Thilo Schneider / 07.07.2022 / 15:00 / Foto: Timo Raab / 30 / Seite ausdrucken

Prole Drift: Proleten-Kultur für die Oberschicht

Früher wurde die Kultur einer Gesellschaft (also Kleidung, Manieren, Etikette, Gesellschaftsregeln etc.) von oben nach unten – vom Adel über die bürgerlichen Schichten ans Proletariat – weitergegeben. Längst ist es umgekehrt. Schön ist das nicht.

In einer Twitter-Diskussion stieß ich neulich auf den Begriff „Prole Drift“ und ich fand die Idee dahinter derart interessant, dass ich mich näher damit beschäftigt habe. 

Geprägt hat diesen Begriff der amerikanische Kulturhistoriker Paul Fussell, hier nach Deutschland kam er durch den leider bereits verstorbenen Rolf Peter Sieferle (eifrige Achse-Leser kennen ihn sicher von seinem posthum veröffentlichten Werk „Finis Germania“, der den gesellschaftlichen Fehler aufwies, im sehr schlimmen Antaios-Verlag veröffentlicht worden zu sein). 

Was aber bedeutet „Prole Drift“? Im Grunde geht es darum, dass die Kultur einer Gesellschaft (also Kleidung, Manieren, Etikette, Gesellschaftsregeln etc.) früher von oben nach unten – also vom Adel über die bürgerlichen Schichten ans Proletariat – weitergegeben wurde. Die „Prole Drift“ beschreibt das seit etwa den 1970er Jahren umgekehrte Phänomen, nämlich die Annahme von Un- oder Subkultur von unten nach oben. Sprich: Die „lockere und liberale Gesellschaft“ degeneriert zur Beliebigkeit, zum Lauten, zum Obszönen, zum Ungehobelten und damit leider auch zur Dummheit – eben zur Proletisierung und zur Beliebigkeit in einer Gesellschaft.

Ich will nicht behaupten, dass dem tatsächlich so ist, ich habe nicht studiert und nicht einmal Abitur, ich kann nur meine Umwelt und mich selbst beobachten und konstatieren und aufschreiben, was ich sehe. Daneben ist es ja auch so, dass sich auch Kultur in einem ständigen Wandel befindet, der ebenfalls nicht stets nur positiv oder nur negativ, sondern zuerst einmal wertfrei vorhanden ist. Es ist gut, wenn Homosexualität heute nicht mehr unter Strafe steht; ob es gut ist, dass Homosexuelle heiraten dürfen, wird die Zeit erst zeigen. Die „Ehe für alle“ war jedenfalls der Dominostein, der die weiteren Steine bis hin zur Leugnung, dass es eben nur zwei biologische Geschlechter gibt, ins Fallen gebracht hat und wir heute erwartungsgemäß zu diskutieren beginnen, warum denn nicht auch Vielehen oder Minderjährigenehen erlaubt sein sollten. Ein vernünftiges Argument dagegen lässt sich im nunmehr vorgegebenen Rahmen kaum finden. Erst recht nicht, wenn Jugendliche mitten in der Pubertät Geschlechts„angleichungen“ vornehmen sollen dürfen, noch bevor es ihnen erlaubt ist, Alkohol zu kaufen oder einen Führerschein zu machen. 

Cooler „Job“ statt Ausbildungsberuf

Kinder lernen heute in ihrer KiTa oder in der Schule mehr über diverse Sexualpraktiken als über die simple Art und Weise, einen Tisch zu decken oder mit Messer und Gabel unfallfrei umgehen zu können. Realschüler und teilweise Abiturienten haben heute massive Probleme, eine analoge Uhr zu lesen oder simple Rechenaufgaben wie „15 Prozent von 120“ ohne Hilfsmittel im Kopf zu lösen. Ich plaudere nicht aus der hohlen Hand, ich habe dies bei Bewerbungsgesprächen mehr als einmal live erlebt. Die in Einladungen erbetene „angemessene Berufsbekleidung“ wird von Teenagern heute als Sneakers, Jeans und weißem Hemd interpretiert. Mit etwas Glück hat ein Bewerber noch ein Jackett an, die Krawatte ist ganz aus dem Bewusstsein verschwunden. Nicht, dass das schlimm wäre, aber ich gehöre eben noch zu der aussterbenden Art, die weiß, wie man eine bindet, und eben keine gebundenen Clip-Krawatten im Schrank hat. Nur eine Fliege zu binden, das bekäme ich auch nicht unfallfrei und ohne fremde Hilfe hin. Aber wozu auch? Es ist nicht mehr gefragt. 

Wer heute eine Theateraufführung oder eine Oper besucht, der sieht nicht mehr Bürger in Abendgarderobe, sondern Leute in Klamotten und Frauen mit Haaren statt einer Frisur. Und seien wir ehrlich: Das Absingen von Weihnachtsliedern unterm Christbaum klingt in festlicher Kleidung ebenso schrecklich wie in Jogginghosen und Adiletten – schlicht, weil die Texte in Vergessenheit geraten und die heutigen jungen Eltern ja ebenfalls aus einer Generation kommen, der man erzählt hat, dass Weihnachten als christliches Fest Muslime ausschließt, was für muslimische Kinder ganz schrecklich sei (von jüdischen Kindern redet übrigens sowieso niemand. Die paar, die es geben mag, verhalten sich besser unauffällig, wenn sie von der „Free Palestine“-Fraktion keine Schläge bekommen wollen). 

Die „Prole Drift“ sorgt dafür, dass es heute nicht mehr als erstrebenswert gilt, einen „ordentlichen Ausbildungsberuf“ mit Gesellen- und Meisterbrief zu erwerben, sondern einen „Job“ zu haben, der für vermeintlich wenig Leistung viel Geld vorsieht: „Influencer“ bietet sich an oder eben „Künstler“ oder „Gender-Beauftragter“, viel Labern mit viel Kohle und ohne die schweren Säcke, die es für und mit den Kohlen zu schleppen gilt. In einem Interview meinten kürzlich zwei junge PoC-Frauen, wohl um die 20 Lenze jung, dass „Dealer“ gar kein so schlechter „Job“ sei, solange er nicht mit „gestreckter Ware“ arbeite, sondern ein „voll korrektes Mindset“ habe. Klar, und Prostitution kann ja auch Spaß machen… Auf jeden Fall gibt’s schnelles Geld für Selbstentwürdigung. 

Proletarisierung der Eliten

Überhaupt ist das vielleicht das eigentliche Problem der „Prole Drift“, so es sie tatsächlich gibt: Sie nimmt dem Menschen die ihm eigene Würde und lässt ihn zum stumpf grölenden Proleten werden. „Bitch“ zu sein ist irgendwie cool, „Boss“ zu sein ist irgendwie cool, „Trans“ zu sein ist irgendwie cool, „Woke“ zu sein ist irgendwie cool – das ist sogar so cool, dass es dafür eigene Beauftragte des Bundes wie Sven Lehmann gibt. Klimatechniker oder Elektriker oder Maurer – eher uncool. Im Gegenteil: sehr spießig.

Cool auch die Sprache, die die nachwachsende Generation spricht: das sogenannte „Kanak“-Deutsch aus „gucksdu“ und „hasdu“, das besonders an sogenannten „Brennpunktschulen“ auffällig ist, in denen sich die paar verbliebenen deutschen Schüler zwangsläufig in die Mehrzahl der „neu hinzugekommenen Schüler“ integrieren müssen, wenn sie gerne ihre Zähne behalten wollen. Und natürlich schleicht sich dieser Ghetto-Slang dann durch Musik und Kultur bis in die klassische Bildungsbürgerschicht. Sicher, Olaf Scholz wird nicht mit „Bosskette“ vor die Kameras gehen (jedenfalls noch nicht), T-Shirt und Jeans dürfen es aber schon sein. Und auch die derzeit vor allem bei Grünen-Politikern beliebten TikTok-Videos weisen genau auch diese Proletarisierung der Eliten auf, die keine mehr sind oder sein wollen oder: sein können. 

Individuelle Persönlichkeiten erkennt man heute nicht mehr an ihren Tattoos oder ihren dämlichen Pronomen, sondern daran, dass sie weder das eine noch das andere haben, ganze Sätze auf Deutsch aussprechen können, textsicher Weihnachtslieder beherrschen und sich Gedanken um eine Auswanderung machen. Und wissen, wie man eine Krawatte bindet. 

(Weitere driftende und triftige Artikel des Autors unter www.politticker.de)  

 

Von Thilo Schneider ist in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.

Foto: Timo Raab

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maciste rufus / 07.07.2022

maciste grüßt euch. auch diese entwicklung erscheint mir unbedenklich: in zukunft werden die einen unter dem schleier verschwinden und die anderen im uniformrock und immerhin ordentlichem schuhwerk ihr dasein fristen - quasi die tschetschenen als zukünftige modezaren… battle on.

W. Renner / 07.07.2022

Sehr gut auf den Punkt gebracht Herr Schneider. Die logische Konsequenz aus diesen traurigen Fakten, wäre eigentlich, dass wir uns den ganzen Regierungsapparat gleich ganz einsparen sollten und deren Geschäfte gleich den Geissens, dem Bachelor und dem Wendler übertragen sollten. Abgestimmt wird dann mit Likes und Shitstormes. Schlimmer als jetzt käme es damit wohl auch nicht und ich bin mir fast sicher, dass uns die oben genannten zumindest vor weiteren Windmühlen verschonen würden.

Dr Jens Richter / 07.07.2022

@N. Lehmann: Prole Drift ist ein Begriff aus der amerikanischen Soziologie und hat nichts mit dem von Ihnen Angeführten zu tun. Die Unterschicht steht in Deutschland doch längst unter Pack-Verdacht, an ihr will sich die grüne Schickeria schon lange nicht mehr die Hände schmutzig machen. “Dunkeldeutschland”, “Abgehängte”, das ist heute die dämonisierte Unterschicht, die man am liebsten in Gehege sperren und ihr das Wahlrecht entziehen würde. Der Begriff meint aber was ganz anderes. Wie sich einst der Dandy zu Halb- und Zirkuswelt hingezogen fühlte, kokettierte die Bürgerjugend der späten 60er und 70iger mit der vermeindlich authentischen Unterschicht. Das fing schon mit dem Typus Marlon Brando an, aber der Drift nach unten hatte seinen Höhepunkt in der Popkultur der 70er Jahre.

Hubert Bauer / 07.07.2022

Die gepflegtesten Deutschen sind derzeit die jungen, gebildeten Türken. Selbst die bei uns lebenden Italiener und die Slawen haben sich dem niedrigen deutschen Niveau angepasst.

Helmut Kassner / 07.07.2022

Das ist eine der ersten Dinge die Linke bzw. Kommunisten im Programm haben auch wenn sie es explizit nicht verlauten lassen; die Beseitigung/Unterdrückung des Bürgerlichen und die Zerstörung der Familie.  Natürlich nehmen sie für sich die angenehmen Seiten des Bürgerlichen in Anspruch ( siehe: Die Farm der Tiere von G. Orwell). Sie bedienen sich dabei der Teile der Bevölkerung die wenig oder garnichts mit dem Bürgerlichen anfangen können ohne sich mit diesen gemein zu machen. Das habe ich in der damaligen Ostzone genau beobachten können und erlebe es heute wieder so.@

Tobias Budke / 07.07.2022

Danke für den interessanten Artikel. Literaturtipp: Norbert Elias, Der Prozess der Zivilisation. Schönen Gruß!

Harald Hotz / 07.07.2022

Ich bin da garnicht so pessimistisch, denn wo das Pendel in die eine Richtung ausschlägt, gibt es immer auch die Gegenbewegung: Viele leistungsbereite, lebensbejahende junge Leute, die Wert auf ihr Äußeres und auf Benehmen legen und sich damit auch ganz bewußt abheben wollen von den woken durcheinandergegenderten pseudointellektuellen Prollspacken, die nicht wissen, woher sie kommen, wer sie sind, wer sie sein wollen, und was sie mit dem Geschenk des Lebens überhaupt anfangen sollen. Oder man muß sich nur mal die jungen Burschen auf dem Land anschauen, wenn sie mit Traktoren, groß wie Panzerhaubitzen, über die Straßen donnern, daß jeder städtische Gymnasiast aus grünem Elternhaus vom Lufthauch umgeweht würde. Nur über diese jungen Leute berichtet keiner und sie kommen auch in keinem dümmlichen Trashformat des Poll-TV´s vor. Und auch die elitäre sogenannte “letzte Generation”, die für sich in Anspruch nimmt, den vollen Durchblick zu haben, besteht in Wirklichkeit doch nur aus Zurückgebliebenen, die froh sein müssen, wenn sie dereinst beim Staat, einer NGO oder einer Partei unterschlüpfen können. War nicht das Entsetzen groß, als nach der letzten Wahl festgestellt wurde, daß so viele Junge nicht Grün, sondern FDP gewählt hatten. Wieviele Junge würden wohl eine Partei mit einem zukunftstauglichen Programm und einer charismatischen Führung wählen? Und unter charismatisch versteht nicht wirklich jeder, täglich in Käptn Blaubär Manier die Story von der Klimarettung erzählt zu bekommen und daß wir alle kalt Duschen müssen, um die Erde und die Ukraine zu retten oder einen hysterischen Hein Blöd als Gesundheitsminister.

Yehudit de Toledo Gruber / 07.07.2022

Sehr geehrter Herr Schneider, Ihr “Prole-Drift-Artikel” ist für mich d   e r   Artikel des Monats” .  Trefflicher kann man die generelle Verwahrlosung hierzulande gar nicht schildern! Da ich z.B. kein Auto besitze und leider auf Öffentliche Verkehrsmittel angewiesen bin, sind für mich die U-Bahn- und S-Bahn-Fahrten ein Horror. Und wie die Menschen ringsherum verschlampen, so sieht es auch in ihren Städten und Straßen aus. Doch das Allerschlimmste ist die Sprache! Übrigens auch schon hier bei so manchen Achgut-Kommentatoren (geil, Titten und Schlimmeres).  Und wenn sogar schon alle Journalisten den Begriff “Keidung” verbannt haben und nur noch über “Klamotten” schreiben oder sprechen - was soll man dann den Schulkindern entgegnen? Sogar die seriösen Banken gehen mittlerweile dazu über, ihre Kunden jetzt mit “Hallo und “Du” anzuschreiben, was ich mir übrigens neulich schriftlich verbeten habe. Die Kundenservice-Bearbeiter haben sich über meine Zeilen wahrscheinlich schlapp gelacht.

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