Dass Nikolai Rastargujew, der Leadsänger von „Ljube“, offenbar mit Vorliebe in Militäruniform auftritt, und das schon Jahre vor der Annexion der Krim, irritierte mich lange nicht. Doch plötzlich höre ich das Lied vom Pferd mit anderen Ohren.
Als mein spät erwachtes Interesse an Russland vor einigen Jahren auch die dortige populäre Musik erfasste, stieß ich im Internet zufällig auf ein besonders poetisches und zugleich melodisches Lied: „Kon“ (Das Pferd) von der Gruppe „Ljube“. Wenn man dazu die vielen gelungenen Coverversionen hört, etwa die virtuose Corona-Fassung des Moskauer Kosakenchors oder das kraftvolle Duo mit dem populären Sänger Jaroslav Sumishevskij, kann dieses Lied ein echter Ohrwurm werden:
Verliebt in Russland
So harmlos und naturverbunden fängt der Text an:
„Ich werde nachts mit meinem Pferd hinausgehen,
in der dunklen Nacht werden wir leise übers Feld laufen,
ich und mein Pferd, zu zweit übers Feld.
Nachts unterm Sternenmeer ist niemand zu sehen,
nur ich und mein Pferd,
wie wir über das Feld gehen.
Ich werde mein Pferd besteigen,
trage du mich übers Feld,
über mein grenzenloses Feld!
Das „grenzenlose Feld“ reicht bis zum Sonnenaufgang, umfasst den goldenen Roggen, den Flachs und die Lichter in den Dörfern. Am Ende heben sich die Stimmen zu einem unerwarteten patriotischen Bekenntnis: „Ich bin verliebt in dich, Russland!“
Dass Nikolai Rastargujew, der Leadsänger von „Ljube“, offenbar mit Vorliebe in Militäruniform auftritt, und das schon Jahre vor der Annexion der Krim, irritierte mich nicht. Viele russische Lieder handeln ja von Kampf, Krieg und Kameradschaft. Gut, dachte ich, die Russen haben eben das, was uns – aus mehr oder weniger guten Gründen – abhandengekommen ist: ein normales Verhältnis zum Eigenen, zu Heimat und Tradition.
In Putins Kopf
Erst vor zwei Wochen, nach dem Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine, wurde ich stutzig und begann zu recherchieren. „Ljube“, so las ich, ist so etwas wie Wladimir Putins Hausband. Rastargujew soll sogar sein „Lieblingsrocker“ sein, weshalb ihm auf Anordnung von oben ein Sitz in der Staatsduma, dem russischen Parlament, zugeteilt wurde, als Vertreter der Putin-nahen Partei „Einiges Russland“.
Ich hörte mir andere Lieder der Band an und gewann den Eindruck, dass sie seit vielen Jahren die propagandistische Begleitmusik zu Putins Bestrebungen liefern, in Langzeitperspektive ein neues großrussisches Reich zu errichten, für dessen Legitimation er – wie der französische Philosoph Michel Eltchaninoff in seinem Werk „In Putins Kopf“ treffend analysiert – Motive aus der Sowjet- und Zarenzeit zu etwas Neuem zusammenmixt.
Damit traf und trifft der russische Präsident offenbar den Gefühlszustand patriotisch gesinnter Landsleute, die den Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 als ähnliche Demütigung empfunden haben mögen wie viele Deutsche 1919 die „Schmach“ von Versailles.
Plötzlich höre ich das Lied vom Pferd mit anderen Ohren. Auf einmal scheint es mir einen direkten Weg in Putins Fühlen und Denken zu weisen – als wäre es ihm auf den Leib geschrieben.
Idylle schlägt um in Horror
Das Pferd, dieser treue Begleiter, der nicht bockt oder aufmuckt, ist das russische Volk. Das „grenzenlose Feld“ ist Putins Russland, zu dem neben den Weißrussen auch die Ukrainer als „Kleinrussen“ gehören sollen. Die Balten könnten hinzukommen, aus strategischen Gründen, aber auch weil dort große russische Minderheiten leben, die möglicherweise ebenfalls von „Völkermord“ bedroht sind.
„Wir haben schon allerlei erlebt, alles geht vorbei“, heißt es stoisch in der letzten Strophe, wie in einer Vorwegnahme der westlichen Sanktionen. Die gesamte Landschaft soll davon singen, wie sehr das lyrische Ich Russland liebt. Und die Frage, die sich jedem aufdrängt, der den Text ernst nimmt, wird auch gestellt: „Gibt es diesen Ort, oder gibt es ihn nicht?“ Nein, es gibt ihn nicht, und es gab ihn auch nie. Er ist ein Klischee von der Vergangenheit, ein nostalgisches Utopia, die Fata Morgana des „ewigen Russlands“, jenseits von Kommunismus und Globalisierung. Lockmittel und Balsam für den verletzten Stolz vieler Russen.
Hier zeigt sich, dass die radikale Reduktion auf das Eigene – für die sowohl das Lied als auch Putins Politik stehen – kein Gegenentwurf sind zu Selbstverleugnung, Kultur- und Werterelativismus, „Dekadenz“ des Westens, sondern Ausdruck eines „grenzenlosen“ Narzissmus, der für seine Ziele über Leichen geht. Über hunderttausende von Leichen. So schlägt Idylle um in Horror.
Eine Liebe wie eine Bombe
Denn was ist das für eine Liebe, die die ukrainischen Brüder und Schwestern in Grund und Boden bombt? Die die eigenen jungen Wehrpflichtigen mit der Lüge, sie würden nur ins Manöver ziehen, als Kanonenfutter verheizt? Eine Liebe wie eine Bombe!
So sehr verliebt ist der Reiter in Russland, dass er mit seinem Pferd auf das Feld des Nachbarn reitet und diesen umbringt. Dadurch sein eigenes Land auf Jahre oder gar Jahrzehnte zum Paria macht. Jetzt wird auch klar, warum er allein über das Feld reitet. Dieses „Ich“, das permanent klagt, dass ihm nicht der gebührende Respekt entgegengebracht werde, duldet kein „Du“ auf Augenhöhe, sondern nur das duldsame, stumme Pferd unter sich.
Bei dem – offenbar schon seit Jahren vorbereiteten – Angriffskrieg gegen die Ukraine geht es nicht um frühere Fehler des Westens, der vor 15 Jahren Putins ausgestreckte Hand nicht ergriffen hat. Nicht um eine Verwicklung von CIA und NGOs in die Maidan-Revolution, auch nicht um die Frage, wie demokratisch oder korrupt die Ukraine war oder ist. Sondern um das Monster, das Russland in Reaktion auf den Zerfall der Sowjetunion gepäppelt hat und das vor zwei Wochen von der Kette gelassen wurde.
Dieser Krieg ist ein Wendepunkt. Er legt frühere Fehleinschätzungen offen und zwingt dazu, bisherige Überzeugungen zu revidieren. Wie verblendet muss man sein, um immer noch zu glauben, dass ein Mann, der dem „christlichen Abendland“ mit Vernichtung durch Atomraketen droht, zugleich dessen Hüter sein soll? Dass ein Autokrat, der seine Herrschaft durch gleichgeschaltete Lügen-Medien und politische Morde absichert, ein Verbündeter gegen Brüssel-Eurokraten, One-World-Ideologen und Cancel Culture sein könnte?
Vom Bösen – das stets behauptet, im Namen des Guten zu handeln – gibt es viele Spielarten. Putins großrussischer Imperialismus ist eine davon.