Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer würde gern im Amt bleiben, doch die meisten Sachsen wollen ihn im nächsten Jahr nicht wählen. Was tun? Vielleicht die Inhalte der deutlich erfolgreicheren AfD kopieren und sie gleichzeitig als rechtsextrem verteufeln? Tolle Idee, vor allem, weil gerade sein Rechts-blinken-und-links-abbiegen-Kurs viele Wähler vertrieben hat.
Das waren noch Zeiten in den 90igern, als die sächsische CDU Landtagswahlen fulminant mit 58,1 Prozent (und mit Kurt Biedenkopf als Ministerpräsident) gewann. Dagegen wirken die 32,1 Prozent seines Nach-Nach-Nachfolgers Michael Kretschmer von 2019 recht mickrig. 20 Jahre = 26 Prozentpunkte Verlust. Seit 2014 sitzt die AfD im Landtag in Dresden und liegt in Umfragen stabil vor der CDU. Scheinbar neueste Strategie von Ministerpräsident Kretschmer mit Blick auf die Landtagswahl 2024: AfD-Forderungen als die eigenen ausgeben und gleichzeitig die AfD verteufeln. Das kommt offenbar gut an, zumindest bei der CDU-Basis. So geschehen kürzlich auf dem 38. CDU-Landesparteitag in Chemnitz. Gleich am Anfang seiner Rede, zu sehen auf dem YouTube-Kanal der der sächsischen CDU (288 Abonnenten) von 1:24:23 bis 2:15:23, macht der Vorsitzende der sächsischen Union, Michael Kretschmer, klar, wer die bösen Demokratiefeinde sind. Getreu nach dem Motto: Ist der Feind erst bekannt, hat der (Partei)Tag Struktur.
„... und es braucht die Fähigkeit, diesen Extremisten ihren Nährboden zu entziehen ... es ist wie bei der DVU, wie bei der NPD, wie bei den Republikanern. Erst wenn die Probleme gelöst werden, mit denen die Leute unzufrieden sind, wird sich auch diese rechtsextreme AfD auflösen, meine Damen und Herren.“ (1:29:49 bis 1:30:17). Der Parteitag klatscht brav.
Kein Wort darüber, dass es die Union selbst war, die jahrelang mit einer immer lebensfremderen Politik den Nährboden für Unzufriedenheit in breiten Teilen der Bevölkerung bereitet hat. Schauen wir uns ein paar Ausschnitte aus der Kretschmer-Rede näher an.
Auch jeder AfD-Parteitag würde klatschen
„Deswegen muss jetzt beim Thema Migration geklärt werden ... dass nicht jeder kommen kann ..., sondern dass wir ... entscheiden, wem wir in unserem Land Schutz geben. Und natürlich gibt es eine Obergrenze. Und diese Obergrenze ist dort, wo es keine Wohnungen gibt, keine Kindergartenplätze, keine Schulen mehr gibt. Das ist eine Obergrenze. Und wer sich dieser Diskussion verweigert, der verweigert sich der Lösung des Problems ...“ (1.33:56 bis 1:34:22)
Wer regelmäßig Nachrichten verfolgt, der weiß: Das fordert auch die AfD. Seit Jahren schon. Lässt sich leicht ergoogeln. Der nächste Ausschnitt:
„Deswegen ist das so wichtig, dass wir uns nicht den Mund verbieten lassen. Wir haben das ja in den letzten Monaten und Jahren häufig erlebt, dass wir mit Themen gekommen sind und gesagt haben, so wird es mit großer Wahrscheinlichkeit nicht gehen. Schaut Euch das mit der Migration an … es geht so nicht. Es gibt Grenzen ..., dass man nicht erst mit dem Kopf gegen die Wand knallt und sagt, Aua. Nein, wir müssen dann handeln, wenn wir die Dinge sehen ... aus Erkenntnis klug werden ... das ist das Ziel einer klugen Politik.“ (1:30:28 - 1:31:19) Der Parteitag klatscht. Auch jeder AfD-Parteitag würde dieser CDU-Rede Applaus spenden. Im Unterschied zur CDU würden die AfDler wahrscheinlich als rechts-extremistisch eingestuft werden. Zwinkersmiley.
„Die Leute lassen sich nicht mehr verarschen“
Jetzt die Lieblingsstelle des Autors:
„Der gesunde Menschenverstand ist das, was viele Bürgerinnen und Bürger in diesem Land so sehr vermissen und sich so sehr wünschen. Und dieser gesunde Menschenverstand ist das, was die sächsische Union auszeichnet. Und das dürfen wir nie verlieren ...“ (1:31:33 bis 1:31:52)
Mutig, mutig. Das sagte jemand, der die Bürger jahrelang mit evidenzfreien Coronamaßnahmen und Ausgangssperren drangsaliert und ohne mit der Wimper zu zucken Grundrechte ausgesetzt hat. Damals wünschten sich die Sachsen einen gesunden Menschenverstand bei ihrem Ministerpräsidenten. Vergeblich. Der Parteitag klatscht selbstverständlich. Diese Stelle zum Thema illegale Migration kommt auch gut:
„Die Leute lassen sich nicht mehr verarschen, meine Damen und Herren. Die wollen jetzt eine Lösung haben ... die Zahlen müssen runter ... ansonsten wird das hier ein schlimmes Ende nehmen ...“ (1:34:51 bis 1:35:03) Der sächsische Regierungschef haut dabei mit dem Zeigefinger aufs Pult. Der Parteitag klatscht etwas lauter. Diese Sätze sind so fast wortgleich oder abgewandelt auf fast jeder AfD-Kundgebung zu hören. Meine Hypothese zur Verarsche-Aussage: Eine explorative Umfrage unter AfD-Politikern würde wahrscheinlich eine Zustimmungsrate von rund 100 Prozent ergeben.
Kretschmer ist rhetorisch gut drauf, schiebt die Hand ab und zu elegant in die Hosentasche, und er hat sich möglicherweise gedacht: „von uns“ hinter „die Leute lassen sich nicht mehr verarschen“ lasse ich mal lieber weg.
Abbau einer selbst geschaffenen Bürokratie fordern
„Haben wir ein Land von freien Menschen ... oder haben wir einen Staat, der in jedem Punkt sagt, wie die Dinge passieren oder gemacht werden sollen? ... mit Bürokratie werden wir nicht weiterkommen.“ (1:52:25 bis 1:53:41) Man fragt sich, ob der sächsische Regierungschef das ernst meint. Denn auch während seiner Amtszeit sind Bürokratie und Verwaltung regelrecht ausgewuchert. Achgut berichtete. Würde die CDU einen Antrag auf radikalen Bürokratieabbau mit konkreten Maßnahmen in den Landtag einbringen, wäre die Wahrscheinlichkeit, dass die AfD-Fraktion zustimmt, hoch. Vermutlich.
Zurück zur Rede des sächsischen CDU-Ministerpräsidenten. Der Seitenhieb auf die Ampel darf nicht fehlen:
„Und da gibt es eine Bundesregierung mit einem Kinderbuchautor als Wirtschaftsminister, der sagt, es ist alles in Ordnung, wir haben kein Problem ... dieser Wirtschaftsminister schaltet die Atomkraftwerke ab und kommt vier Wochen später und sagt ein Industriestrompreis ist notwendig ...“ (1:40:50 bis 1:41:18)
Kretschmer hat offenbar vergessen (manche nennen es auch „scholzen“), dass er mit der Partei des Kinderbuchautors Habeck (Grüne) in Sachsen regiert und dass Kretschmer himself am 30. Juni 2011 als CDU-Bundestagsabgeordneter für den Ausstieg Deutschlands aus der Kernenergie gestimmt und damit die aktuelle Energiekrise mitverursacht hat. Nun beschwert er sich nach dem Motto: Haltet den Kernkraftwerkabschalter. Einen AfD-Antrag im Bundestag am 22. September 2022 zum Weiterbetrieb der drei verbliebenen deutschen Kernkraftwerke lehnte die Union ab, mit den Stimmen der sächsischen CDU-Bundestagsabgeordneten. Das Gleiche nochmal am 10. November 2023. Die Union stimmte gegen einen AfD-Antrag, betriebsfähige Kernkraftwerke zu reaktivieren, wieder mit den Stimmen der sächsischen CDU-Parlamentarier, also Kretschmers Parteikollegen.
Werden die Sachsen 2024 das Original oder die Kopie wählen?
Die desaströse Migrations- und Energiepolitik, die Michael Kretschmer auf dem CDU-Parteitag anprangert und dabei AfD-Rhetorik nutzt, hat er mitorganisiert und mitgetragen. Er war die ganze Zeit dabei: von der Merkel-Willkommenskultur bis zur Abschaltung moderner deutscher Kernkraftwerke. Gelegentlich wird dem sächsischen Ministerpräsidenten der Nimbus eines Robin Hood aus Sachsen zugeschrieben, der gegen die Berliner Politik opponiert. Aber wo sind konkrete Gegenvorschläge und Handlungen, wo die offenen Widerworte?
Der Parteitag klatscht fleißig. Stehende Ovationen. Offiziell AfD bekämpfen, in der Parteitagsblase von der AfD abkupfern. Ist das die neue CDU-Strategie? Ein Parteitagsbeobachter bemerkte – mit Blick auf Kretschmers permanentes Pultklopfen – gegenüber dem Autor: „Kretschmer hat leider diese Rumpelstilzchen-Attitüde nicht abgelegt, immer mit den Beinen aufstampfen, damit es nach seinem Willen geht.“
Stephan Kloss ist freier Journalist. Er lebt bei Leipzig und studiert Psychologie.