Vor gut zweitausend Jahren folgten drei Weise aus dem Morgenland einem hellen Stern bis nach Bethlehem in Palästina, weil dieser für sie die Geburt eines neuen Königs ankündigte. Tatsächlich wurde dort in einer schäbigen Futterkrippe – im Beisein seiner Eltern sowie einiger von einem Engel herbeigerufener Hirten – ein außergewöhnliches Kind geboren, das sich in seinem späteren Leben als Sohn Gottes ausgab.
So beginnt eine Geschichte, die die Welt erschüttern sollte. Ihr Ende fand sie nicht dreißig Jahre später mit der Kreuzigung Jesu, sondern wiederum drei Tage danach in dessen leerem Grab, wodurch das vermeintliche Ende wieder zu einem neuen Anfang wurde. Denn durch seine Auferstehung von den Toten bewies der Wanderprediger Jesus seinen Jüngern, dass er tatsächlich „Christus“, Gottes Sohn, war und machte damit seine Botschaft glaubhaft: dass er geschickt worden sei, um die Menschen zu retten „vor Sünd’ und Tod“.
Nur eine Geschichte
Diese Geschichte ist der Ursprung unseres Weihnachtsfestes, den viele von uns sicher noch nicht ganz vergessen, aber – unter Vorbereitungsstress, überhöhten Erwartungen, Geschenkebergen und Gänsebraten – verschüttet haben, auch wenn er in den Texten der Weihnachtslieder noch durchschimmert. Es ist ja auch nur eine Geschichte. Nur? Der Mensch, so die Bibel, lebt nicht vom Brot allein, sondern auch von geistiger Nahrung. Deshalb suchen wir Geschichten, die uns zutiefst berühren, weil wir selbst in ihnen vorkommen, unsere Hoffnungen, Sehnsüchte, Ängste und Erinnerungen. So eine Geschichte ist die von Christi Geburt – für diejenigen, die sie glauben.
Die anderen halten sie für ein Märchen, eine kindische Illusion. Wobei etliche dieser „Aufgeklärten“ die Geschichte vom Christkind durch Narrative ersetzt, die nicht minder anzweifelbar sind. Sie pendeln, legen Tarot-Karten, studieren Horoskope oder sind auf der Suche nach ihrem „inneren Kind“. Selbst politisches Engagement nimmt zunehmend ersatzreligiöse Züge an. Wie könnten sich sonst erwachsene Menschen als aufrechte Kämpfer gegen das Reich des Bösen in Gestalt von Klimawandel, Trump oder der AfD gerieren?
Überhaupt, der Sozialismus, der für viele immer noch attraktiv ist, obwohl alle Versuche, ihn in die Realität umzusetzen, krachend gescheitert sind, diese politische Utopie mitsamt ihrer Staatsgläubigkeit, ihrem Gleichheitsdogma und ihrem erbärmlichen, rein materialistischen Bild vom Menschen, den man nur mit genügend Geld überschütten müsse, um alle seine Probleme zu lösen – was ist sie anderes als ein quasireligiöses Konstrukt, nur sehr viel zerstörerischer als das der Esoteriker?
Die unsichtbare Basis unseres Gemeinwesens
Angenommen, die Wirklichkeit selbst wäre nur ein Konstrukt, eine Ansammlung teils einander ergänzender, teils miteinander konkurrierender Interpretationen, dann hätten wir gar nicht die Wahl zwischen „Realität“ und „Fiktion“. Dann ginge es vielmehr darum, dass wir uns die beste Geschichte auswählen, das heißt, die am besten zu uns passt.
Könnte das nicht die Geschichte sein, die uns – auch wenn wir uns dessen kaum noch bewusst sind – zu dem gemacht hat, was wir sind, die die Grundlagen unserer heutigen westlichen Welt geprägt hat: die gesamte abendländische Kultur von Bosch bis Bach, von Luther bis Dostojewski, unsere Denk-, Sprach- und Verhaltensmuster, unsere Vorstellungen von Recht und Moral, die unsichtbare Basis unseres Gemeinwesens und unseres Sozialsystems? Wie allumfassend diese „Verzauberung der Welt“ durch das Christentum war und ist, kann man in dem gleichnamigen Buch von Jörg Lauster nachvollziehen, einer brillant geschriebenen Kulturgeschichte, die versucht, den christlichen „Ozean einer Religion“ in möglichst vielen Facetten zu erschließen.
Eben darauf bezog sich der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde mit seinem Diktum: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ So geht etwa die Vorstellung von der Würde des Menschen, der als Individuum jeweils einzigartig ist, zurück auf die biblische Behauptung, Gott habe den Menschen zu seinem Ebenbild geschaffen sowie auf das wichtigste Gebot des Neuen Testaments: Gott und den Nächsten zu lieben wie sich selbst.
Bei der Rückbesinnung auf Wesentliches, das wir vergessen oder verloren haben, geht es keineswegs darum, hinter naturwissenschaftliche Erkenntnisse oder gar die Ergebnisse von Aufklärung und Säkularisierung zurückzufallen, sondern vielmehr um einen dringend benötigten Zugewinn an Erkenntnis. Denn in dem sich immer schneller drehenden Karussell einer wirtschaftlichen und politischen Globalisierung, die dazu tendiert, Unterschiede und Identitätsmerkmale von Menschen, Ländern und Völkern zu nivellieren, wird nur derjenige bestehen können, der über ein klares Profil verfügt. Der weiß, woher er kommt und wer er ist.
Das weiche Wasser
In einer Szene von Frank Beyers jahrzehntelang in der DDR verbotenem Meisterwerk „Spur der Steine“ verabschiedet der Brigadier Hannes Balla (überragend gespielt von Manfred Krug) seine Kollegen in die Weihnachtspause, und während sie sich gegenseitig mit Alkohol für die Feiertage beschenken, erklingt aus dem Radio die letzte Strophe von „O du fröhliche“: Himmlische Heere jauchzen dir Ehre, freue dich, o Christenheit!
Das kann – wie so vieles in diesem Film, der seinen Reiz nicht nur aus der erfrischend unkorrekten Sprache der Protagonisten, sondern auch aus der Konfrontation der neuen sozialistischen Realität mit sympathischen Überbleibseln der absterbenden bürgerlichen Ordnung bezieht – so oder so interpretiert werden. Im Nachhinein erscheint die traditionelle deutsche „Weihnachtshymne“ weniger als Relikt denn als verstecktes Zeichen eines Beharrens und Widerstehens, das im Übrigen erfolgreich war.
Denn abgestorben sind nicht die bürgerliche Gesellschaft und das Christentum, sondern der reale Sozialismus mit seiner Geringschätzung von Freiheit und Selbstbestimmung, seinen wohlfeilen Lügen und seinen monströsen Verbrechen an unzähligen Einzelmenschen im Namen einer imaginären „Menschheit“.
Zu verdanken ist dies nicht zuletzt den Christen in der DDR, die sich durch den Glauben ihre innere Unabhängigkeit bewahrten, in ihren Kirchen einen Schutzraum für oppositionelle Bewegungen boten und so die Keimzelle für die friedliche Revolution von 1989 bildeten. Ihr beharrliches Wirken war einer der unterirdischen Flussläufe, die die Fundamente der Mauer unterspülte, ganz nach dem Motto des Liedes, das der Linkspartei-Barde Dieter Dehm einst für die Friedensbewegung im Westen getextet hatte: Das weiche Wasser bricht den Stein!
Mehr als „Kindesmissbrauch“, „Inquisition“ oder „Kolonialismus“
Allerdings wäre die Mauer in Berlin wohl nicht gefallen ohne das, was ein knappes Jahrzehnt vorher in Polen geschehen war: die Gründung der Gewerkschaft Solidarnosc unter massiver Unterstützung durch katholische Intellektuelle, eine im Volk verankerte und diesem zutiefst verbundene Kirche sowie den polnischen Papst in Rom. Die anschließende millionenfache Paketspendenaktion der deutschen Kirchen für die unter der kommunistischen Misswirtschaft notleidende polnische Bevölkerung bewirkte für den Versöhnungsprozess zwischen Deutschen und Polen mehr als alle politischen Absichtserklärungen und Sonntagsreden. Einen Prozess, der Mitte der sechziger Jahre durch den Brief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder angestoßen worden war: „Wir vergeben und bitten um Vergebung!“
Man könnte noch weiter zurückgehen zu den Verschwörern des 20. Juli 1944, deren Widerstand gegen den nationalsozialistischen Völkermord überwiegend christlich motiviert war, aus ihrer Verantwortung vor Gott heraus. Und von dort zurück zur Bekennenden Kirche. Und weiter zurück und weiter … Dann würde sich allmählich ein anderes Bild von der Geschichte der Christenheit herauskristallisieren als das Zerrbild, das in den Medien vor allem mit Stichwörtern wie „Kindesmissbrauch“, „Inquisition“ oder „Kolonialismus“ von ihr gezeichnet wird. Ja, das Christentum wurde in seiner Geschichte unzählige Male für Macht- und Interessenpolitik missbraucht, aber zu jeder Fehlentwicklung gab es auch starke Gegenbewegungen. Anders als andere Weltreligionen hat es sich stets aus sich selbst heraus reformiert und weiterentwickelt.
Der viel zu früh verstorbene polnische Liedermacher Jacek Kaczmarski unterstützte vom westeuropäischen Exil aus die weitverzweigte Untergrundopposition in Polen. Eines seiner bekanntesten Lieder ist „Zrodlo“ (Die Quelle). Diese Quelle, die zwischen steilen, verwucherten Hängen, durch Gestrüpp, Schlamm und Höhlen unermüdlich weiterfließt, wurde zum Symbol für den Widerstand gegen ein verkrustetes autoritäres Regime. Ebenso gut eignet sie sich als Metapher, um den kontinuierlichen Einsatz von Christen nicht nur gegen Hunger und Armut, sondern auch für Bildung, Freiheit und Menschenrechte zu kennzeichnen.
Das Fähnchen im Wind
Drei Jahrzehnte nach dem Völkerfrühling in Mittel- und Osteuropa und der deutschen Wiedervereinigung sinkt der Stern des organisierten Christentums, diesmal in ganz Deutschland. Das belegen nicht nur die rapide steigenden Austrittszahlen, die 2019 (mit über einer halben Million Austritte aus den beiden Großkirchen) einen neuen Höchststand erreichten. Von den noch nicht Ausgetretenen besuchen nur noch zwischen 3 Prozent (Protestanten) und 10 Prozent (Katholiken) den Gottesdienst.
Dafür gibt es verschiedene Gründe. „Ich glaube nicht mehr an Gott“, gaben 2019 nur 15 Prozent der Ausgetretenen an, während fast 40 Prozent als wichtigsten Grund ihre Unzufriedenheit mit der Institution Kirche nannten, ein bestürzendes Ergebnis, das aber den scheidenden EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm nicht anficht. Er sieht die Ursache in „gesellschaftlichen Megatrends“ wie einem zunehmenden Individualismus, die die Kirche „nur sehr bedingt beeinflussen“ könne. Geblendet von den noch reichlich sprudelnden Kirchensteuereinnahmen, verschließen selbstzufriedene Kirchenführer wie Bedford-Strohm die Augen vor der schweren Krise, in der sich ihre Institution befindet und die sie mitverschuldet haben.
"Geht der Kirche der Glaube aus?“, fragt Klaus-Rüdiger Mai in seiner gleichnamigen Streitschrift und diagnostiziert, dass in den kirchlichen Leitungsgremien immer öfter an die Stelle des Glaubens eine als „Werte“ oder „Haltung“ verbrämte Gesinnung tritt, die politisch Partei ergreift, in der Regel für Positionen von Grünen, Linken oder der SPD. Belege dafür finden sich in unzähligen Predigten, öffentlichen Verlautbarungen, auf jeder Synode und jedem Kirchentag.
Ein Coca-Cola-Manager, der für Pepsi wirbt
Aus dem, was die Kirchenfunktionäre sagen und dem, worüber sie schweigen, lässt sich schlussfolgern, woran sie glauben: an die Utopie von der einen, multilateral kooperierenden Welt, in der sich alle Konflikte mit Geld und schönen Worten wie „Respekt“ und „Toleranz“ lösen lassen, von einem regenbogenbunten Reigen aus LGBT-Menschen, People of Color, Kopftuchfrauen und sonstigen angeblich diskriminierten Minderheiten, die sich fröhlich an den Händen fassen und unablässig im Kreis tanzen. Wer diese verlogene und kitschige Vorstellung von einem solchen Paradies auf Erden – das mit dem christlichen Glauben eigentlich völlig unvereinbar ist – nicht teilt, wird in die rechte Ecke gestellt und vom Dialog ausgeschlossen.
So sekundieren die steuerfinanzierten und als Sozialkonzerne vom Staat hochsubventionierten Großkirchen einem unter Angela Merkel abstrus aufgeblähten staatlichen „Kampf gegen rechts“. Deshalb flattern von den Fassaden vieler evangelischer Kirchen riesige Transparente im Wind mit der Parole „Rechtspopulismus schadet der Seele“. Wären die kirchlichen Oberhirten zu Selbstkritik fähig, müsste dort stehen: „Opportunismus schadet der Seele.“ Doch die eigene haben sie längst verloren, und entsprechend unfähig sind sie zur Seelsorge für ihre Schäfchen. Stattdessen kuschen sie vor dem weltweit expandierenden Islam: Bedford-Strohm, Marx und das Kreuz mit der klaren Kante, kumpanieren mit dessen Lobbyisten und suchen nach theologischen Gemeinsamkeiten, wo keine sind, anstatt das eigene Profil zu schärfen.
Ein Manager von Coca-Cola, der Sympathien für Pepsi erkennen lässt oder sogar Werbung für die Konkurrenz macht, würde hochkant hinausgeworfen werden. In den deutschen Großkirchen dürfen genau solche Manager die höchsten Positionen besetzen und der Öffentlichkeit ihre Lauheit, Saturiertheit und Verweigerung des Kerngeschäfts als christliche „Toleranz“ oder „Nächstenliebe“ verkaufen. Dabei hätte das Christentum ohne den Willen zur Selbsterhaltung, zur Bewahrung und Verteidigung des Eigenen nie und nimmer zwei Jahrtausende überdauern können.
Die Quelle ist noch nicht versiegt
Was ist das Kerngeschäft, das die Kirchen aus den Augen verloren haben? Zu allererst die ihnen aufgetragene Verkündigung des Evangeliums, der „frohen Botschaft“: Gott ist in Jesus Christus Mensch geworden und denen nahe, die an ihn glauben. Durch seine Wiederauferstehung hat er dem Tod den Schrecken genommen. Wer diese Geschichte nicht glauben kann oder will, muss nicht in der Kirche bleiben. Schon gar nicht ist er gezwungen, ein leitendes Amt in ihr zu bekleiden.
Zweitens die Vermittlung eines realistischen Bildes vom Menschen und von der Welt. Der christliche Glaube negiert nicht die Existenz des Bösen in der Welt, projiziert aber das Böse auch nicht auf Andersdenkende. Er geht davon aus, dass in jedem Menschen Gutes wie Böses angelegt ist und jeder die Freiheit hat, selbst zu wählen.
Drittens müssten die Kirchen ihre spezifische Hoffnung gegen die Propheten des nahenden Weltuntergangs in die Waagschale legen. Die Spannung halten zwischen dem Hoffen auf das Beste und dem Darauf-Gefasst-Sein, dass es vorher noch schlimmer kommen kann. So wie in der Heiligen Nacht der Engel den Hirten auf dem Felde verkündete: „Fürchtet euch nicht! Denn euch ist heute der Heiland geboren!“, müssten sie den Leuten sagen: Lasst euer Leben nicht von Angst beherrschen, nicht von der Angst vor dem Klimawandel und auch nicht vor Corona!
Die Hoffnung, dass eigene Irrtümer eingestanden und Fehler korrigiert werden können, dass Schuld vergeben werden kann; dass die Schwachen stark werden können und scheinbar unrettbar Verlorenes sich zurückgewinnen lässt – diese Hoffnung der Christen hat die Welt verzaubert und kann sie weiter verzaubern. Noch ist die Quelle nicht versiegt.