Phil Mullan, Gastautor / 21.08.2020 / 16:00 / Foto: EPP / 11 / Seite ausdrucken

Der Neoliberalismus, das seltsame Wesen (3)

Von Phil Mullan.

Im ersten und zweiten Teil lasen Sie: Der Neoliberalismus war nie einfach eine ökonomische Lehre, sondern in erster Linie ein politisches Projekt. Die meisten Neoliberalen nahmen es hin, dass der Nationalstaat nicht einfach verschwinden würde. Stattdessen schlugen sie eine Art „Doppelregierung“ vor: Es würde sowohl nationales als auch supranationales Regieren geben. Aus ihrer Sicht „kulturelle“ Angelegenheiten würden nach wie vor auf nationaler Ebene geregelt werden, aber die Führung der Wirtschaft müsste von der Nation getrennt und auf Weltebene verfolgt werden. Dieses System galt ihnen als Möglichkeit, ihr Ziel zu realisieren: die Trennung der Politik von der Ökonomie.

Drei Sorgen motivierten die Architekten der Nachkriegsordnung in Europa. Die erste war die Furcht vor einem Wiedererstarken des Faschismus, vor internationalen Konflikten und letztlich einem weiteren Weltkrieg. Zweitens befürchteten sie den Zusammenbruch des Wirtschaftssystems, so wie er sich in den 1930er Jahren beinahe ereignet hatte. Und drittens hatten sie Angst vor der Macht der Massen, also den Menschen, die selbst die Dinge regeln könnten.

Gemischte Wirtschaft der Nachkriegszeit als Variante des Staatssozialismus

Die dritte motivierende Sorge hinter dem Globalismus ist die Angst vor den Massen. Die
politischen Eliten Westeuropas und Amerikas waren aus dem Zweiten Weltkrieg gekommen mit dem festen Willen, die soziale Unruhe der Jahre zwischen den Kriegen zu vermeiden. Der fast nahtlose Übergang in den Kalten Krieg sorgte dafür, dass diese beängstigende Erinnerung sehr relevant blieb. Die Sorge um den Klassenkonflikt war ein starker Faktor, nicht nur in der Erweiterung des Wohlfahrtsstaats, sondern auch für die Errichtung des neuen internationalen Regimes.

Globalisten betrachten „Ordnung“ welcher Art auch immer als notwendig, um die inhärente Unruhe innerhalb der Bevölkerung zu dämpfen. Sie interpretieren Geschichte, als würden normale Menschen autoritäre Ordnung und Sicherheit der Freiheit und Demokratie vorziehen. Daher, so meinten sie, war es das Nichtvorhandensein von internationaler Ordnung in der Zwischenkriegszeit, die Mussolini, Hitler, Franco und Stalin zu Macht verhalf.

So schrieb der amerikanische Experte für internationale Beziehungen, Robert Kagan, wenn die USA 1919 das getan hätten, was sie 1945 taten – eine liberale Weltordnung gründen – hätten wir vielleicht nie den Hitler unserer Geschichtsbücher kennengelernt (1). Neoliberale Globalisten wie Hayek hatten keine Differenzen mit Keynesianern über das Niveau der Staatsintervention. Ihre Opposition kam vielmehr daher, dass sie die
keynesianische Staatspolitik mit Sozialismus und den unruhigen Massen assoziierten. Sie betrachteten die gemischte Wirtschaft der Nachkriegszeit als eine Variante des von ihnen so gehassten Staatssozialismus. Sie hatten nichts gegen die Aktivität des Staates als solche, sondern waren deutlich besorgter über den Einfluss des Marxismus und der Sowjetunion sowie des nationalsozialistischen Faschismus, vor dem viele von ihnen geflohen waren.

Trennung von „emotionalen Forderungen der ungebildeten Massen“

Die Ablehnung dieser Art von Staatskontrolle verstärkte ihren Skeptizismus und bei manchen sogar Hass gegenüber der Massendemokratie. Die amerikanische Politologin Wendy Brown schrieb, dass die ursprünglichen Neoliberalen aus der Zwischenkriegszeit subjektiv nicht antidemokratisch waren. Aber ihr Anliegen, die Politik getrennt von der Wirtschaft zu halten, wurde zu einem breiteren Bedürfnis, die Politik von den „emotionalen Forderungen der ungebildeten Massen“ zu trennen (2).

Eine weitere Darstellung der Politik im Nachkriegseuropa stellt die Sache so dar:

„Der Schutz vor dem Druck der Öffentlichkeit und, etwas breiter gefasst, ein tiefes
Misstrauen gegenüber der Souveränität des Volks, lag nicht nur hinter dem Beginn der
europäischen Integration, sondern ganz allgemein hinter der Rekonstruktion Westeuropas nach dem 2. Weltkrieg ... beim ‚konstitutionellen Arrangement nach dem Krieg‘ ging es vor allem darum, die europäische Politik soweit wie möglich von den Idealen der parlamentarischen Souveränität zu entfernen und die Macht an nicht gewählte Organe zu delegieren, wie Verfassungsgerichte oder den Staatsapparat.“
(3)

„Demokratie“ oft etwas selbst-beweihräucherndes

Eine technokratische, anti-politische Vorgehensweise bei der internationalen Koordination nach dem Zweiten Weltkrieg entsprach auch den Vorstellungen der USA. Statt einer „Liga“, die auf dem vermeintlich gemeinsamen Glauben an zivilisierte Werte beruhte, betonten die USA die Vorteile gemeinsamer wissenschaftlicher und technischer Expertise. Aufbauend auf der Arbeit der technischen Dienste des Völkerbunds wollten die Amerikaner eine dauerhafte, auf Regeln basierte Maschinerie. Diese ging weit über das Thema Sicherheit in die Bereiche der Wirtschafts-, Wohlfahrts- und Sozialpolitik hinaus.

Zumindest in den angloamerikanischen Diskussionen bewahrten die neu gegründeten
Organisationen den idealistischen Wunsch, der Demokratie zu dienen. Doch von Anfang an war klar, dass kleinere Nationen und der Demos im Allgemeinen wenig über die Vorgehensweise dieser Organisationen zu sagen hatten. Von allen Mitgliedern der Vereinten Nationen wurde erwartet, dass sie die Entscheidungen des Sicherheitsrats, der von den großen fünf Nationen (die USA, das Vereinigte Königreich, die Sowjetunion, China und Frankreich) befolgten. Das gleiche wurde selbst von Nicht-Mitgliedern erwartet.

Gleichzeitig hatte die Verwendung des Begriffs „Demokratie“ für die herrschenden Mächte oft etwas selbst-beweihräucherndes. So meinte nach dem Zweiten Weltkrieg die britische Regierung, der Kolonialismus sei „als praktisches Beispiel einer lernenden Demokratie“ durchaus gerechtfertigt. Anders als die weitverbreitete Auffassung, dass die neuen Vereinten Nationen die universelle Selbstbestimmung achteten, war in der Charta der UN von einer klaren Verpflichtung zur Gewährung vollständiger Unabhängigkeit der Kolonien keine Rede.

Stattdessen verpflichtete die Charta die Kolonialmächte lediglich „bis zum äußersten“, die Interessen und das Wohl der Einwohner dieser Kolonien zu fördern, die nun als „nicht sich selbst regierende Territorien“ bezeichnet wurden.

Das Risiko der Demokratie sei, dass sie zum Sozialismus führen könne

Die politische Elite der USA, die gerne über ihr „evolutionäres“ Verständnis der
Selbstbestimmung sprach, hatte auch einen sehr qualifizierten Begriff von Demokratie. In den 1950er Jahren erklärte der Staatssekretär von Präsident Eisenhower, John Foster Dulles, dass die USA die nationale politische Unabhängigkeit nur unterstützten, wenn ein Volk bewiesen habe, dass es „zivilisiert“ genug sei. Sie müssten „fähig“ sein, die Unabhängigkeit zu erhalten und ihre nationalen Pflichten gemäß den „akzeptierten
Standards zivilisierter Nationen“ zu erfüllen. Was akzeptiert war, bestimmte seinerzeit
natürlich die amerikanische Regierung und nicht die Menschen in jenen Ländern.

Diese anti-demokratische Auffassung wurde auf einer US-Konferenz im Jahre 1958 über die Voraussetzungen der afrikanischen Unabhängigkeit zum Ausdruck gebracht. Kein Afrikaner war anwesend. Die Organisatoren gingen einfach davon aus, dass Afrikaner schlecht gebildet und daher vermutlich engstirnig seien, ganz anders also als die wissenschaftlich motivierten westlichen Experten.

Wie Slobodian in seinem Buch feststellte, war Tumlir sogar noch explizierter in seiner Furcht vor den Massen. Er sagte, die internationale Wirtschaftsordnung „schütze den Weltmarkt“ vor populärem Druck. Als er noch Chefökonom der Gatt war, erklärte er, wann immer man Demokratie habe, habe man auch die Möglichkeit, dass die Massen den Staat erobern. Dann höre der Staat auf „und wird zu einer Arena für den Gladiatorenkampf organisierter Interessen“. Das große Risiko der Demokratie sei, dass sie zum Sozialismus führen könne (4).

Das konstitutionelle Problem, so Tumlir, sei, dass demokratische Regierungen gegen die Lebensinteressen ihrer eigenen Gesellschaften verstoßen könnten. Daher sei eine formelle Konstitution erforderlich, um die politische Diskussion zu „strukturieren“ oder zu „begrenzen“. Später hat die Weltbank auf das, was sie als die „inhärenten Gefahren“ größerer Offenheit und Partizipation beschrieb, hingewiesen. Erweiterte Möglichkeiten der öffentlichen Partizipation erhöhten die Forderungen an den Staat. Das, so schrieb die Bank, könne das Risiko des Zusammenbruchs oder der Eroberung des Staats durch lautstarke Interessensgruppen erhöhen.

„Wir mussten es tun; es gibt keine Alternative.“

Tumlir fasste die Argumente für regelbasierte Systeme folgendermaßen zusammen:
„Internationale Regeln schützen die Welt vor Regierungen“ (5). Die Regeln, die von
internationalen Eliten geschaffen werden, erkennen die Interessen einer nationalen
Gesellschaft offenbar besser, als ihre eigenen Menschen. Regeln legen Regierungen nicht
nur Grenzen dessen auf, was sie tun können – sie legitimieren auch die Weigerung, mit ihren Menschen politisch zu debattieren.

Ähnlich hat auch die Weltbank auf die Rolle internationaler Institutionen bei der Überwachung internationaler Verpflichtungen nationaler Regierungen hingewiesen. Diese
externen Verpflichtungen machen es Regierungen schwer, unpopuläre Reformen angesichts öffentlichen Drucks wieder zurückzunehmen.

Regeln und Demokratie passen daher schlecht zusammen. Regeln werden eingesetzt, um
die Behauptung, es gebe keine Alternative (There is No Alternative – TINA), zu unterstützen. Es macht keinen Sinn über Alternativen zu sprechen, denn wir haben ja Regeln zu befolgen. Tumlir erklärte auch, dass internationale Regeln nationale Politiker vor internem Druck schützen: „Die internationale Wirtschaftsordnung [könnte auch] als ein zusätzliches Mittel zum Schutz der nationalen Souveränität vor interner Erosion dienen.“

In dieser Orwellschen Formulierung bedeutet „Schutz nationaler Souveränität“ das genaue Gegenteil. Es bedeutet den Schutz des nationalen politischen Establishments vor den Wünschen des Volks. In einer noch institutionalisierteren Ordnung können Politiker auf die Interessen der Weltwirtschaft oder die „Globalisierung“, die EU oder die WTO hinweisen, um ihr Handeln zu rechtfertigen. Es ist bequem für nationale Politiker, einen supranationalen Herrn zu haben, auf den sie hinwiesen und sagen können: „Wir mussten es tun; es gibt keine Alternative.“

Hayek war einer Expansion demokratischer Rechte um die ganze Welt abgeneigt

So lehnte während der Euro-Krise 2015 die Mehrheit der griechischen Wähler die
Bestimmungen des Rettungsschirms, die in Brüssel und Berlin formuliert worden waren, ab. Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble formulierte den globalistischen Glauben so: „Wahlen ändern nichts. Es gibt Regeln.“

Es ist kein Zufall, dass Hayeks Argument gegen den „minimalen Staat“ in „Recht, Gesetz
und Freiheit“ zusammen mit einer ausführlichen Kritik der Demokratie erschien. Hayek
kritisierte insbesondere, was er als „unbeschränkte, unbegrenzte“ repräsentative Demokratie beschrieb, die nur zu einer dummen und schädlichen Wirtschaftspolitik führe. Diese Schlussfolgerung beruhte auf seiner Leugnung der Möglichkeit wirtschaftlicher Kontrolle, die zu einer weiteren Leugnung führte: Menschen können nicht die Herren ihrer eigenen Zukunft sein.

Hayek war repräsentativ für den neoliberalen Globalismus, als er feststellte, dass die
Beschränkung der politischen Freiheit, darunter auch der demokratischen Rechte, manchmal notwendig war, um die politische Freiheit zu erhalten. Hayek glaube, dass „Demokratie den Besen starker Regierungen braucht“ und dachte, dass Demokratien Regierungen „zu viel Macht“ geben könnten. Daher erklärte er, er sei immer sehr darauf bedacht gewesen, zwischen „beschränkten“ und „unbeschränkten Demokratien“ zu unterscheiden. Und er zog stets die beschränkte Variante vor.

Daher brachte er sein Leben lang, und insbesondere nach 1945, zunehmendes Vertrauen in das – sowohl nationale wie auch internationale – Recht zum Ausdruck. Hayek unterschied zwischen der positiven Rolle, die das „Recht“ spielen sollte und den Gefahren eines „legislativen Staats“. Er war daher einer Expansion demokratischer Rechte um die ganze Welt abgeneigt, da sie die Möglichkeit staatlicher Intervention durch Gesetzgebung
beinhaltete. Dies betrachtete er als schädlich für seine bevorzugte Trennung von Wirtschaft und Politik.

Die globalistische und oft neoliberale Elite stört die Demokratie am meisten

Heute gilt es weithin als selbstverständlich, insbesondere unter Europäern, dass
supranationales Recht das Recht der nationalen Gerichte überstimmen kann. Das wird durch die Maßnahmen des Europäischen Gerichtshofs der EU veranschaulicht. Doch diese anti-demokratische Tendenz bedeutet nicht, dass Globalisten stets die Rolle nationaler Gerichte herunterspielen. Im Gegenteil erkennen viele, dass nationale Gerichte gegenüber internationalen den Vorteil größerer scheinbarer Legitimität besitzen. In der Praxis gelten die nationalen Richter auch als verlässlicher in der Durchsetzung internationalen Rechts als demokratische Regierungen.

Dies ist ein Hinweis darauf, dass für Globalisten die Herabsetzung der Politik durch das Recht sogar noch größere Bedeutung hat als die Forderung nach Supranationalität als solche. Diese Art des Denkens bestätigt, dass die Skepsis der Globalisten gegenüber dem
Nationalstaat mehr von der Furcht vor seinem demokratischen Gehalt als vor seinen
massenpolitischen Aspekten geprägt ist. Die Globalisten fürchten den Nationalstaat nur,
soweit er ein Mechanismus für demokratische Macht ist. Die Leugnung der Wirksamkeit
nationalstaatlicher Politik ist zum großen Teil eine Leugnung der Wirksamkeit demokratischer Politik.

Der globalistische und neoliberale Angriff gegen der Nationalismus und die Souveränität ist in Wirklichkeit ein Angriff gegen die „unbegrenzte“ Macht des Volks, der Hayek so kritisch gegenüber stand. Neben ihrer Furcht vor einer Rückkehr internationaler Konflikte und wirtschaftlichen Zusammenbruchs ist, was die globalistische und oft neoliberale Elite
tagtäglich am meisten stört, die Demokratie. Es ist ihnen zuwider, wenn Menschen ihre
technokratischen Praktiken und Verfahren stören.

Die „Entthronung der Politik“

Diese drei Sorgen – vor internationalem Konflikt, kapitalistischem Zusammenbruch und
Misstrauen gegenüber dem Volk – machen Globalisten oft rabiat in ihrem Bestreben,
staatliche Institutionen zur Erhaltung und Stabilisierung der kapitalistischen Wirtschaftsbeziehungen zu nutzen. Die „liberalen“ Regeln des internationalen Finanzsystems wurden vor allem errichtet, um die Potenz internationaler Organisationen zu stärken und weniger um die Interventionen einzelner Regierungen zu beschränken.

Globalisten führen gerne nicht nur internationale, sondern auch nationale Institutionen, solange sie vor der demokratischen Rechenschaftspflicht geschützt sind. Globalisten und Neoliberale betonen auch heute noch ihren Glauben an den „freien Markt“ und den „freien Handel“. Aber die Freiheit, um die es ihnen geht, ist nicht die Freiheit von staatlicher Intervention, sondern die Freiheit vor dem Eingreifen der Politik. Schließlich bedeutet das nichts anderes als Freiheit von der Verantwortlichkeit gegenüber den Menschen. Die drei Ziele des Schutzes des Kapitalismus vor Krieg, vor Zusammenbruch und vor der Bevölkerung und schließlich vor einem Aufstand sind es, die den globalistischen Wunsch, die potentiell störenden Wirkungen der nationalen Demokratie auf den Markt zu zähmen.

Die Synthese dieser drei Befürchtungen steht hinter dem anti-politischen Kern des
neoliberalen Globalismus. Slobodian hat Recht, wenn er den Neoliberalismus weniger als
eine Theorie des Markts als eine des Rechts und des Staates beschreibt. Neoliberaler
Globalismus ist mehr ein politisches Projekt als ein wirtschaftliches. Hayeks bedeutendster
Beitrag zum Neoliberalismus war nicht seine romantische Anhänglichkeit an den freien
Markt. Es waren seine Ideen über das, was er als „Entthronung der Politik“ bezeichnete.

„Geldpolitik ist eine ernste Sache. Wir sollten dies im Geheimen diskutieren.“

Die Ironie besteht darin, dass das neoliberale Projekt der „Entpolitisierung der Wirtschaft“ selbst ein politisches Programm ist. Letztlich findet es seinen Ausdruck darin, dass es den Kapitalismus vor demokratischen Einflüssen zu schützen sucht. Schon 1932 hatte Walter Eucken, der Vater des deutschen Ordoliberalismus, was er als „Demokratisierung der Welt“ bezeichnete, denunziert, indem er auf die Massen, die durch „allgemeine“ (obwohl damals noch überwiegend auf Männer beschränkte) Wahlen in die Politik kamen, hinwies.

Fast 50 Jahre später, nach seinem Besuch in Pinochets Chile, war Hayek genauso explizit in seiner Verachtung für die Demokratie. In einem Interview mit der chilenischen Zeitung El Mercurio sagte er, er sei „völlig gegen Diktaturen“ als langfristige Institutionen, „aber manchmal ist es erforderlich für ein Land, eine Zeitlang eine Form von […] diktatorischer Macht zu haben“. „Persönlich“, sagte er, „ziehe ich einen liberalen Diktator einer demokratischen Regierung vor, der es an Liberalismus mangelt“ (6).

Das war also die globalistische Philosophie: dass man keine politische Freiheit ohne wirtschaftliche Freiheit haben kann, aber durchaus wirtschaftliche Freiheit ohne politische.
Ein Vierteljahrhundert später, im Jahre 2015, brachte Jan-Claude Juncker, der Präsident der Europäischen Kommission, die gleiche autoritäre Botschaft zum Ausdruck: „Es gibt keine demokratische Wahl gegen die europäischen Verträge.“ (7) 

Das war kein Versprecher. Einige Jahre zuvor erklärte Juncker als Führer der Eurogruppe der Finanzminister: „Geldpolitik ist eine ernste Sache. Wir sollten dies im Geheimen diskutieren.“ Er fuhr fort: „Es macht mir nichts aus, als nicht demokratisch genug bezeichnet zu werden, denn ich möchte ernsthaft sein […]. ich bin für geheime, dunkle Debatten.“ Es ist also gar nicht so weit von Pinochets chilenischer Diktatur in den 1980er Jahren bis zu den anti-demokratischen Impulsen der EU-Bürokratie im 21. Jahrhundert.

Teil 1 finden Sie hier.

Teil 2 finden Sie hier.

Dieser Beitrag ist zuerst beim britischen Novo-Partnermagazin Spiked erschienen.
Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Reul.

Phil Mullan ist Schriftsteller und Ökonom, der zu wirtschaftlichen und demografischen Themen forscht, schreibt und Vorträge hält. Derzeit arbeitet Mullan selbständig, nachdem er acht Jahre in leitenden Managementpositionen bei „Easynet Global Services“ tätig war, einem internationalen Unternehmen für Kommunikationsdienstleistungen. Zuvor war er Geschäftsführer des Internet-Dienstleistungs- und Schulungsunternehmens „Cybercafé Ltd“.

Mehr von Phil Mullan lesen Sie im aktuellen Buch „Die Zombiewirtschaft - Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind“ von Alexander Horn, Phil Mullan und Michael von Prollius.

Weitere Quellen

(1) Robert Kagan: „The Jungle Grows Back: America and Our Imperiled World”, Alfred A. Knopf 2018, S. 144f.

(2) „‚Who is not a neoliberal today?’’, Interview mit Wendy Brown, Tocqueville 21, 18.01.2018.

(3) Jan-Werner Müller: „Beyond Militant Democracy” in: New Left Review 73, 2012.

(4) Quinn Slobodian: „Globalists: The End of Empire and the Birth of Neoliberalism”, Harvard University Press 2018, S. 251f.

(5) Jan Tumlir: „International Economic Order and Democratic Constitutionalism’ in: Ordo 34, 1983, S. 72, 77.

(6) „Friedrich Hayek: An interview”, El Mercurio, 12.04.1981.

(7) ‚Pas question de supprimer la dette Grecque’ in: Le Figaro, 28.01.2015.

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Leserpost

netiquette:

Lutz Serwuschok / 21.08.2020

Aua. Stoff zum Nachdenken und-lesen. Hier für mich KR Popper. Danke sehr für die unbestellte Nachhilfe.

Rolf Menzen / 21.08.2020

Demokratie ist nicht unbedingt das Nonplusultra. Sie kann halt auch bedeuten, dass zwei Wölfe und ein Schaf über’s Abendessen abstimmen. Und Parteiendemokratie wie in ‘Schland bewegt sich immer mehr in Richtung Feudalsystem. Letztendlich ist der Rechtsstaat wichtiger. Würde mich freuen, mal die Meinung eines Liberalen zu dieser Artikelserie zu lesen.

Marcel Seiler / 21.08.2020

Autor Mullan scheint von den Befürchtungen der Ordoliberalen vor der zerstörerischen Macht dummer demokratischer Regierungen nichts zu halten. Doch die Ordoliberalen hatten recht. Man sieht es an den populistischen Regierungen Lateinamerikas, durch die der Halbkontinent auf keinen grünen Zweig kommt. Als Höhepunkt Chávez’, mehrfach demokratisch gewählt(!), Zerstörung Venezuelas. Man sieht es umgekehrt am wirtschaftlichen Aufschwung Westeuropas nach 1945 und dem Auszug Südost- und Ostasiens aus der Armut. Und Afrikas Entkolonisierung hat gezeigt, dass politische Eigenständigkeit bei einer dazu unfähigen Bevölkerung ein Rezept fürs Desaster ist. Übrigens ist auch das Todesurteil des Sokrates demokratisch zu Stande gekommen.

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