaat” Ukraine? Von wegen.

Als 1938 das nach dem Ersten Weltkrieg wiedererstandene Polen 20 Jahre alt wurde, galt es den beiden Nachbarn Deutschland und Sowjetunion als „Saisonstaat“, als lediglich…/ mehr

Oliver Zimski / 28.03.2022 / 06:13 / 94

Russian Reset

Holodomor, Stalin, Zarenreich und Weltkrieg – all diese verschütteten Erinnerungen blitzen in der Gegenwart plötzlich wieder auf. Wie denken Anfang Zwanzigjährige über das, was in der Ukraine geschieht?…/ mehr

Oliver Zimski / 03.04.2021 / 10:00 / 65

Das betreute Lachen

Sport, gesunde Ernährung, Vitamine, positives Denken, menschliche Begegnung und Zuwendung – was ist das? Das sind die wichtigsten Bestandteile zur Stärkung des eigenen Immunsystems, (nicht…/ mehr

Oliver Zimski / 25.12.2020 / 06:25 / 90

Die Verzauberung der Welt

Vor gut zweitausend Jahren folgten drei Weise aus dem Morgenland einem hellen Stern bis nach Bethlehem in Palästina, weil dieser für sie die Geburt eines…/ mehr

Oliver Zimski / 25.07.2020 / 06:23 / 115

Bastelanleitung zum „Antirassismus“

Ein Gespenst geht um im deutschen Feuilleton, seit Ende Mai George Floyd in den USA vor laufender Kamera im brutalen Würgegriff eines Polizisten erstickte: das…/ mehr

Oliver Zimski / 08.05.2020 / 11:37 / 67

Der Osten: Eine 75-jährige Geschichte des Vergessens

Kants Kategorischer Imperativ, Klein-Posemuckel als Sinnbild von Provinzialität, die von Oskar Troplowitz entwickelte Nivea-Creme, Königsberger Klopse, Schmorgurken auf schlesische Art, Tilsiter Käse, Rügenwalder Leberwurst, Echt…/ mehr

Oliver Zimski / 31.10.2017 / 06:19 / 10

Angela Merkel – ein neuer Martin Luther?

Regelmäßige Zeitungsleser und Nachrichtenhörer sind in diesen Wochen und Monaten ja schon einiges an Hofberichterstattung gewöhnt, die offensichtlich aus der Angst geboren ist, bloße Zweifel…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com