Für viele Eltern im Freistaat Sachsen – und nicht nur hier – war in den vergangenen Monaten das Thema „Ist die Schule meiner Kinder geöffnet oder nicht?“ zum Dreh- und Angelpunkt geworden. Wie statistisch fragwürdig und unwissenschaftlich Sachsen seine Corona-Schulpolitik präsentiert, wurde hier bereits aufgezeigt. Neben den Verordnungen wurde vom Kultusministerium die sogenannte S3-Leitlinie als Begründung der Einschränkungen des Unterrichts genannt. Dazu gab es nähere Ausführungen in diesem Artikel.
Die Grundlage als Grundlage der Grundlage
Worum geht es in der S3-Leitlinie? In einer sogenannten 141-seitigen Evidenzgrundlage wurden vom Lehrstuhl für Public Health und Versorgungsforschung der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München Studien aufgelistet, die beweisen sollen, dass z.B. Reduzierung der Anzahl von Schülern, Kohortierungen und Maskentragen, etc. im Schulbetrieb dazu beitragen können, das Infektionsgeschehen einzudämmen. Als Grundlage dieser Evidenzgrundlage diente u.a. eine vom 8. Oktober bis 5. November 2020 durchgeführte Metastudie. Grundlage dieser Metastudie wiederum sind 42 Publikationen zum Thema Corona und Schulschließungen bzw. Maßnahmen zum Öffnen. Nachzulesen hier.
Die o.g. Evidenzgrundlage war sozusagen das Diskussionspapier für die Beteiligten eines breit gefächerten Gremiums mit stimmberechtigten sowie beratenden Mitgliedern (siehe Seiten 20 und 21). In neun Hauptkategorien wurden „konsensbasierte“ Empfehlungen ausgesprochen. Dazu das Inhaltsverzeichnis auf Seite 3.
Wo sind wissenschaftlich-empirische Beweise?
Ein Blick auf die untersuchten 42 Studien, die den Kern der Empfehlungen darstellen, enthüllt, dass es sich in Wirklichkeit um
- 31 mathematische Modellierungen,
- neun Beobachtungen
- zwei Studien mit Experimental- bzw. Quasi-Experimental-Design
handelt (nachzulesen unter „main results“).
Die Studien sind für die stimmberechtigen Mitglieder im erwähnten 141-seitigen Evidenzbericht in englischer Sprache akkurat aufgelistet. Ohne Zweifel hat es viel Arbeit gemacht und Zeit gekostet.
Zum Beispiel ab Seite 24, Tabelle 2 und ff. werden die Ergebnisse der Modellierungen bezogen auf Kohortierung zusammengefasst. Bei ALLEN steht bei Evidenz aber: low (niedrig) oder very low (sehr niedrig) sowie bei fast allen der zusammenfassende Satz:
„Heruntergestuft wegen des Risikos der Verzerrung, aufgrund von großen Qualitätsproblemen …“ (Downgraded for risk of bias, due to major quality concerns in some studies …)
Das Gleiche gilt für das Tragen des Mund-Nasen-Schutzes ab Seite 70. Auch hier gibt es für die Modellierungen wieder viele lows und very lows sowie den eben genannten Satz.
Plötzlich taucht in Tabelle 7 auf Seite 44 (Übersicht über die zum Outcome beitragenden Studien: Cohorting: Cohorting within the class – e.g. reduced class sizes) eine Studie mit Quasi-Experimental-Design auf (Ipshording2020). Informationen zur Originalstudie hier. Was hat diese Untersuchung mit Kohortierung zu tun? Grundsätzlich nichts. Darin geht es um sinkende Infektionszahlen zu Beginn des Schuljahres nach den Sommerferien 2020.
Egal, ob man die 141 Seiten von oben nach unten, links oder rechts, vor und zurück oder quer liest: wissenschaftlich-empirische Beweise, dass Kohortierung, Reduktion von Klassen oder Maskentragen das „Infektionsgeschehen“ an Schulen „eindämmen“, sind schlichtweg nicht vorhanden.
Sinnfreie Kohortierung
Obwohl keine empirischen Beweise über ihre Wirksamkeit vorhanden sind, wird Kohortierung auf Anordnung der Länder praktiziert. An weiterführenden Schulen hauptsächlich in Form von A- und B-Wochen, also eine Klasse in einer Klassenstufe kommt eine Woche zur Schule, die andere hat Homeschooling und nächste Woche läuft es dann umgekehrt, in der Regel bei einer 7-Tage-Inzidenz von über 100.
An Grundschulen nimmt die verordnete Kohortierung noch sinnfreiere Formen an, zumindest in Sachsen: Die gesamte Klasse einer Klassenstufe kommt zwar in die Schule, aber dann darf nur die Hälfte dieser Klasse in den Unterricht, die andere Hälfte wird vom Hort betreut und muss dort Aufgaben erledigen. Das gilt allerdings wiederum nur für die Kinder, die einen Hortvertrag haben. In der nächsten Woche wird gewechselt. Wie mit dieser Methode ein „Infektionsgeschehen eingedämmt“ werden soll, entzieht sich jeglicher Logik.
Dient diese Leitlinie vielleicht nur als semi-akademischer Schnellschuss zur Rechtfertigung von Verordnungen? Dieser Eindruck drängt sich beim Lesen der 141 Seiten auf. Man fragt sich, ob alle Beteiligten das gesamte Evidenzpapier gelesen und auch verstanden haben. Ein stimmberechtigtes Mitglied, das ich kontaktiert hatte, gab an, keine der aufgelisteten Studien gesehen bzw. gelesen zu haben. Man sei darüber in den Diskussionen informiert worden. Auf meine Nachfrage am Lehrstuhl für Public Health und Versorgungsforschung München, ob alle stimmberechtigten Teilnehmer die im Evidenzpapier aufgelisteten Studien gelesen hätten, wurde mitgeteilt, dass man diese Frage nicht beantworten könne und man dies nicht überprüft habe.
Planung, Studien-Auswahl, Diskussion, Abstimmung und Veröffentlichung hätten von Ende September bis Anfang Februar 2021 gedauert.
Spätestens bei den Abstimmungen hätte den Beteiligten, die das Studienmaterial gelesen hatten, Schlimmes schwanen müssen. Hier drei Beispiele:
- Reduktion der Schülerzahl / Kohortierung, Qualität der Evidenz: sehr niedrig, Empfehlungsgrad: starke Empfehlung A (Seite 4)
- Maskentragen bei Schülern und Lehrern, Qualität der Evidenz: niedrig, Empfehlungsgrad: starke Empfehlung A (Seite 6)
- Maskentragen auf Schulwegen im ÖPNV, Qualität der Evidenz: sehr niedrig, Empfehlungsgrad: starke Empfehlung A (Seite 8)
Man muss sich fragen, warum eine „starke Empfehlung A“ abgegeben wird für etwas, wofür es keine Beweise gibt? Und warum ausgerechnet Empfehlungen, für die es keine Beweise gibt, u.a. Grundlage für eine Corona-Schulpolitik sind?
Hier kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hektisch ein schein-wissenschaftliches Konvolut fabriziert wurde, auf das sich die verordnungsgebenden Kultusministerien der Länder beziehen konnten, um politische Maßnahmen rechtfertigen zu können.
Man muss es sich noch einmal vor Augen halten: Es war u.a. diese „Leitlinie“, mit der die Einschränkung des Grundrechts auf Bildung begründet wurde.
Jeder, der im Wissenschaftsbetrieb tätig ist, weiß, dass Modellierungen nur begrenzte Aussagekraft haben. Niemals ersetzen sie gut gemachte, transparente Studien, mit klar formulierten Hypothesen, repräsentativen Stichproben aus einer Population, festgelegten Signifikanz-Niveaus, Effektstärken, Interpretationen von Resultaten und wissenschaftlichen Diskussionen.
Offene Schulen in der Schweiz
In unserem Nachbarland entschieden sich die Behörden für eine Corona-Schulpolitik, die von wissenschaftlich-empirischen Erkenntnissen begleitet wird und nicht, wie in Deutschland, von in Verordnungen gegossener Angst der Politik. In allen Kantonen blieben die Schulen in der sogenannten „dritten Welle“ offen.
Während in Deutschland u.a. das sächsische Kultusministerium immer behauptete, die Schulen seien keine Treiber der Pandemie und die Schulen dann trotzdem schloss, redeten die Schweizer Behörden das Corona-Thema nicht klein, verfielen aber nicht in politische Angststarre und setzten bei geöffneten Schulen auf ein Paket von Hygiene-Maßnahmen sowie wissenschaftlichem Langzeit-Monitoring der Anti-Körperentwicklung bei Schulkindern. Die Ergebnisse der aktuellen Testreihe wurden vor ein paar Tagen veröffentlicht.
Neue Masken-Studie führt S3-Leitlinie ad absurdum
Vor wenigen Wochen wurde eine deutsche Metastudie zu den Wirkungen des Maskentragens veröffentlicht. Die Autoren konnten eine statistisch signifikante Korrelation zwischen den negativen Begleiterscheinungen der Blutsauerstoffverarmung und der Müdigkeit bei Maskenträgern nachweisen. Bei den meisten der untersuchten Arbeiten handelte es sich um echte Studien. Man darf gespannt sein, ob diese Erkenntnisse in der nächsten Leitlinie berücksichtigt werden. Evidenztechnisch würde das wahrscheinlich „hoch“ bis „sehr hoch“ bedeuten mit einer „starken Empfehlung A“. Und es würde bedeuten, dass Kinder in Schulen keine Masken mehr tragen dürften.
Stephan Kloss ist freier Journalist. Er lebt in Leipzig und studiert Psychologie.