Es war bei Bernds Geburtstag letzte Woche. Wir hatten uns mit den Tischnachbarn schon angefreundet, das Menü war toll gewesen und jetzt waren wir gemeinsam dabei, Bernds Weinvorräte zu vernichten, bevor wir doch wegen des Corona-Virus alle sterben müssen. Und wie es so ist, wenn alle schon ein bisschen was im Tee haben, kam das Gespräch irgendwie über Elektroautos, Verkehrsregeln und Griechenland auf Politik. Genau kann ich es auch nicht mehr rekonstruieren, weil ich zwischendurch draußen auf dem Balkon zum Rauchen war.
Als ich wiederkam, erklärte gerade Barbara, dass sie als Widerstandskämpferin bestimmt im Dritten Reich verhaftet worden wäre und Guido, Maschinenbauingenieur und ihr Ehemann, pflichtete ihr bei, weil er auch verhaftet worden wäre. Da wollten Bernd und Susanne nicht nachstehen, die beiden behaupteten, sie wären im Dritten Reich nicht nur verhaftet, sondern sogar hingerichtet worden, mussten sich aber Dietmar geschlagen geben, der Hitler wahrscheinlich erschossen hätte, weil ihm schon 1929 klar gewesen wäre, was da kommt. Dem pflichtete Senta, seine zweite Ex-Ehefrau bei, die ihn dabei unterstützt hätte. Es wäre ja auch ganz einfach gewesen: Man hätte nur bei einer Versammlung eine Pistole ziehen und Hitler die Rübe wegballern müssen, völlig unverständlich, dass da bei 60 Millionen Menschen keiner einen alten Weltkriegsrevolver im Haus hatte.
Ich saß also hier an einem Tisch von Widerstandskämpfern, gegen die die Scholls, Elser und die Leute des 20. Juli blutige Anfänger waren und bemerkte halbtrunken: „So einfach ist das sicher nicht. Ich kann das alles von mir nicht sagen, ich weiß ja nicht, wie ich aufgewachsen und sozialisiert worden wäre, welche Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg meine Eltern gemacht hätten und so weiter. Ich finde das schwierig, die heutige Sicht auf die damalige Zeit zu übertragen und zu sagen, man hätte so oder so reagiert.“ Die Runde starrte mich schweigend an. Barbara hatte den Mund dabei offen. „Ja, ich finde es ziemlich billig, im Jahr 2020 zu wissen, wie man im Jahr 1930 oder 1940 reagiert hätte. Das war doch eine ganz andere Zeit mit ganz anderen Menschen und ganz anderen Herausforderungen. Ich hätte wahrscheinlich auch nicht Julius Cäsar ermordet“, verteidigte ich mich gegen das entsetzte Schweigen.
„Ich war bei der Stasi“
Und ausgerechnet Heiko, der bisher gar nichts gesagt hatte, sprang mir bei: „Da hat er recht. Es ist schwierig. Ich bin in der DDR groß geworden und ja – ich war bei der Stasi. Ich fand das gut und richtig, mein Land zu verteidigen.“ Acht Augenpaare richteten sich jetzt auf Heiko und ich erwartete fast, dass er jetzt Prügel bezöge oder rausflöge. Als erstes fand Guido die Sprache wieder: „Das kann man ja wohl nicht vergleichen. Die DDR mag ein Unrechtsregime gewesen sein, aber so schlimm wie das Dritte Reich war sie nicht!“ Heiko sah ihn an. „Das ist nicht der Punkt“, erklärte er, „es geht doch um persönliche Verantwortung, und da muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich so richtig mit dabei war. Weil es mir eben auch richtig erschien.“ Barbara schaltete sich ein: „Mag ja sein, aber so schlimm war die Stasi ja nicht. Immerhin habt Ihr keine Leute in Konzentrationslager gebracht und ermordet!“
Heiko schüttelte den Kopf. „Auch das ist nicht der Punkt. Hohenschönhausen war kein Freizeitcamp, da wurden Leute misshandelt, unter Schlafentzug gestellt und so weiter, das Ganze hatte etwas von Folter – oder war es sogar – und ich war daran direkt beteiligt“, erläuterte er, „aber ich war der festen Meinung, dass dies notwendig ist, um mein Land zu verteidigen – und die antifaschistischen Werte, die wir in der DDR ja hatten. Ich bin eben so aufgewachsen. Mit Fahnen und Bildern unserer Führer und den Heldentaten der Roten Armee und den Aufmärschen und der ewigen Hetze gegen die Amerikaner und den Westen. Natürlich war ich da auch an irgendeinem Punkt gehirngewaschen, aber ich hätte mich durchaus auch mit dem System auseinandersetzen können!“
„Hufeisen!“, schrie Bernd dazwischen, „… das kann man gar nicht vergleichen. Hohenschönhausen war vielleicht alles andere als 'schön Hausen', aber es wurden da keine Leute umgebracht!“ „Nein“, erklärte Guido, „umgebracht wurde da niemand. Seelisch gebrochen aber schon. Der eine oder andere hat sich schließlich auch umgebracht. Und dafür trage ich eine Mitverantwortung.“ „Wie Du schon sagst: Du bist eben so aufgewachsen, ich denke nicht, dass man Dir da einen Vorwurf machen kann. Oder höchstens den, dass Du Dir nicht über die Folgen im klaren warst“, tröstete Susanne Heiko. Doch der schüttelte energisch den Kopf: „Doch, ich wusste ziemlich genau, was passiert, ich war sehr gut informiert, ich habe Leute verhört, erpresst, gemeldet, verfolgt, mir ist die ganze Palette meiner Arbeit bewusst und bekannt. Ich kann mich da nicht ´rausreden!“
Ich bin dann auch gegangen
Und da explodierte dann plötzlich Dietmar, der Widerstandskämpfer, der eigentlich tot sein müsste: „Ich dulde es nicht, dass hier über die DDR so geredet wird, als sei sie das faschistische Deutschland gewesen. In der DDR mag nicht alles gut gewesen sein, aber das war es in der alten Bundesrepublik auch nicht. Sicher war die Stasi kein Gesangsverein, aber es war auch nicht die Gestapo oder die SS. Wenn Du…“, er deutete dabei auf den sichtlich angespannten Heiko, „… wenn Du also hier sitzt und Dir vor die Brust klopfst, dann ist das nur Wasser auf die Mühlen aller Rechtspopulisten und deren Hetze gegen die demokratische Gesellschaft. Man muss die DDR im Kontext des Kalten Krieges betrachten, Du hattest doch letztlich überhaupt keine Wahl …“
„Doch, hätte ich vielleicht schon gehabt …“, rief Heiko dazwischen, aber Dietmar machte eine wegwischende Handbewegung, „quatsch mir nicht dazwischen, Heiko. Die Frage stellt sich nicht mehr, Vergangenheit ist Vergangenheit und Du bist ein feiner Kerl und an irgendeinem Punkt Opfer der Umstände. Du gerierst Dich hier als Mittäter …“, „der ich war …“, rief Heiko abermals dazwischen, „nein, Du hast nur Deine Pflicht gegenüber Deinem Staat erfüllt, das hätte jeder hier am Tisch gemacht, also tu jetzt nicht so, als wäre die Stasi das abgrundtief Böse gewesen. Das kann man überhaupt nicht vergleichen! Und jetzt will ich kein Wort mehr darüber hören, sonst gehe ich!“
Ich traute mich dann nichts mehr zu sagen, denn exakt diese Argumentation kannte ich schon von den Nazi-Schergen und ihren Verteidigern, von Nürnberg bis Tel Aviv, aber als soziales Wesen war ich zu feige, dem Dietmar, dem Hitler-Mörder, das vorzutragen. Ich bin dann auch gegangen, weil ich die ganze Gesellschaft ziemlich schräg fand. Und reuiger „feiner Kerl“ hin oder her: Mit Ex-Stasi-Bütteln will ich ebenso wenig wie mit Rechtsextremen zu tun haben, ich war als Wessi seinerzeit schon mit den arroganten Grenzkontrollen in Ost-Berlin restlos bedient.
Aber so kam es, dass Heiko, der Stasi-Denunziant, der seine Mitbürger bewusst ins Gefängnis und ans Messer des Staatssicherheitsdienstes der Deutschen Demokratischen Republik geliefert hat, vollumfänglich durch die Merkelsche Gesellschaft rehabilitiert wurde. Denn immerhin war die DDR ja nicht so schlimm wie das Dritte Reich. Da muss man schon differenzieren. Und vergeben können …
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