2015 kam die Chance für dieses Land, die Chance, sich endlich von den eigenen Sünden reinzuwaschen. Seither ist das „bunte“ Deutschland so unantastbar wie noch nie. Wir schaffen das, weil wir es angeblich auch in der Vergangenheit geschafft haben. Weil wir auch schon vorher multikulturell und weltoffen waren – oder zumindest, weil wir es um jeden Preis sein wollen. Kollateralschäden inklusive.
Vor diesem Hintergrund lässt sich erahnen, was für eine Vollkatastrophe zwei türkischstämmige Fußballidole, noch dazu deutsche Nationalspieler, sind, die sich mit dem türkischen Machthaber Erdogan ablichten lassen. Ausgerechnet Erdogan, der in den vergangenen Jahren einen respektablen Platz in der deutschen Rangliste des Bösen erkämpft hat, und das wider aller politisch korrekten Erwägungen bezüglich eines sensiblen Umgangs mit unseren gerne mal beleidigten deutschtürkischen Mitbürgern. Schlimmer wäre wirklich nur ein Bild von Thomas Müller mit Donald Trump gewesen.
Das liegt zum einen daran, dass der Fußball generell nahezu das Einzige ist, was den leidensfähigen, aber nicht unbedingt leidenschaftsvollen Deutschen richtig in Wallung bringt und zum anderen, weil auch im – den „Proletensport“ zumeist ablehnend gegenüberstehenden – linksintellektuellen Spektrum hinlänglich bekannt ist, welche Bedeutung der Fußball in Deutschland für die Aufrechterhaltung des Integrationsmärchens hat. Nirgends wird der multikulturelle Traum so in die Tat umgesetzt, wie im Fußball. Und wer einmal sonntags bei einem Kreisliga-Spiel der örtlichen Dorfmannschaft war, der weiß, dass das längst nicht nur für die Bundesliga und die deutsche Nationalmannschaft gilt.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass der Fußball sich deshalb so gut als Paradebeispiel für gelungene Integration eignet, weil es zum einen abseits des Fußballsports wenig kulturelle und sportliche Ereignisse gibt, die als gemeinsames Interesse von „Biodeutschen“ und muslimischen Mitbürgern durchgehen, und zum anderen, weil auf dem Sportplatz politische und kulturelle Ansichten zumeist keine Rolle spielen.
Idole, denen der Journalist wohlwollend zur Seite springt
Will sagen: Bei aller Wichtigkeit und Anerkennung der Tatsache, dass Werte wie Teamgeist und sportlicher Zusammenhalt durchaus eine integrative Wirkung entfalten können, funktioniert Multikulti im Fußball auch deshalb so gut, weil es sich um eine Sphäre des gesellschaftlichen Lebens handelt, in der es um den sportlichen Zusammenhalt zwischen Männern und Jungs geht, die sich nicht vorrangig für die politischen und kulturellen Ansichten ihres Fußballkumpels interessieren.
In der es nicht darum geht, wie jemand zu Erdogan steht, oder zu Juden, Homosexuellen und Selbstbestimmung der eigenen Schwester. So gesehen ist die gelungene Integrationsarbeit des Fußballs nur dem Umstand zu verdanken, dass man ihre Oberflächlichkeit nicht benennt. Dass seine Protagonisten im Gegensatz zu Politikern Idole sind, denen der deutsche Journalist gewillt ist, wohlwollend zur Seite zu springen. Denen man das ganze relativierende Fake-Geschwafel, das ihnen irgendein PR-Mann schnell zusammengeschustert und in den Mund gelegt hat, glauben will, weshalb eine Mehr-oder-weniger-Entschuldigung von Ilkay Gündogan, der zuvor ein Trikot für „seinen Präsidenten“ signierte, zumeist anstandslos geschluckt wird.
Wer sich indes ein wenig in der Welt des Fußballs abseits des Platzes bewegt, der weiß, wie entkernt und weit entfernt der Fußball mittlerweile von tugendhaften Werten ist. Und es ist wichtig, zu benennen, dass diese Anstandslosigkeit und moralische Verkommenheit nicht nur Funktionäre betrifft, sondern auch Spieler selbst. Die Ex-Dortmunder Dembéle und Aubameyang, die sich durch Boykott und wiederholende Regelverstöße von ihrem Ex-Verein freipressten, sind als Spielertypus des Söldners genauso Teil dieses moralischen Vakuums im Fußball, wie die vielen anderen jungen Spieler, denen das eigene gute Gehalt und der Fußballer-Status, samt der damit verbundenen Vorzüge, zu Kopf gestiegen sind. Deren Leben abseits des Platzes nur aus Party und regelrechten Exzessen mit Frauen besteht.
Ja, es gibt sie noch, Typen wie Thomas Müller, der seine Jugendliebe Lisa geheiratet hat und auch sonst ein gerader Kerl ist. Die große Mehrheit lebt jedoch ein Leben, in dem schon längst nur noch geile Klamotten, Partys und möglichst viele Frauen zählen und nicht, ob du ein guter Mensch bist. Vorbilder für die vielen jungen Männer, die sie genau für diesen Lifestyle feiern, sind sie dennoch. Gute oder schlechte, bleibt dahingestellt.
„Gegen Rassismus“ für „Vielfalt“ oder „Integration“
Den Hedonismus der westlichen Gesellschaft hat der Fußball damit nicht erfunden, aber es ist Zeit einzusehen, dass er genauso von diesem befallen ist wie andere Sphären der Gesellschaft. Dass er eigentlich nur auf der großen Bühne abbildet, was sich genauso im Kleinen seit Jahren vollzieht: die völlige Sinnentleerung des westlichen Individuums, das weder ein wirkliches Bewusstsein für die Werte, von denen es gerne redet, besitzt, noch den Ehrgeiz, diese Werte zu verteidigen beziehungsweise für irgendetwas anderes zu stehen als für oberflächliche Statussymbole. Dessen politische Haltung sich allenfalls noch an einem spärlichen Gratismut manifestiert, der ihm wiederum von der veröffentlichten Meinung oder – wie im Falle des Fußballers – von einem PR-Berater vorgekaut wird und besagt, dass man mit einer Aktion „gegen Rassismus“ für „Vielfalt“ oder „Integration“ nun wirklich nichts falsch machen kann.
Insofern könnte man sich fast dazu hinreißen lassen, den Herren Özil und Gündogan für ihre türkische Wahlkampfaktion eine gewisse, im Fußball und der Gesellschaft generell selten gewordene, Wertetreue zu attestieren. Dass das nicht unbedingt die Werte eines musterintegrierten, die westliche Freiheit und Demokratie liebenden Deutschtürken sind, steht hierbei auf einem anderen Blatt.
Denn natürlich muss man als Kind schon sehr nah an der Wand geschaukelt haben, um zu glauben, dass Özil und Gündogan mit ihrem Besuch beim türkischen Präsidenten „kein politisches Statement abgeben“ wollten und einfach nur gemäß des Klischees des „dummen Fußballers“ nicht wussten, was sie da tun. Profi-Fußballer, die, nebenbei bemerkt, eine ganze Schar an Beratern um sich versammeln, ohne die sie für gewöhnlich keinen Schritt setzen.
Ein Özil, der darüber hinaus nicht zum ersten Mal für eine PR-Aktion seines Präsidenten zur Verfügung stand, der schon in der Vergangenheit dadurch aufgefallen war, dass er die Nationalhymne nicht mitsingt, weil er lieber zu Allah betet, in seiner Luxuswohnung in London einem Kamerateam auch gerne mal stolz ein Bild des Eroberers von Konstantinopel, Sultan Mehmed, zeigt, und den man nicht einmal bei der gewonnenen WM 2014 so freudestrahlend erlebt hat, wie bei der Trikotübergabe an seinen türkischen Führer. Dass es auch anders geht, zeigt der ebenfalls türkischstämmige Emre Can, der den Besuch beim türkischen Despoten, anders als seine Kollegen, im Vorfeld ablehnte. An Özils zweifelhaftem Verhältnis zur Heimat seiner Eltern ändern das jedoch nichts.
63 Prozent der sogenannten Deutschtürken stimmten im vergangenen Jahr für die Verfassungsänderungen Erdogans. Das Abstimmungsverhalten von mehr als der Hälfte aller in Deutschland lebenden türkischen Wähler legte auf schockierende Art und Weise offen, wie defizitär das Demokratieverständnis vieler, selbst hier geborener Türken ist. Wieso sollte das bei Özil und Gündogan anders sein?
Es wird klar: Auch der König Fußball kann die muslimische Parallelwelt nicht überwinden. Er ist in großen Teilen eine Integrationsveranstaltung für Sonnenscheintage, die so lange funktioniert, wie man nicht zu tief gräbt. Die Kluft zwischen Muslimen und Mehrheitsgesellschaft im Alltag wird auch er nicht schließen können. Vor allem, weil er selbst nicht mehr imstande ist, die Werte, von denen seine Funktionäre und Spieler reden, glaubhaft zu vermitteln. Am Ende geht es auch ihm, wie Özil bei seiner Entscheidung für die deutsche Nationalmannschaft, vorrangig um wirtschaftliche Aspekte und nicht um die politischen Ansichten seiner Spieler, und das einzige, was uns bleibt, ist die Hoffnung, dass nach dem Echo nun auch der Bambi abgeschafft wird, dessen Integrationspreisträger Bushido und Özil der ganzen lächerlichen Abfeierei eines bunten Deutschlands, das es mit solchen Leuten so nie gab, ein Gesicht geben.