Früher wurde die Kultur einer Gesellschaft (also Kleidung, Manieren, Etikette, Gesellschaftsregeln etc.) von oben nach unten – vom Adel über die bürgerlichen Schichten ans Proletariat – weitergegeben. Längst ist es umgekehrt. Schön ist das nicht.
In einer Twitter-Diskussion stieß ich neulich auf den Begriff „Prole Drift“ und ich fand die Idee dahinter derart interessant, dass ich mich näher damit beschäftigt habe.
Geprägt hat diesen Begriff der amerikanische Kulturhistoriker Paul Fussell, hier nach Deutschland kam er durch den leider bereits verstorbenen Rolf Peter Sieferle (eifrige Achse-Leser kennen ihn sicher von seinem posthum veröffentlichten Werk „Finis Germania“, der den gesellschaftlichen Fehler aufwies, im sehr schlimmen Antaios-Verlag veröffentlicht worden zu sein).
Was aber bedeutet „Prole Drift“? Im Grunde geht es darum, dass die Kultur einer Gesellschaft (also Kleidung, Manieren, Etikette, Gesellschaftsregeln etc.) früher von oben nach unten – also vom Adel über die bürgerlichen Schichten ans Proletariat – weitergegeben wurde. Die „Prole Drift“ beschreibt das seit etwa den 1970er Jahren umgekehrte Phänomen, nämlich die Annahme von Un- oder Subkultur von unten nach oben. Sprich: Die „lockere und liberale Gesellschaft“ degeneriert zur Beliebigkeit, zum Lauten, zum Obszönen, zum Ungehobelten und damit leider auch zur Dummheit – eben zur Proletisierung und zur Beliebigkeit in einer Gesellschaft.
Ich will nicht behaupten, dass dem tatsächlich so ist, ich habe nicht studiert und nicht einmal Abitur, ich kann nur meine Umwelt und mich selbst beobachten und konstatieren und aufschreiben, was ich sehe. Daneben ist es ja auch so, dass sich auch Kultur in einem ständigen Wandel befindet, der ebenfalls nicht stets nur positiv oder nur negativ, sondern zuerst einmal wertfrei vorhanden ist. Es ist gut, wenn Homosexualität heute nicht mehr unter Strafe steht; ob es gut ist, dass Homosexuelle heiraten dürfen, wird die Zeit erst zeigen. Die „Ehe für alle“ war jedenfalls der Dominostein, der die weiteren Steine bis hin zur Leugnung, dass es eben nur zwei biologische Geschlechter gibt, ins Fallen gebracht hat und wir heute erwartungsgemäß zu diskutieren beginnen, warum denn nicht auch Vielehen oder Minderjährigenehen erlaubt sein sollten. Ein vernünftiges Argument dagegen lässt sich im nunmehr vorgegebenen Rahmen kaum finden. Erst recht nicht, wenn Jugendliche mitten in der Pubertät Geschlechts„angleichungen“ vornehmen sollen dürfen, noch bevor es ihnen erlaubt ist, Alkohol zu kaufen oder einen Führerschein zu machen.
Cooler „Job“ statt Ausbildungsberuf
Kinder lernen heute in ihrer KiTa oder in der Schule mehr über diverse Sexualpraktiken als über die simple Art und Weise, einen Tisch zu decken oder mit Messer und Gabel unfallfrei umgehen zu können. Realschüler und teilweise Abiturienten haben heute massive Probleme, eine analoge Uhr zu lesen oder simple Rechenaufgaben wie „15 Prozent von 120“ ohne Hilfsmittel im Kopf zu lösen. Ich plaudere nicht aus der hohlen Hand, ich habe dies bei Bewerbungsgesprächen mehr als einmal live erlebt. Die in Einladungen erbetene „angemessene Berufsbekleidung“ wird von Teenagern heute als Sneakers, Jeans und weißem Hemd interpretiert. Mit etwas Glück hat ein Bewerber noch ein Jackett an, die Krawatte ist ganz aus dem Bewusstsein verschwunden. Nicht, dass das schlimm wäre, aber ich gehöre eben noch zu der aussterbenden Art, die weiß, wie man eine bindet, und eben keine gebundenen Clip-Krawatten im Schrank hat. Nur eine Fliege zu binden, das bekäme ich auch nicht unfallfrei und ohne fremde Hilfe hin. Aber wozu auch? Es ist nicht mehr gefragt.
Wer heute eine Theateraufführung oder eine Oper besucht, der sieht nicht mehr Bürger in Abendgarderobe, sondern Leute in Klamotten und Frauen mit Haaren statt einer Frisur. Und seien wir ehrlich: Das Absingen von Weihnachtsliedern unterm Christbaum klingt in festlicher Kleidung ebenso schrecklich wie in Jogginghosen und Adiletten – schlicht, weil die Texte in Vergessenheit geraten und die heutigen jungen Eltern ja ebenfalls aus einer Generation kommen, der man erzählt hat, dass Weihnachten als christliches Fest Muslime ausschließt, was für muslimische Kinder ganz schrecklich sei (von jüdischen Kindern redet übrigens sowieso niemand. Die paar, die es geben mag, verhalten sich besser unauffällig, wenn sie von der „Free Palestine“-Fraktion keine Schläge bekommen wollen).
Die „Prole Drift“ sorgt dafür, dass es heute nicht mehr als erstrebenswert gilt, einen „ordentlichen Ausbildungsberuf“ mit Gesellen- und Meisterbrief zu erwerben, sondern einen „Job“ zu haben, der für vermeintlich wenig Leistung viel Geld vorsieht: „Influencer“ bietet sich an oder eben „Künstler“ oder „Gender-Beauftragter“, viel Labern mit viel Kohle und ohne die schweren Säcke, die es für und mit den Kohlen zu schleppen gilt. In einem Interview meinten kürzlich zwei junge PoC-Frauen, wohl um die 20 Lenze jung, dass „Dealer“ gar kein so schlechter „Job“ sei, solange er nicht mit „gestreckter Ware“ arbeite, sondern ein „voll korrektes Mindset“ habe. Klar, und Prostitution kann ja auch Spaß machen… Auf jeden Fall gibt’s schnelles Geld für Selbstentwürdigung.
Proletarisierung der Eliten
Überhaupt ist das vielleicht das eigentliche Problem der „Prole Drift“, so es sie tatsächlich gibt: Sie nimmt dem Menschen die ihm eigene Würde und lässt ihn zum stumpf grölenden Proleten werden. „Bitch“ zu sein ist irgendwie cool, „Boss“ zu sein ist irgendwie cool, „Trans“ zu sein ist irgendwie cool, „Woke“ zu sein ist irgendwie cool – das ist sogar so cool, dass es dafür eigene Beauftragte des Bundes wie Sven Lehmann gibt. Klimatechniker oder Elektriker oder Maurer – eher uncool. Im Gegenteil: sehr spießig.
Cool auch die Sprache, die die nachwachsende Generation spricht: das sogenannte „Kanak“-Deutsch aus „gucksdu“ und „hasdu“, das besonders an sogenannten „Brennpunktschulen“ auffällig ist, in denen sich die paar verbliebenen deutschen Schüler zwangsläufig in die Mehrzahl der „neu hinzugekommenen Schüler“ integrieren müssen, wenn sie gerne ihre Zähne behalten wollen. Und natürlich schleicht sich dieser Ghetto-Slang dann durch Musik und Kultur bis in die klassische Bildungsbürgerschicht. Sicher, Olaf Scholz wird nicht mit „Bosskette“ vor die Kameras gehen (jedenfalls noch nicht), T-Shirt und Jeans dürfen es aber schon sein. Und auch die derzeit vor allem bei Grünen-Politikern beliebten TikTok-Videos weisen genau auch diese Proletarisierung der Eliten auf, die keine mehr sind oder sein wollen oder: sein können.
Individuelle Persönlichkeiten erkennt man heute nicht mehr an ihren Tattoos oder ihren dämlichen Pronomen, sondern daran, dass sie weder das eine noch das andere haben, ganze Sätze auf Deutsch aussprechen können, textsicher Weihnachtslieder beherrschen und sich Gedanken um eine Auswanderung machen. Und wissen, wie man eine Krawatte bindet.
(Weitere driftende und triftige Artikel des Autors unter www.politticker.de)
Von Thilo Schneider ist in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.