Phil Mullan, Gastautor / 21.08.2020 / 16:00 / Foto: EPP / 11 / Seite ausdrucken

Der Neoliberalismus, das seltsame Wesen (3)

Von Phil Mullan.

Im ersten und zweiten Teil lasen Sie: Der Neoliberalismus war nie einfach eine ökonomische Lehre, sondern in erster Linie ein politisches Projekt. Die meisten Neoliberalen nahmen es hin, dass der Nationalstaat nicht einfach verschwinden würde. Stattdessen schlugen sie eine Art „Doppelregierung“ vor: Es würde sowohl nationales als auch supranationales Regieren geben. Aus ihrer Sicht „kulturelle“ Angelegenheiten würden nach wie vor auf nationaler Ebene geregelt werden, aber die Führung der Wirtschaft müsste von der Nation getrennt und auf Weltebene verfolgt werden. Dieses System galt ihnen als Möglichkeit, ihr Ziel zu realisieren: die Trennung der Politik von der Ökonomie.

Drei Sorgen motivierten die Architekten der Nachkriegsordnung in Europa. Die erste war die Furcht vor einem Wiedererstarken des Faschismus, vor internationalen Konflikten und letztlich einem weiteren Weltkrieg. Zweitens befürchteten sie den Zusammenbruch des Wirtschaftssystems, so wie er sich in den 1930er Jahren beinahe ereignet hatte. Und drittens hatten sie Angst vor der Macht der Massen, also den Menschen, die selbst die Dinge regeln könnten.

Gemischte Wirtschaft der Nachkriegszeit als Variante des Staatssozialismus

Die dritte motivierende Sorge hinter dem Globalismus ist die Angst vor den Massen. Die
politischen Eliten Westeuropas und Amerikas waren aus dem Zweiten Weltkrieg gekommen mit dem festen Willen, die soziale Unruhe der Jahre zwischen den Kriegen zu vermeiden. Der fast nahtlose Übergang in den Kalten Krieg sorgte dafür, dass diese beängstigende Erinnerung sehr relevant blieb. Die Sorge um den Klassenkonflikt war ein starker Faktor, nicht nur in der Erweiterung des Wohlfahrtsstaats, sondern auch für die Errichtung des neuen internationalen Regimes.

Globalisten betrachten „Ordnung“ welcher Art auch immer als notwendig, um die inhärente Unruhe innerhalb der Bevölkerung zu dämpfen. Sie interpretieren Geschichte, als würden normale Menschen autoritäre Ordnung und Sicherheit der Freiheit und Demokratie vorziehen. Daher, so meinten sie, war es das Nichtvorhandensein von internationaler Ordnung in der Zwischenkriegszeit, die Mussolini, Hitler, Franco und Stalin zu Macht verhalf.

So schrieb der amerikanische Experte für internationale Beziehungen, Robert Kagan, wenn die USA 1919 das getan hätten, was sie 1945 taten – eine liberale Weltordnung gründen – hätten wir vielleicht nie den Hitler unserer Geschichtsbücher kennengelernt (1). Neoliberale Globalisten wie Hayek hatten keine Differenzen mit Keynesianern über das Niveau der Staatsintervention. Ihre Opposition kam vielmehr daher, dass sie die
keynesianische Staatspolitik mit Sozialismus und den unruhigen Massen assoziierten. Sie betrachteten die gemischte Wirtschaft der Nachkriegszeit als eine Variante des von ihnen so gehassten Staatssozialismus. Sie hatten nichts gegen die Aktivität des Staates als solche, sondern waren deutlich besorgter über den Einfluss des Marxismus und der Sowjetunion sowie des nationalsozialistischen Faschismus, vor dem viele von ihnen geflohen waren.

Trennung von „emotionalen Forderungen der ungebildeten Massen“

Die Ablehnung dieser Art von Staatskontrolle verstärkte ihren Skeptizismus und bei manchen sogar Hass gegenüber der Massendemokratie. Die amerikanische Politologin Wendy Brown schrieb, dass die ursprünglichen Neoliberalen aus der Zwischenkriegszeit subjektiv nicht antidemokratisch waren. Aber ihr Anliegen, die Politik getrennt von der Wirtschaft zu halten, wurde zu einem breiteren Bedürfnis, die Politik von den „emotionalen Forderungen der ungebildeten Massen“ zu trennen (2).

Eine weitere Darstellung der Politik im Nachkriegseuropa stellt die Sache so dar:

„Der Schutz vor dem Druck der Öffentlichkeit und, etwas breiter gefasst, ein tiefes
Misstrauen gegenüber der Souveränität des Volks, lag nicht nur hinter dem Beginn der
europäischen Integration, sondern ganz allgemein hinter der Rekonstruktion Westeuropas nach dem 2. Weltkrieg ... beim ‚konstitutionellen Arrangement nach dem Krieg‘ ging es vor allem darum, die europäische Politik soweit wie möglich von den Idealen der parlamentarischen Souveränität zu entfernen und die Macht an nicht gewählte Organe zu delegieren, wie Verfassungsgerichte oder den Staatsapparat.“
(3)

„Demokratie“ oft etwas selbst-beweihräucherndes

Eine technokratische, anti-politische Vorgehensweise bei der internationalen Koordination nach dem Zweiten Weltkrieg entsprach auch den Vorstellungen der USA. Statt einer „Liga“, die auf dem vermeintlich gemeinsamen Glauben an zivilisierte Werte beruhte, betonten die USA die Vorteile gemeinsamer wissenschaftlicher und technischer Expertise. Aufbauend auf der Arbeit der technischen Dienste des Völkerbunds wollten die Amerikaner eine dauerhafte, auf Regeln basierte Maschinerie. Diese ging weit über das Thema Sicherheit in die Bereiche der Wirtschafts-, Wohlfahrts- und Sozialpolitik hinaus.

Zumindest in den angloamerikanischen Diskussionen bewahrten die neu gegründeten
Organisationen den idealistischen Wunsch, der Demokratie zu dienen. Doch von Anfang an war klar, dass kleinere Nationen und der Demos im Allgemeinen wenig über die Vorgehensweise dieser Organisationen zu sagen hatten. Von allen Mitgliedern der Vereinten Nationen wurde erwartet, dass sie die Entscheidungen des Sicherheitsrats, der von den großen fünf Nationen (die USA, das Vereinigte Königreich, die Sowjetunion, China und Frankreich) befolgten. Das gleiche wurde selbst von Nicht-Mitgliedern erwartet.

Gleichzeitig hatte die Verwendung des Begriffs „Demokratie“ für die herrschenden Mächte oft etwas selbst-beweihräucherndes. So meinte nach dem Zweiten Weltkrieg die britische Regierung, der Kolonialismus sei „als praktisches Beispiel einer lernenden Demokratie“ durchaus gerechtfertigt. Anders als die weitverbreitete Auffassung, dass die neuen Vereinten Nationen die universelle Selbstbestimmung achteten, war in der Charta der UN von einer klaren Verpflichtung zur Gewährung vollständiger Unabhängigkeit der Kolonien keine Rede.

Stattdessen verpflichtete die Charta die Kolonialmächte lediglich „bis zum äußersten“, die Interessen und das Wohl der Einwohner dieser Kolonien zu fördern, die nun als „nicht sich selbst regierende Territorien“ bezeichnet wurden.

Das Risiko der Demokratie sei, dass sie zum Sozialismus führen könne

Die politische Elite der USA, die gerne über ihr „evolutionäres“ Verständnis der
Selbstbestimmung sprach, hatte auch einen sehr qualifizierten Begriff von Demokratie. In den 1950er Jahren erklärte der Staatssekretär von Präsident Eisenhower, John Foster Dulles, dass die USA die nationale politische Unabhängigkeit nur unterstützten, wenn ein Volk bewiesen habe, dass es „zivilisiert“ genug sei. Sie müssten „fähig“ sein, die Unabhängigkeit zu erhalten und ihre nationalen Pflichten gemäß den „akzeptierten
Standards zivilisierter Nationen“ zu erfüllen. Was akzeptiert war, bestimmte seinerzeit
natürlich die amerikanische Regierung und nicht die Menschen in jenen Ländern.

Diese anti-demokratische Auffassung wurde auf einer US-Konferenz im Jahre 1958 über die Voraussetzungen der afrikanischen Unabhängigkeit zum Ausdruck gebracht. Kein Afrikaner war anwesend. Die Organisatoren gingen einfach davon aus, dass Afrikaner schlecht gebildet und daher vermutlich engstirnig seien, ganz anders also als die wissenschaftlich motivierten westlichen Experten.

Wie Slobodian in seinem Buch feststellte, war Tumlir sogar noch explizierter in seiner Furcht vor den Massen. Er sagte, die internationale Wirtschaftsordnung „schütze den Weltmarkt“ vor populärem Druck. Als er noch Chefökonom der Gatt war, erklärte er, wann immer man Demokratie habe, habe man auch die Möglichkeit, dass die Massen den Staat erobern. Dann höre der Staat auf „und wird zu einer Arena für den Gladiatorenkampf organisierter Interessen“. Das große Risiko der Demokratie sei, dass sie zum Sozialismus führen könne (4).

Das konstitutionelle Problem, so Tumlir, sei, dass demokratische Regierungen gegen die Lebensinteressen ihrer eigenen Gesellschaften verstoßen könnten. Daher sei eine formelle Konstitution erforderlich, um die politische Diskussion zu „strukturieren“ oder zu „begrenzen“. Später hat die Weltbank auf das, was sie als die „inhärenten Gefahren“ größerer Offenheit und Partizipation beschrieb, hingewiesen. Erweiterte Möglichkeiten der öffentlichen Partizipation erhöhten die Forderungen an den Staat. Das, so schrieb die Bank, könne das Risiko des Zusammenbruchs oder der Eroberung des Staats durch lautstarke Interessensgruppen erhöhen.

„Wir mussten es tun; es gibt keine Alternative.“

Tumlir fasste die Argumente für regelbasierte Systeme folgendermaßen zusammen:
„Internationale Regeln schützen die Welt vor Regierungen“ (5). Die Regeln, die von
internationalen Eliten geschaffen werden, erkennen die Interessen einer nationalen
Gesellschaft offenbar besser, als ihre eigenen Menschen. Regeln legen Regierungen nicht
nur Grenzen dessen auf, was sie tun können – sie legitimieren auch die Weigerung, mit ihren Menschen politisch zu debattieren.

Ähnlich hat auch die Weltbank auf die Rolle internationaler Institutionen bei der Überwachung internationaler Verpflichtungen nationaler Regierungen hingewiesen. Diese
externen Verpflichtungen machen es Regierungen schwer, unpopuläre Reformen angesichts öffentlichen Drucks wieder zurückzunehmen.

Regeln und Demokratie passen daher schlecht zusammen. Regeln werden eingesetzt, um
die Behauptung, es gebe keine Alternative (There is No Alternative – TINA), zu unterstützen. Es macht keinen Sinn über Alternativen zu sprechen, denn wir haben ja Regeln zu befolgen. Tumlir erklärte auch, dass internationale Regeln nationale Politiker vor internem Druck schützen: „Die internationale Wirtschaftsordnung [könnte auch] als ein zusätzliches Mittel zum Schutz der nationalen Souveränität vor interner Erosion dienen.“

In dieser Orwellschen Formulierung bedeutet „Schutz nationaler Souveränität“ das genaue Gegenteil. Es bedeutet den Schutz des nationalen politischen Establishments vor den Wünschen des Volks. In einer noch institutionalisierteren Ordnung können Politiker auf die Interessen der Weltwirtschaft oder die „Globalisierung“, die EU oder die WTO hinweisen, um ihr Handeln zu rechtfertigen. Es ist bequem für nationale Politiker, einen supranationalen Herrn zu haben, auf den sie hinwiesen und sagen können: „Wir mussten es tun; es gibt keine Alternative.“

Hayek war einer Expansion demokratischer Rechte um die ganze Welt abgeneigt

So lehnte während der Euro-Krise 2015 die Mehrheit der griechischen Wähler die
Bestimmungen des Rettungsschirms, die in Brüssel und Berlin formuliert worden waren, ab. Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble formulierte den globalistischen Glauben so: „Wahlen ändern nichts. Es gibt Regeln.“

Es ist kein Zufall, dass Hayeks Argument gegen den „minimalen Staat“ in „Recht, Gesetz
und Freiheit“ zusammen mit einer ausführlichen Kritik der Demokratie erschien. Hayek
kritisierte insbesondere, was er als „unbeschränkte, unbegrenzte“ repräsentative Demokratie beschrieb, die nur zu einer dummen und schädlichen Wirtschaftspolitik führe. Diese Schlussfolgerung beruhte auf seiner Leugnung der Möglichkeit wirtschaftlicher Kontrolle, die zu einer weiteren Leugnung führte: Menschen können nicht die Herren ihrer eigenen Zukunft sein.

Hayek war repräsentativ für den neoliberalen Globalismus, als er feststellte, dass die
Beschränkung der politischen Freiheit, darunter auch der demokratischen Rechte, manchmal notwendig war, um die politische Freiheit zu erhalten. Hayek glaube, dass „Demokratie den Besen starker Regierungen braucht“ und dachte, dass Demokratien Regierungen „zu viel Macht“ geben könnten. Daher erklärte er, er sei immer sehr darauf bedacht gewesen, zwischen „beschränkten“ und „unbeschränkten Demokratien“ zu unterscheiden. Und er zog stets die beschränkte Variante vor.

Daher brachte er sein Leben lang, und insbesondere nach 1945, zunehmendes Vertrauen in das – sowohl nationale wie auch internationale – Recht zum Ausdruck. Hayek unterschied zwischen der positiven Rolle, die das „Recht“ spielen sollte und den Gefahren eines „legislativen Staats“. Er war daher einer Expansion demokratischer Rechte um die ganze Welt abgeneigt, da sie die Möglichkeit staatlicher Intervention durch Gesetzgebung
beinhaltete. Dies betrachtete er als schädlich für seine bevorzugte Trennung von Wirtschaft und Politik.

Die globalistische und oft neoliberale Elite stört die Demokratie am meisten

Heute gilt es weithin als selbstverständlich, insbesondere unter Europäern, dass
supranationales Recht das Recht der nationalen Gerichte überstimmen kann. Das wird durch die Maßnahmen des Europäischen Gerichtshofs der EU veranschaulicht. Doch diese anti-demokratische Tendenz bedeutet nicht, dass Globalisten stets die Rolle nationaler Gerichte herunterspielen. Im Gegenteil erkennen viele, dass nationale Gerichte gegenüber internationalen den Vorteil größerer scheinbarer Legitimität besitzen. In der Praxis gelten die nationalen Richter auch als verlässlicher in der Durchsetzung internationalen Rechts als demokratische Regierungen.

Dies ist ein Hinweis darauf, dass für Globalisten die Herabsetzung der Politik durch das Recht sogar noch größere Bedeutung hat als die Forderung nach Supranationalität als solche. Diese Art des Denkens bestätigt, dass die Skepsis der Globalisten gegenüber dem
Nationalstaat mehr von der Furcht vor seinem demokratischen Gehalt als vor seinen
massenpolitischen Aspekten geprägt ist. Die Globalisten fürchten den Nationalstaat nur,
soweit er ein Mechanismus für demokratische Macht ist. Die Leugnung der Wirksamkeit
nationalstaatlicher Politik ist zum großen Teil eine Leugnung der Wirksamkeit demokratischer Politik.

Der globalistische und neoliberale Angriff gegen der Nationalismus und die Souveränität ist in Wirklichkeit ein Angriff gegen die „unbegrenzte“ Macht des Volks, der Hayek so kritisch gegenüber stand. Neben ihrer Furcht vor einer Rückkehr internationaler Konflikte und wirtschaftlichen Zusammenbruchs ist, was die globalistische und oft neoliberale Elite
tagtäglich am meisten stört, die Demokratie. Es ist ihnen zuwider, wenn Menschen ihre
technokratischen Praktiken und Verfahren stören.

Die „Entthronung der Politik“

Diese drei Sorgen – vor internationalem Konflikt, kapitalistischem Zusammenbruch und
Misstrauen gegenüber dem Volk – machen Globalisten oft rabiat in ihrem Bestreben,
staatliche Institutionen zur Erhaltung und Stabilisierung der kapitalistischen Wirtschaftsbeziehungen zu nutzen. Die „liberalen“ Regeln des internationalen Finanzsystems wurden vor allem errichtet, um die Potenz internationaler Organisationen zu stärken und weniger um die Interventionen einzelner Regierungen zu beschränken.

Globalisten führen gerne nicht nur internationale, sondern auch nationale Institutionen, solange sie vor der demokratischen Rechenschaftspflicht geschützt sind. Globalisten und Neoliberale betonen auch heute noch ihren Glauben an den „freien Markt“ und den „freien Handel“. Aber die Freiheit, um die es ihnen geht, ist nicht die Freiheit von staatlicher Intervention, sondern die Freiheit vor dem Eingreifen der Politik. Schließlich bedeutet das nichts anderes als Freiheit von der Verantwortlichkeit gegenüber den Menschen. Die drei Ziele des Schutzes des Kapitalismus vor Krieg, vor Zusammenbruch und vor der Bevölkerung und schließlich vor einem Aufstand sind es, die den globalistischen Wunsch, die potentiell störenden Wirkungen der nationalen Demokratie auf den Markt zu zähmen.

Die Synthese dieser drei Befürchtungen steht hinter dem anti-politischen Kern des
neoliberalen Globalismus. Slobodian hat Recht, wenn er den Neoliberalismus weniger als
eine Theorie des Markts als eine des Rechts und des Staates beschreibt. Neoliberaler
Globalismus ist mehr ein politisches Projekt als ein wirtschaftliches. Hayeks bedeutendster
Beitrag zum Neoliberalismus war nicht seine romantische Anhänglichkeit an den freien
Markt. Es waren seine Ideen über das, was er als „Entthronung der Politik“ bezeichnete.

„Geldpolitik ist eine ernste Sache. Wir sollten dies im Geheimen diskutieren.“

Die Ironie besteht darin, dass das neoliberale Projekt der „Entpolitisierung der Wirtschaft“ selbst ein politisches Programm ist. Letztlich findet es seinen Ausdruck darin, dass es den Kapitalismus vor demokratischen Einflüssen zu schützen sucht. Schon 1932 hatte Walter Eucken, der Vater des deutschen Ordoliberalismus, was er als „Demokratisierung der Welt“ bezeichnete, denunziert, indem er auf die Massen, die durch „allgemeine“ (obwohl damals noch überwiegend auf Männer beschränkte) Wahlen in die Politik kamen, hinwies.

Fast 50 Jahre später, nach seinem Besuch in Pinochets Chile, war Hayek genauso explizit in seiner Verachtung für die Demokratie. In einem Interview mit der chilenischen Zeitung El Mercurio sagte er, er sei „völlig gegen Diktaturen“ als langfristige Institutionen, „aber manchmal ist es erforderlich für ein Land, eine Zeitlang eine Form von […] diktatorischer Macht zu haben“. „Persönlich“, sagte er, „ziehe ich einen liberalen Diktator einer demokratischen Regierung vor, der es an Liberalismus mangelt“ (6).

Das war also die globalistische Philosophie: dass man keine politische Freiheit ohne wirtschaftliche Freiheit haben kann, aber durchaus wirtschaftliche Freiheit ohne politische.
Ein Vierteljahrhundert später, im Jahre 2015, brachte Jan-Claude Juncker, der Präsident der Europäischen Kommission, die gleiche autoritäre Botschaft zum Ausdruck: „Es gibt keine demokratische Wahl gegen die europäischen Verträge.“ (7) 

Das war kein Versprecher. Einige Jahre zuvor erklärte Juncker als Führer der Eurogruppe der Finanzminister: „Geldpolitik ist eine ernste Sache. Wir sollten dies im Geheimen diskutieren.“ Er fuhr fort: „Es macht mir nichts aus, als nicht demokratisch genug bezeichnet zu werden, denn ich möchte ernsthaft sein […]. ich bin für geheime, dunkle Debatten.“ Es ist also gar nicht so weit von Pinochets chilenischer Diktatur in den 1980er Jahren bis zu den anti-demokratischen Impulsen der EU-Bürokratie im 21. Jahrhundert.

Teil 1 finden Sie hier.

Teil 2 finden Sie hier.

Dieser Beitrag ist zuerst beim britischen Novo-Partnermagazin Spiked erschienen.
Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Reul.

Phil Mullan ist Schriftsteller und Ökonom, der zu wirtschaftlichen und demografischen Themen forscht, schreibt und Vorträge hält. Derzeit arbeitet Mullan selbständig, nachdem er acht Jahre in leitenden Managementpositionen bei „Easynet Global Services“ tätig war, einem internationalen Unternehmen für Kommunikationsdienstleistungen. Zuvor war er Geschäftsführer des Internet-Dienstleistungs- und Schulungsunternehmens „Cybercafé Ltd“.

Mehr von Phil Mullan lesen Sie im aktuellen Buch „Die Zombiewirtschaft - Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind“ von Alexander Horn, Phil Mullan und Michael von Prollius.

Weitere Quellen

(1) Robert Kagan: „The Jungle Grows Back: America and Our Imperiled World”, Alfred A. Knopf 2018, S. 144f.

(2) „‚Who is not a neoliberal today?’’, Interview mit Wendy Brown, Tocqueville 21, 18.01.2018.

(3) Jan-Werner Müller: „Beyond Militant Democracy” in: New Left Review 73, 2012.

(4) Quinn Slobodian: „Globalists: The End of Empire and the Birth of Neoliberalism”, Harvard University Press 2018, S. 251f.

(5) Jan Tumlir: „International Economic Order and Democratic Constitutionalism’ in: Ordo 34, 1983, S. 72, 77.

(6) „Friedrich Hayek: An interview”, El Mercurio, 12.04.1981.

(7) ‚Pas question de supprimer la dette Grecque’ in: Le Figaro, 28.01.2015.

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Margit Broetz / 21.08.2020

Danke! Auch dieses ein sehr guter, differenzierter Artikel, wie ich ihn - zu diesem Thema - auf der Achse nicht erwartet hätte. Und auch schön wieder gezeigt, der neoliberale Marktfundamentalismus bedingt eben nicht einen “schlanken” Staat wie es die Propaganda will sondern einen mit starkem Repressionsapparat, wie ihn beispielsweise das als Test-Labor für die neoliberalen Lehren mißbrauchte Chile nach 1973 bekam. Ich meine, es war der Dichter Eduardo Galeano, der es auf den Punk brachte “Die Menschen saßen im Gefängnis, damit die Preise frei sein konnten!” Demokratie ist da nur ein Störfaktor, auch das wird schön herausgearbeitet anhand ihrer Verächterr wie etwa Hayek. *** Das schöne Zitat “... beim ‚konstitutionellen Arrangement nach dem Krieg‘ ging es vor allem darum, die europäische Politik soweit wie möglich von den Idealen der parlamentarischen Souveränität zu entfernen und die Macht an nicht gewählte Organe zu delegieren” liest sich wie eine Blaupause der EU. *** @Marcel Seiler, und ewig grüßt Venezuela: Ja, die derzeitige Regierung dort ist Teil des Problems. Aber wer hier nur Sozialismus als Problem sieht, macht es sich zu einfach, ist genauso ideologisch verbohrt und ignoriert den verdeckten (und offenen, beschlagnahmte Schiffe!) Wirtschaftskrieg, der gegen Venezuela geführt wird, wie gegen viele Länder mit von Dritten begehrten Rohstoffen. Dringende Leseempfehlung: John Perkins, Beknntnisse eines Economic Hit Man, dort wird das eindrucksvoll beschrieben.

Jürg Sand / 21.08.2020

„Das große Risiko der Demokratie sei, dass sie zum Sozialismus führen könne.“ Das ist als unausweichlich zu betrachten, wenn aus dem selbstverantwortlichen, für das Gemeinwesen opferbereiten Bürger ein lediglich freier Untertan wird, dessen einzige Verpflichtung in der Einhaltung der gerade herrschenden Regeln besteht (Egon Flaig). Den Begriff Sozialismus sollte man dabei entsprechend „updaten“. Dass dieser Wandel, so es den idealen Bürger jemals als Mehrheit gab, längst vonstatten ging, das ist gewiss. Dieser leicht unterschiedlich fortgeschrittene „Sozialismus“ der Einzelstaaten führt aber m.E. erst mal zu einem globalen Feudalkapitalismus. 90% Konsumleibeigene und davon 30% Steuersklaven. 10% Feudalherren und deren Ministeriale (Politiker, CEO‘s, etc.). Das dauert, bis die 30% am Leistungsende angekommen sind, keinen Sinn mehr in ihrem „Stand“ erkennen können. Demokratie ist so gut oder schlecht, wie seine Stimmbürger, das mussten schon die Athener schmerzlich erfahren.

Christian Schwarz / 21.08.2020

Danke für diese lesenswerte Analyse. Man muss ja nicht alles befürworten, was die Neoliberalen dachten und taten. Aber im Vergleich zu der (im Wortsinn) grenzenlos enthemmten Naivität à la Merkel, Göring-Eckart, Maas etc. hatten sie wenigstens gute Gründe dafür, den Supranationalismus zu fördern. Bei der heutigen deutschen Politikelite halte ich dies für sehr fraglich. Sie geben vor, die (angeblich allgegenwärtigen) Nazis stoppen zu wollen, und fördern zugleich die Zunahme des politischen Verdrusses und des gesellschaftlichen Chaos‘. Dabei ist doch absehbar, dass sich der steigende Druck im Kessel irgendwann mit grossem Krach entladen wird. Der Supranationalismus ist bei Merkel & Co.  zur reinen Kostümerie verkommen, mit der sie ihr eigenes Versagen bemänteln. Ihr Konzept von der „bunten“ Gesellschaft entspringt dermassen irren und wirren Quellen, dass dagegen die Neoliberalen als die reinsten Weisen erscheinen.

Rudhart M.H. / 21.08.2020

Wenn jemand es wirklich ernst meinen würde, wenn er Demokratie und Wertegesellschaft im Munde führt, dann gehören aber Leute wie Juncker und Consorten sofort vor ein Strafgericht . Leider wird dann keiner mehr übrigbleiben , der im Parlament noch abstimmen könnte. Diskutiert wird in den Quasselbuden , die zu einem Schreihaufen von unterbemittelten Schwachmaten verkommen sind, doch schon längst nicht mehr. Schaut Euch doch “Debatten” live an (solange die noch live von phoenix übertragen werden dürfen) ! Erschreckende Beispiele von Inkompetenz , Arroganz , Dummheit und Anstandslosigkeit. Und das alles auf einmal und ohne Pause. Ohne Scham zeigen hier “Parlamentarier”,wes Geistes Kind sie sind, wenn zotige Zwischenrufe und hysterische Schreie die Debatten bestimmen. Diese Leute sind angeblich frei gewählt. Ich frage mich dann aber schon, durch wen und wer stellt sie in einer Liste auf? Warum ? Wozu?Hätten die überhaupt eine Spur einer Chance , wenn sie ordentlich gewählt werden müßten ? Ich glaube es nicht ! Und bevor man hier diskutiert , sollte man Konsenz schaffen, wenn es um die Definition von Begriffen geht. Dann wäre der Einfluß von inneren und vor allem äußeren Bedingungen zu analysieren und selbst dann wird man wohl immer noch aneinander vorbei reden. Da bin ich mir ziemlich sicher. Was einmal ein Erhard mit sozialer Marktwirtschaft bezeichnete,geht schon sehr am Neocondenken vorbei . Und mit Recht, denn ein System , das von der sozialen Komponente befreit ist , geht an seinen inneren Widersprüchen genauso schnell kaputt, wie ein System, das von seinen marktwirtschaftlichen Komponenten befreit wurde. Nur wenn beide vernünftig verknüpft werden können, wird ein Bilanzsystem verhindern , daß Kranke zu Kunden werden und im Sozialsystem Gewinne gemacht werden, die zu Lasten seiner “Kunden” gehen, währen umgedreht das Bilanzsystem ,ohne wirklichen Markt und seinen Wettbewerb , jeglichen Fortschritt in Wissenschaft und Technik von vorherein ad absurdum führt.

sybille eden / 21.08.2020

Und Hayek hatte Recht mit seiner Skepsis der Demokratie gegenüber ! Wenn ich mir den “demokratischen” Zustand Deutschlands betrachte, kann es einen nur noch schaudern ! Eine völlig ideologiesierte Politik mit gehirngewaschenen Politikern steuern das Land in den Abgrund ! Nein, eine Nation kann durchaus auch ohne den Primat der Politik leben, und auch ich ziehe einen liberalen Diktator einer illiberalen Demokratie vor ! Nieder mit dem Primat der Politik und Abschaffung des schmarotzenden Berufspolitikers ! : Wens interessiert : Hans-Helmut Hoppe,  “Die Demokratie, der Gott der keiner ist.” Kann man auch als nicht libertärer lesen, öffnet die Augen !

Gerd Heinzelmann / 21.08.2020

Sie stellen meine Welt auf den Kopf. Nicht dadurch, was Sie sagen, sondern dadurch, was Sie nicht sagen. Übrigens, ich bin ziemlich sicher, dass der Kreml von der DDR jede verfickte Kopie hat - bis heute.

Ralf Pöhling / 21.08.2020

Bei genauer Betrachtung ist das Problem nicht die ungebildete Volksmasse, die mittels Demokratie genau diese abschaffen kann, sondern zu starke Machtkonzentration. Es ist unerheblich, ob ein vom Volk gewählter Diktator die individuelle Freiheit abschafft, oder ob das die irrlaufenden Vertreter überstaatlicher Organisationen tun, die nicht einmal dazu demokratisch legitimiert worden sind. Wenn der Neoliberalismus den Zweck verfolgt, den Kapitalismus vor seiner Abschaffung durch die Volksmassen innerhalb einer demokratischen Abstimmung zu schützen, so muss er verständlicherweise versagen. Denn bei genauer Betrachtung fallen zwei dazu gegensätzliche Ereignisse auf, die das Konzept eindeutig widerlegen: 1. Die kommunistische Sowjetunion war nicht das Resultat einer demokratischen Entscheidung der Völker, sondern das Resultat einer gewaltsamen Revolution, die die Demokratie hinwegfegte. Die Demokratie war also nicht ursächlich für die Abschaffung des Kapitalismus und die Einführung des Kommunismus. Sie war im Weg. 2. Die derzeitigen Tendenzen in der westlichen Welt in Richtung Sozialismus kommen nicht über das demokratische System der Nationalstaaten, sondern genau über die internationalen überstaatlichen Organisationen, die den Kapitalismus und den freien Warenhandel eigentlich schützen sollen, aber gerade an die Wand fahren, weil das Finanzsystem durch andauerndes Gelddrucken ohne gleichzeitiges echtes Wirtschaftswachstum vor dem Kollaps steht. Was wiederum nicht wundert, denn die Welt ist zu komplex, als dass sie von einigen wenigen Punkten aus effektiv gesteuert werden könnte, ohne dass die Steuernden schnell selbst den Überblick verlieren. Der Trick in einer friedlichen und auf Handel fokussierten Welt, liegt in dezentralen (übersichtlichen!) Entscheidungsstrukturen, einem Geldsystem, was jederzeit an echte Werte und echte Wirtschaftsleistung gekoppelt ist und der dazu entsprechenden (Aus-)Bildung eines jeden Bürgers.

E. Müsch / 21.08.2020

Die westliche These das Wohlstand und Demokratie zwangsläufig zusammengehören, und technologischen Vorsprung durch kreative Freiheit entsteht ist mit dem wirtschaftlichen Érfolg Chinas widerlegt. Spätestens seit dem Zusammenbruch der UdSSR als konkurrierendes Gesellschaftssystem, und dem Aufstieg der ostasiatischen Staaten haben für weite Teile der westlichen Eliten und vor allem in Deutschland das parlamentarische Demokratieverständnis sichtbar an Attraktivität verloren. Inzwischen sind die, auch schon zuvor bescheidenen Mitgestaltungsmöglichkeiten des “Volkes” an Entscheidungsprozessen weitgehend zu einer Farce verkommen. Das auf nordkoreanische Verhältnisse aufgeblähte Parlament ist nur noch ein Abnickverein für einsame Entscheidungen eines kleinen Machtzirkels, bzw. deren Hintermänner (die Causa Wulf lässt Grüßen)  Fast alle steuerverschlingenden Entscheidungen, wie Bankenrettung, Atomausstieg, Energiewende. Massenmigration, Eurobonds etc. wurden am Parlament vorbei getroffen und dann praktische ohne Debatten alternativlos vom Parlament nachträglich durchgewunken. Hinzu kommen die vielen Gesetze die Demokratie-  und Bürgerrechte beschneiden. Es ist kein Staatsversagen es ist ein Versagen der parlarmentarischen Institutionen. Nur wenn es um die Erhöhung der Diäten geht sind die Volkstreter,  aber sowas von zackig auf der Matte. Es ist eine Trauerspiel, und wär hätte geahnt, das mit der großen Transformation die Umwandlung einer Demokratie in eine Diktatur gemeint war.

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