Phil Mullan, Gastautor / 20.08.2020 / 16:00 / Foto: Pixabay / 3 / Seite ausdrucken

Der Neoliberalismus, das rätselhafte Wesen (2)

Von Phil Mullan.

Im ersten Teil lasen Sie: Der Neoliberalismus war nie einfach eine ökonomische Lehre, sondern in erster Linie ein politisches Projekt. Die meisten Neoliberalen nahmen es hin, dass der Nationalstaat nicht einfach verschwinden würde. Stattdessen schlugen sie eine Art „Doppelregierung“ vor: Es würde sowohl nationales als auch supranationales Regieren geben. Aus ihrer Sicht „kulturelle“ Angelegenheiten würden nach wie vor auf nationaler Ebene geregelt werden, aber die Führung der Wirtschaft müsste von der Nation getrennt und auf Weltebene verfolgt werden.

Dieses System galt ihnen als Möglichkeit, ihr Ziel zu realisieren: die Trennung der Politik von der Ökonomie. Drei Sorgen motivierten die Architekten der Nachkriegsordnung in Europa. Die erste war die Furcht vor einem Wiedererstarken des Faschismus, vor internationalen Konflikten und letztlich einem weiteren Weltkrieg. Zweitens befürchteten sie den Zusammenbruch des Wirtschaftssystems, so wie er sich in den 1930er Jahren beinahe ereignet hatte. Und drittens hatten sie Angst vor der Macht der Massen, also den Menschen, die selbst die Dinge regeln könnten.

Die Wirtschaft braucht die Unterstützung des Staats

Die Angst vor einem kapitalistischen Zusammenbruch war die zweite motivierende Sorge,
die die Entwicklung des Nationalstaats nach dem Zweiten Weltkrieg prägte. Die wirtschaftliche Krise der 1930er Jahre hatte Hayek und seine österreichischen Kollegen
genauso erschüttert wie John Maynard Keynes und seine Anhänger in der Mitte der
intellektuellen Landschaft. Hayek und Keynes beschritten einfach andere Wege, um den
Kapitalismus zu retten.

Aber die Wege waren gar nicht so unterschiedlich, wie das berühmte Walter Lippmann Colloquium 1938 in Paris zeigen sollte. Hier prägten von Mises, Hayek und andere den Begriff „Neoliberalismus“ für ihr Konzept. Walter Lippmann, ein einflussreicher amerikanischer Journalist, der zuvor Direktor von Präsident Woodrow Wilsons Great War Board gewesen war, stellte die persönliche Verbindung zur kommenden internationalen Ordnung dar.

Das Kolloquium verkörperte die gleichen Ideen, die auch Keynes bereits in seiner Ablehnung der Gedanken des Laissez-faire des 19. Jahrhunderts geprägt hatte. Das Ziel war nicht nur, den Staat zu begrenzen, sondern die Art Staat zu entwickeln, der notwendig war, um den Zusammenbruch des Markts zu verhindern. Zahlreiche Teilnehmer der Konferenz waren sich einig, dass der sich selbst regulierende Markt ein Mythos sei, und wussten aus bitterer Erfahrung, dass ein sich selbst korrigierender Markt nicht funktionierte.

Die Wirtschaft brauchte daher die Unterstützung des Staats. Schon von Beginn an war die Idee einer wirtschaftlichen Rolle des Staats über die Funktion des „Nachtwächters“ hinaus, ein prägender Bestandteil des neoliberalen Denkens. Die heute populäre Fiktion, dass der globalistische Neoliberalismus „gegen“ den Staat sei, kann selektiv aus den Protokollen des Kolloquiums herausgelesen werden.

So kritisierten manche Teilnehmer heftig das, was man die „Illusion der Kontrolle“ nannte. Während die Neoliberalen wollten, dass der Staat den Kapitalismus erhalte, lehnten sie
staatssozialistische Vorschläge für eine Kontrolle der Wirtschaft durch eine übergeordnete „intelligente Autorität“ ab. Sie wiesen solche Ideen als sowohl naiv als auch schädlich ab.

Das Bedürfnis nach Regeln, die den Kapitalismus regeln sollten

Stattdessen sahen sie die Wirtschaft als ein Gebilde, das durch Millionen individueller
Reaktionen auf Preise bestimmt werde. Sie war, mit anderen Worten, viel zu komplex, um
durch einen Wirtschaftswissenschaftler oder eine zentrale Autorität begriffen zu werden und sei daher nicht zu kontrollieren.

Diese Betonung der „Komplexität“ war schon vor 1939 bemerkenswert und ist in den heutigen Globalisierungstheorien immer präsent. Dass sie schon vor dem Zweiten Weltkrieg verwendet wurde, zeigt, wie kurzsichtig die aktuellen Globalisten sind. Sie glauben, die Komplexität sei relativ neu und ein Ergebnis unserer globalisierten, sich schnell bewegenden Welt. Sie behaupten, ein neues Nachdenken über die Demokratie sei notwendig, da die alte Form der Steuerung nur in den einfacheren Zeiten vor den 1980ern möglich war. Wie wir aber gesehen haben, wurde die Idee der Komplexität schon lange genutzt, um die Beschränkung der Demokratie zu rechtfertigen.

In den 1930er Jahren gelangten die Neoliberalen zu der Schlussfolgerung, dass die
Wirtschaft zwar zu komplex sei, um kontrolliert zu werden, man sie aber dennoch wenigstens ordnen könne. Diese Ordnung würde nicht nur die internationale Kooperation festigen, sondern auch die destabilisierenden Tendenzen des Kapitalismus zähmen und einen kapitalistischen Zusammenbruch verhindern. Daher kam das Bedürfnis nach Regeln, die den Kapitalismus regeln sollten. Man argumentierte, damit der Markt seine Disziplin ausüben könne, müsse er durch ein „außerökonomisches Rahmenwerk“ geschützt werden – in Form einer rechtlichen, verfassungsmäßigen und regulatorischen Struktur.


Nach 1945 war der größte amerikanische Erfolg die Wiederbelebung des Kapitalismus nach der wirtschaftlichen Depression und Kriege. Der IWF und die Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (heute die Weltbank) begannen den Prozess der Restrukturierung des Kapitalismus in Westeuropa und Japan. Unter dem zusätzlichen Druck des beginnenden Kalten Krieges nahmen die USA direkte Verantwortung für die Beschleunigung des kapitalistischen Wiederaufbaus.

Japan wurde unter sehr wirksamer amerikanischer Besatzung, unter der Führung von
General Douglas MacArthur, wieder aufgebaut. Und für den europäischen Wiederaufbau
setzten die USA 1947 den Marshall Plan ein. Wie diese Interventionen des amerikanischen Staats zeigen, wurden internationale wirtschaftliche Aktivitäten nicht ohne Bezug auf den Nationalstaat durchgeführt. Weit gefehlt: internationale Organisationen und Nationalstaaten arbeiteten gemeinsam. Die Entscheidungen, die auf supranationaler Ebene gefällt wurden, verließen sich bei der Umsetzung auf Nationalstaaten.

Diese Beziehung zwischen dem Staat und dem internationalen Kapitalismus wurde als
„eingebetteter Liberalismus“ begrifflich gefasst. Er wurde in den frühen 1980er Jahren durch den Politologen John Ruggie geprägt, um den internationalen Ausdruck der keynesianischen „gemischten“ Wirtschaft zu beschreiben. Die Nationalregierungen der Nachkriegszeit, die in diesen internationalen Vereinigungen tätig waren, wurden nicht davon abgehalten zu handeln. Im Gegenteil: sie mussten es tun.

Es wurde von ihnen sogar erwartet, dass sie erheblich größere Verantwortung für die
Marktstabilität und das Wachstum nehmen sollten als vor dem Krieg. Zum Beispiel wurde
von den Nationen, die dem Bretton Woods System beitraten, verlangt, dass sie den neuen multilateralen Regeln von festen, aber anpassungsfähigen Wechselkursen beitraten. Außerdem sollten sie ihre eigenen Wirtschaften durch staatlichen Interventionismus stützen.

Anfangs versöhnte das neue internationale Regime multilaterale wirtschaftliche Maßnahmen mit nationaler staatlicher Intervention (1). Im Gegensatz zur aktuellen Verunglimpfung des Nationalstaats wurden damals internationale und nationale staatliche Interventionen nicht als Gegensätze aufgefasst.

Lesen Sie morgen: Im dritten Teil geht es um die Furcht der Architekten der Nachkriegsordnung vor der Macht der Massen, dass also die Menschen selbst die Dinge regeln könnten.

Teil 1 finden Sie hier.

Dieser Beitrag ist zuerst beim britischen Novo-Partnermagazin Spiked erschienen.

Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Reul.

Phil Mullan ist Schriftsteller und Ökonom, der zu wirtschaftlichen und demografischen Themen forscht, schreibt und Vorträge hält. Derzeit arbeitet Mullan selbständig, nachdem er acht Jahre in leitenden Managementpositionen bei „Easynet Global Services“ tätig war, einem internationalen Unternehmen für Kommunikationsdienstleistungen. Zuvor war er Geschäftsführer des Internet-Dienstleistungs- und Schulungsunternehmens „Cybercafé Ltd“.

Mehr von Phil Mullan lesen Sie im aktuellen Buch „Die Zombiewirtschaft - Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind“ von Alexander Horn, Phil Mullan und Michael von Prollius.

Weitere Quelle

(1) John Ruggie: „International Regimes, Transactions, and Change: Embedded Liberalism in the Postwar Economic Order” in: International Organization 36/2, Frühjahr 1982, S. 393.

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Ralf Pöhling / 20.08.2020

Zitat:“Es würde sowohl nationales als auch supranationales Regieren geben. Aus ihrer Sicht „kulturelle“ Angelegenheiten würden nach wie vor auf nationaler Ebene geregelt werden, aber die Führung der Wirtschaft müsste von der Nation getrennt und auf Weltebene verfolgt werden. ” Und genau hier ist das entscheidende Problem, was in den letzten Jahren von den global aktiven Kräften einfach vollkommen ignoriert worden ist. Wenn ich die Nationalstaaten mit ihren Grenzen auflöse und so alle Kulturen ineinander fließen lasse, entfällt das schützende Biotop der individuellen Völker und lässt sämtliche unterschiedliche Wertvorstellungen und damit sämtliches Konfliktpotential auf diesem Planeten einfach ineinander fließen, was nicht zur globalen Befriedung führt, sondern zum nächsten globalen Krieg, der ja eigentlich durch die ursprünglich anvisierten Maßnahmen verhindert werden sollte. Globaler Handel kann nach unseren Vorstellungen von Menschenrechten nur Warenhandel zwischen den Nationen und nicht Menschenhandel auf interkontinentalem Niveau bzw. den Ausverkauf der individuellen Kulturen bedeuten. Die Auflösung der Nationalstaaten und die in voller Absicht forcierten Migrationsbewegungen zwischen den Kontinenten führen deshalb de facto nicht nur zu globalem Völkermord, bei dem am Schluss der Stärkste gewinnen wird, es unterminiert auch die eigentlich anvisierte Trennung von Nationalstaat und Wirtschaft, denn die unterschiedlichen geografischen Bedingungen sind die Grundlage unterschiedlicher Kulturen und damit unterschiedlicher Wirtschaftsleistung.  Wir haben es in den letzten Jahren also eigentlich nicht mit dem gescholtenen Neoliberalismus, sondern durch den forcierten Wegfall der Nationalstaaten und die künstlich forcierte Migration mit einer wüsten Mischung aus globalem Sozialismus und dem berühmten Clash of Civilizations zu tun, der unweigerlich im Krieg enden muss. Also das genaue Gegenteil von dem, was ursprünglich bezweckt werden sollte.

Ralf Berzborn / 20.08.2020

Der wirklich entscheidende Beitrag wird wohl erst morgen die Aussichtslosigkeit offen legen ,  der bisher noch immer alle gutgedachten ökonomischen Varianten und Systeme zum Opfer gefallen sind : der Faktor Mensch mit all seinen Unzulänglichkeiten , und das Ganze diesmal zu allem Übel auch noch im freien globalen Heuschreckenschwarmmodus , ohne Perspektive auf einen wirksamen Schutz durch nationale Regierungsmaßnahmen . Die Einhaltung eines gesunden und rechten Maßes , war noch nie über einen längeren Zeitraum zu vermitteln und einzuhalten , und in Zeiten von regionaler Überbevölkerung sowie offenen Grenzen , nutzt die beste auch globale Ökonomie maximal von Zwölf bis Mittag .

Thomas Holzer, Österreich / 20.08.2020

Regeln, Gesetze ok! Aber bitte doch nicht das, was derzeit nahezu im Stundentakt verabschiedet wird. Die Politiker erdreisten sich ja mittlerweile, alles und jedes ex lege zu reglementieren, “Dank” der unsäglichen Behauptung, die Demokratie muss alle Lebensbereiche durchdringen. So wird das sicherlich nichts

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Phil Mullan, Gastautor / 21.08.2020 / 16:00 / 11

Der Neoliberalismus, das seltsame Wesen (3)

Von Phil Mullan. Im ersten und zweiten Teil lasen Sie: Der Neoliberalismus war nie einfach eine ökonomische Lehre, sondern in erster Linie ein politisches Projekt.…/ mehr

Phil Mullan, Gastautor / 19.08.2020 / 16:00 / 9

Der Neoliberalismus, das rätselhafte Wesen (1)

Von Phil Mullan. „Neoliberalimus“ wird heute meist als Schimpfwort für das gebraucht, was einigen Linken am Kapitalismus nicht gefällt. So werden alle widersprüchlichen Phänomene des…/ mehr

Phil Mullan, Gastautor / 10.08.2020 / 10:00 / 15

Globalismus (3): Die Angst vor den Menschen

Von Phil Mullan. Im zweiten Teil lasen Sie: In der römischen Republik verlangte die Herrschaft des Rechts, dass alle Personen, einschließlich der Regierungsvertreter, die Gesetze…/ mehr

Phil Mullan, Gastautor / 09.08.2020 / 15:00 / 4

Globalismus (2): Die wandelbare „Herrschaft des Rechts“

Von Phil Mullan. Im ersten Teil lasen Sie: Die heute dominierende globalistische Perspektive beharrt auf der bestehenden „regel-basierten internationalen Ordnung“, die nach dem Zweiten Weltkrieg…/ mehr

Phil Mullan, Gastautor / 08.08.2020 / 14:00 / 12

Globalismus (1): Der Mythos des Unvermeidbaren

Von Phil Mullan. Wir befinden uns in einer Zeit der Instabilität der Weltordnung. Manche sprechen schon von einem „Thukydides-Moment“, ein Hinweis auf die Geschichte des…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com