Von Phil Mullan.
Im ersten Teil lasen Sie: Der Neoliberalismus war nie einfach eine ökonomische Lehre, sondern in erster Linie ein politisches Projekt. Die meisten Neoliberalen nahmen es hin, dass der Nationalstaat nicht einfach verschwinden würde. Stattdessen schlugen sie eine Art „Doppelregierung“ vor: Es würde sowohl nationales als auch supranationales Regieren geben. Aus ihrer Sicht „kulturelle“ Angelegenheiten würden nach wie vor auf nationaler Ebene geregelt werden, aber die Führung der Wirtschaft müsste von der Nation getrennt und auf Weltebene verfolgt werden.
Dieses System galt ihnen als Möglichkeit, ihr Ziel zu realisieren: die Trennung der Politik von der Ökonomie. Drei Sorgen motivierten die Architekten der Nachkriegsordnung in Europa. Die erste war die Furcht vor einem Wiedererstarken des Faschismus, vor internationalen Konflikten und letztlich einem weiteren Weltkrieg. Zweitens befürchteten sie den Zusammenbruch des Wirtschaftssystems, so wie er sich in den 1930er Jahren beinahe ereignet hatte. Und drittens hatten sie Angst vor der Macht der Massen, also den Menschen, die selbst die Dinge regeln könnten.
Die Wirtschaft braucht die Unterstützung des Staats
Die Angst vor einem kapitalistischen Zusammenbruch war die zweite motivierende Sorge,
die die Entwicklung des Nationalstaats nach dem Zweiten Weltkrieg prägte. Die wirtschaftliche Krise der 1930er Jahre hatte Hayek und seine österreichischen Kollegen
genauso erschüttert wie John Maynard Keynes und seine Anhänger in der Mitte der
intellektuellen Landschaft. Hayek und Keynes beschritten einfach andere Wege, um den
Kapitalismus zu retten.
Aber die Wege waren gar nicht so unterschiedlich, wie das berühmte Walter Lippmann Colloquium 1938 in Paris zeigen sollte. Hier prägten von Mises, Hayek und andere den Begriff „Neoliberalismus“ für ihr Konzept. Walter Lippmann, ein einflussreicher amerikanischer Journalist, der zuvor Direktor von Präsident Woodrow Wilsons Great War Board gewesen war, stellte die persönliche Verbindung zur kommenden internationalen Ordnung dar.
Das Kolloquium verkörperte die gleichen Ideen, die auch Keynes bereits in seiner Ablehnung der Gedanken des Laissez-faire des 19. Jahrhunderts geprägt hatte. Das Ziel war nicht nur, den Staat zu begrenzen, sondern die Art Staat zu entwickeln, der notwendig war, um den Zusammenbruch des Markts zu verhindern. Zahlreiche Teilnehmer der Konferenz waren sich einig, dass der sich selbst regulierende Markt ein Mythos sei, und wussten aus bitterer Erfahrung, dass ein sich selbst korrigierender Markt nicht funktionierte.
Die Wirtschaft brauchte daher die Unterstützung des Staats. Schon von Beginn an war die Idee einer wirtschaftlichen Rolle des Staats über die Funktion des „Nachtwächters“ hinaus, ein prägender Bestandteil des neoliberalen Denkens. Die heute populäre Fiktion, dass der globalistische Neoliberalismus „gegen“ den Staat sei, kann selektiv aus den Protokollen des Kolloquiums herausgelesen werden.
So kritisierten manche Teilnehmer heftig das, was man die „Illusion der Kontrolle“ nannte. Während die Neoliberalen wollten, dass der Staat den Kapitalismus erhalte, lehnten sie
staatssozialistische Vorschläge für eine Kontrolle der Wirtschaft durch eine übergeordnete „intelligente Autorität“ ab. Sie wiesen solche Ideen als sowohl naiv als auch schädlich ab.
Das Bedürfnis nach Regeln, die den Kapitalismus regeln sollten
Stattdessen sahen sie die Wirtschaft als ein Gebilde, das durch Millionen individueller
Reaktionen auf Preise bestimmt werde. Sie war, mit anderen Worten, viel zu komplex, um
durch einen Wirtschaftswissenschaftler oder eine zentrale Autorität begriffen zu werden und sei daher nicht zu kontrollieren.
Diese Betonung der „Komplexität“ war schon vor 1939 bemerkenswert und ist in den heutigen Globalisierungstheorien immer präsent. Dass sie schon vor dem Zweiten Weltkrieg verwendet wurde, zeigt, wie kurzsichtig die aktuellen Globalisten sind. Sie glauben, die Komplexität sei relativ neu und ein Ergebnis unserer globalisierten, sich schnell bewegenden Welt. Sie behaupten, ein neues Nachdenken über die Demokratie sei notwendig, da die alte Form der Steuerung nur in den einfacheren Zeiten vor den 1980ern möglich war. Wie wir aber gesehen haben, wurde die Idee der Komplexität schon lange genutzt, um die Beschränkung der Demokratie zu rechtfertigen.
In den 1930er Jahren gelangten die Neoliberalen zu der Schlussfolgerung, dass die
Wirtschaft zwar zu komplex sei, um kontrolliert zu werden, man sie aber dennoch wenigstens ordnen könne. Diese Ordnung würde nicht nur die internationale Kooperation festigen, sondern auch die destabilisierenden Tendenzen des Kapitalismus zähmen und einen kapitalistischen Zusammenbruch verhindern. Daher kam das Bedürfnis nach Regeln, die den Kapitalismus regeln sollten. Man argumentierte, damit der Markt seine Disziplin ausüben könne, müsse er durch ein „außerökonomisches Rahmenwerk“ geschützt werden – in Form einer rechtlichen, verfassungsmäßigen und regulatorischen Struktur.
Nach 1945 war der größte amerikanische Erfolg die Wiederbelebung des Kapitalismus nach der wirtschaftlichen Depression und Kriege. Der IWF und die Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (heute die Weltbank) begannen den Prozess der Restrukturierung des Kapitalismus in Westeuropa und Japan. Unter dem zusätzlichen Druck des beginnenden Kalten Krieges nahmen die USA direkte Verantwortung für die Beschleunigung des kapitalistischen Wiederaufbaus.
Japan wurde unter sehr wirksamer amerikanischer Besatzung, unter der Führung von
General Douglas MacArthur, wieder aufgebaut. Und für den europäischen Wiederaufbau
setzten die USA 1947 den Marshall Plan ein. Wie diese Interventionen des amerikanischen Staats zeigen, wurden internationale wirtschaftliche Aktivitäten nicht ohne Bezug auf den Nationalstaat durchgeführt. Weit gefehlt: internationale Organisationen und Nationalstaaten arbeiteten gemeinsam. Die Entscheidungen, die auf supranationaler Ebene gefällt wurden, verließen sich bei der Umsetzung auf Nationalstaaten.
Diese Beziehung zwischen dem Staat und dem internationalen Kapitalismus wurde als
„eingebetteter Liberalismus“ begrifflich gefasst. Er wurde in den frühen 1980er Jahren durch den Politologen John Ruggie geprägt, um den internationalen Ausdruck der keynesianischen „gemischten“ Wirtschaft zu beschreiben. Die Nationalregierungen der Nachkriegszeit, die in diesen internationalen Vereinigungen tätig waren, wurden nicht davon abgehalten zu handeln. Im Gegenteil: sie mussten es tun.
Es wurde von ihnen sogar erwartet, dass sie erheblich größere Verantwortung für die
Marktstabilität und das Wachstum nehmen sollten als vor dem Krieg. Zum Beispiel wurde
von den Nationen, die dem Bretton Woods System beitraten, verlangt, dass sie den neuen multilateralen Regeln von festen, aber anpassungsfähigen Wechselkursen beitraten. Außerdem sollten sie ihre eigenen Wirtschaften durch staatlichen Interventionismus stützen.
Anfangs versöhnte das neue internationale Regime multilaterale wirtschaftliche Maßnahmen mit nationaler staatlicher Intervention (1). Im Gegensatz zur aktuellen Verunglimpfung des Nationalstaats wurden damals internationale und nationale staatliche Interventionen nicht als Gegensätze aufgefasst.
Lesen Sie morgen: Im dritten Teil geht es um die Furcht der Architekten der Nachkriegsordnung vor der Macht der Massen, dass also die Menschen selbst die Dinge regeln könnten.
Teil 1 finden Sie hier.
Dieser Beitrag ist zuerst beim britischen Novo-Partnermagazin Spiked erschienen.
Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Reul.
Phil Mullan ist Schriftsteller und Ökonom, der zu wirtschaftlichen und demografischen Themen forscht, schreibt und Vorträge hält. Derzeit arbeitet Mullan selbständig, nachdem er acht Jahre in leitenden Managementpositionen bei „Easynet Global Services“ tätig war, einem internationalen Unternehmen für Kommunikationsdienstleistungen. Zuvor war er Geschäftsführer des Internet-Dienstleistungs- und Schulungsunternehmens „Cybercafé Ltd“.
Mehr von Phil Mullan lesen Sie im aktuellen Buch „Die Zombiewirtschaft - Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind“ von Alexander Horn, Phil Mullan und Michael von Prollius.
Weitere Quelle
(1) John Ruggie: „International Regimes, Transactions, and Change: Embedded Liberalism in the Postwar Economic Order” in: International Organization 36/2, Frühjahr 1982, S. 393.