Roger Letsch / 21.07.2023 / 14:00 / Foto: Sandro Halank / 46 / Seite ausdrucken

Mit der Schleimspur auf dem Holzweg

Nun habe ich mir den Gauck-Auftritt bei „Lanz“ doch noch angetan. Hier möchte ich mich auf einige Momente dieses absurden ZDF-Theaters beschränken, die dem einen oder anderen verbal geohrfeigten Zuschauer vielleicht entgangen sind.

„Warum gibt es in der DDR keine Streiks und Proteste wie in der BRD?“, fragte der Lehrer in Staatsbürgerkunde, der Unterrichtsfach gewordenen Propaganda der SED, und hatte die Antwort gleich selbst parat: „Weil die DDR der Staat der werktätigen Massen ist und die Arbeiter ja schlecht gegen sich selbst demonstrieren können!“ Und wenn da dennoch jemand sei, der das Gefühl habe, mit dem Arbeiter- und Bauernstaat und der Politik seiner weisen Regierung (die führende Rolle der SED in derselben hatte Verfassungsrang) sei etwas nicht in Ordnung, nun, der gehöre eben nicht zur Klasse der Arbeiter und Bauern – und mit dessen Gefühlen oder Gedanken konnte etwas nicht stimmen. Für diese Leute leistete sich der fürsorgliche Arbeiter- und Bauernstaat ein ganzes Arsenal an Ministerien und Abteilungen… nun, Sie kennen die Geschichte, liebe Leser. Mir kam die Lektion aus Staatsbürgerkunde nur sofort in den Sinn, als ich den Artikel von Claudio Casula las, in dem er einen Auftritt von Altbundespräsident Joachim Gauck bei Markus Lanz behandelte. Und was war ich nach dem Lesen froh, dass ich schon seit langem deutsche Talk-Formate meide! Doch nun habe ich mir diesen „Lanz“ doch noch angetan, und weil ich nicht einfach rekapitulieren will, was Claudio viel besser beschrieben hat, als ich es könnte, möchte ich mich auf einige Momente dieses absurden ZDF-Theaters beschränken, die dem einen oder anderen verbal geohrfeigten Zuschauer vielleicht entgangen sind.

Gauck, auch wenn er versucht, gelegentlich etwas Optimismus einzustreuen, attestiert den Ostdeutschen einen zumindest größeren Hang zum Autoritären, zum Führerprinzip. Dies sei den Brüchen in den Biografien und der Tatsache geschuldet, dass ihnen zu den zwölf finsteren Jahren zwischen 1933 und 1945 weitere 44 aufgebrummt wurden. Doch wie der Staatsbürgerkundelehrer von weiter oben geht Gauck davon aus, dass der Protest sich gegen etwas richtet, das des Protestes gar nicht bedürfe. So wie früher im Arbeiter- und Bauernparadies leben wir doch heute im besten Deutschland aller Zeiten! Und gibt die Presse Gauck nicht recht in dieser Meinung? Schließlich lesen und hören wir tagein tagaus, die Schwefelbuben hätten es auf die Demokratie an sich abgesehen, und wahre Demokraten richteten ihre Kritik nun mal nicht auf die Demokratie.

Gauck – und hier wird er mir richtig unheimlich – fordert uns auf: „Macht euch mal die Mühe, diese Gesellschaft mit anderen zu vergleichen. Möchtet ihr wirklich unter Putin oder Erdogan oder wo auch immer leben?“ Mal abgesehen davon, dass die Fans von Kalif Erdogan eher in Köln, Frankfurt/Main oder Mannheim zu finden sind als ausgerechnet in Leipzig oder Rostock und diese (anders als die Putin-Fans) ihn sogar wählen, klingen solche Vorwürfe seltsam hohl angesichts der Tatsache, dass unsere Politik selbst andauernd solche Vergleiche anstellt. Unsere Außenministerin war sich neulich nicht zu blöde, Kenia zum energetischen Vorbild für Deutschland hochzufiedeln, und unser Wirtschaftsminister wollte gern von den Ureinwohnern des Amazonas lernen, wie man im restlos abgeholzten Deutschland wieder Bäume pflanzt. Nein, Herr Gauck, die Menschen wollen nicht wirklich unter Putin oder Erdogan leben, die haben einfach nur keine Lust, eines Tages unter vergleichbarer Repression aufzuwachen. Dass ausgerechnet Sie das nicht sehen können, enttäuscht. 

Keine Angst vor KI – natürliche Dummheit hat ihr Werk bereits getan

Gauck hat, wie er selbst bekennt, Angst vor der sich ausbreitenden Künstlichen Intelligenz. Doch ich kann ihn beruhigen. Bis diese sich zur Bedrohung auswächst, ist unser Land längst von natürlicher Dummheit an die Wand gefahren worden. Wir holen zum Beispiel Kohle aus Kolumbien und Australien und schalten im Namen des CO2 unsere gut funktionierenden Kernkraftwerke ab. Auch attestiert Gauck den Ostdeutschen ein „Fremdeln mit der Moderne“, während die Politik uns gerade ins energetische Mittelalter mit Windrädchen zurückschickt und unsere Wohlstand schaffende Industrie aus dem Land treibt. Lanz und Gauck beklagen die Anspruchshaltung von Bürgern, „die Gießkanne sozialer Wohltaten“ zu genießen, und sind sich einig, „wir tun Menschen nichts Böses, wenn wir etwas von ihnen verlangen“. Doch über wem die Gießkanne gerade geleert und von wem im Gegenzug überhaupt nichts verlangt wird, darüber kein Wort.

„Der Staat als Dienstleister des Bürgers“ – laut Lanz eine irrige Annahme – wird ersetzt durch den Bürger als Dienstleister (und Mündel) des Staates, der die ideologischen Verstiegenheiten und größenwahnsinnigen Weltrettungsprojekte der Politik finanzieren soll. Aber so sei das eben manchmal mit dem „Wunschdenken der Politik, die Großes leisten will“, meint Gauck. Wenn das „Große“ aber in die Hose zu gehen droht, ist dann wohl etwas Zorn und Widerstand erlaubt, oder müssen „gute Demokraten“ es bei einem „Upsi!“ bewenden lassen wie Gauck?

Doch Pastor, der er nun mal ist, mag Gauck die Zuschauer nicht ohne Trost entlassen. Auf Nachfrage von Lanz breitet er etwas Optimismus vor uns aus. Insgesamt sehe er positiv in die Zukunft, das Land sei keinesfalls auf dem Weg zu Totalitarismus und Diktatur. „Deutschland ist doppelt geimpft“, so Gauck, was merkwürdig klingt, weil es doch ausgerechnet die von ihm abgewatschten Ossis waren, die die zweite „Impfung“ in Form des kommunistischen Regimes zwischen 1949 und 1989 erhalten haben. Gauck sollte in Betracht ziehen, dass er sich irrt und der von ihm diagnostizierte Hang zur Diktatur in Wirklichkeit die Immunreaktion des „doppelt geimpften“ Ostens gegen eine sich ausbreitende neue Form der Diktatur ist. Nicht Faschismus, nicht Kommunismus, sondern etwas anders Kollektivistisch-Absolutistisches, das die gebildeten Antikörper erkennen. Erst ist es nur eine hochgezogene Augenbraue, dann das ungute Gefühl im Magen, und schließlich stellt man fest, dass man sich schon wieder auf einer Reise befindet, die man nie antreten und deren Ziel man nie erreichen wollte. „Unsere Demokratie ist nicht Weimar, wir haben genügend Demokraten“, sagt Gauck. Doch könnte es sein, dass sich einige davon ganz im Sinne von Ignazio Silone lediglich für solche halten oder ausgeben. Der Altbundespräsident muss sich entscheiden, was der Osten denn nun sein soll: dem Führerprinzip verfallen oder doppelt gegen Diktatur geimpft. Er kann nicht beides haben.

 

Roger Letsch ist aufgewachsen in Sachsen-Anhalt, als dieses noch in der DDR lag und nicht so hieß. Er lebt in der Nähe von und arbeitet in Hannover als Webdesigner, Fotograf und Texter. Sortiert seine Gedanken in der Öffentlichkeit auf seinem Blog unbesorgt.

Foto: Sandro Halank CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

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Lutz Liebezeit / 21.07.2023

Ist die EU eine Diktatur? Faktisch hat Merkel das zugegeben, als sie sagte, daß andere Länder noch lernen müßten, Souveränität an Organisationen abzugeben, wie Deutschland das getan habe, und die Deutschland bei Fehlverhalten “bestrafen dürften”. Ja tickt die Alte noch sauber? Ein Überstaat ist immer ein unterdrückerischer Despot. Merkel war immer fremdbestimmt und ihre cranken Phantasien stammen natürlich direkt aus der Sowjetunion, die ja auch ein Überstaat war. / Das war nur zur Einführung, und wenn man meiner Ausführung zustimmen kann, dann wird man auch zugeben müssen, daß der Osten seit Adolf Hitler Kanzler war, nie etwas anderes kennen gelernt hat als Diktaturen. Was kann der Überstaat besser, was bilateral nicht viel smarter, billiger, leichter zu bewerkstelligen wäre? Nichts! Der ist eine reine Geldfressmaschine. Und genauso verpulvert es unser Geld jetzt für seine Kriegsphantasien. Hier ein paar Milliarden, da ein paar Milliarden und die Ukraine kriegt auch ein paar Milliarden, ein paar Milliarden für Waffen, eine paar Milliarden für den Wiederaufbau, ein paar Milliarden für Impfstoff, Brüssel frißt unsere Lebensernegie Also, die Ostdeutschen haben sei Adolf Hitler Kanzler war, nie etwas anders kennen gelernt als Diktaturen. Die letzten Generationen sind immer in Diktaturen hineingeboren. Man muß jetzt nicht um Knecht Gauck weinen, aber es spielt eine Rolle. Vielleicht schmiert ihm das ein Herr Lanz mal aufs Butterbrot? Oder jemand anderes?

Thomin Weller / 21.07.2023

Mit Recherchen über das “Terpes-Papier” kommt man zu AdamLauks dot com Blog mit interessanten Inhalten die letztlich einiges über Gauck bestätigen. 9.2.2012 //“Gauck soll unser Bundepräsident werden !? Wir Opfer sagen : NEIN, danke ! Merkel: “Der wird es auf gar keinen Fall !!! – openpetition dot de”..“Gauck war IM der verbrüderten Geheimdienste. DAS IST DER BEWEIS: ein IM Bericht – Vermerk des IMS “Georg Husfeldt” alias OSL Dr. Jürgen Rogge.”// Ein leichtes Fähnchen im Wind. Die Karikatur passt gut.

Sturm Peter / 21.07.2023

“Gauckler” ist ein gefühlsgeplagter Träumer, als niemand möchte unter Erdogan leben und der Zar wird sich geostrategisch nicht für ein Ressourcenarmes Land interessieren, sondern eher für entsprechende Ordnungsverhältnisse in Europa. Es gibt so etwas wie Taktik und strategisches Denken, aber nicht für Gefühlstraumatisierte.

Dirk Jungnickel / 21.07.2023

Der Mann ist zum Fremdschämen !— Richtig, G. Maar !

Klaus Keller / 21.07.2023

Hier werden Schleimspuren und Holzwege in ein schlechtes Licht gerückt. Der Zweck des Schleims wurde berichtet. Man benutzt den Effekt gerne bei vielerlei Anwendungen. Holzwege führen vom Wald, wo Holz geschlagen und gelagert wird zum Ort wo es benötigt wird. Schleimspuren und Holzwege können sich gegen ihren Missbrauch nicht wehren. +++ Politikern auf Holzwegen vorzuwerfen das sie herumschleimen wo man ihnen die Gelegenheit dazu gibt, ist so ähnlich wie einem Rennradfahrer vorzuwerfen das er nach oben buckelt, nach unten tritt und dabei auch noch schwitzt um sein Fortkommen zu optimieren.

Sepp Kneip / 21.07.2023

Dieser „Gauckler“ ist ein Scharlatan. Einer, der sein dummes Geschwätz in leere Phasen verpackt. „Sie fremdeln mit dieser offenen Gesellschaft.“ Welche offene Gesellschaft? Nein, die Menschen im Osten merken, wohin diese „ offene“ Gesellschaft treibt, nämlich geradeswegs in eine DDR 02. Und deshalb wählen Sie AfD, weil sie das nicht wollen. Sie wollen nicht gegängelt werden, so wollen nicht durch Habeck ausgeplündert und ihrer Existenz beraubt werden. Sie wollen sich keinem Meinungsdiktat mehr unterwerfen. Hier unterscheiden sie sich in der Tat von manchem Wessi, der überhaupt nicht merkt, dass ihm seine eigene Meinung abhanden gekommen ist. Die reiferen Wähler sind tatsächlich im Osten, weil sie mit den „Werten“ der Altparteien nichts mehr anzufangen wissen. Und dann diese dummdreiste Aufforderung: „Macht euch mal die Mühe, diese Gesellschaft mit anderen zu vergleichen. Möchtet ihr wirklich unter Putin oder Erdogan oder wo auch immer leben?“ Dieser uralte Trick, das was man hat, mit dem zu vergleichen, was weit schlechter ist, verfängt nicht. Nein, Gauck ist ein Taschenspieler, der alles versucht, um dem Mainstream zu gefallen. Gauck ist ein Pastor des tiefen Staates.

A.Schröder / 21.07.2023

Mein Beileid an alle, die sich Lanz reinziehen. Letztes Stadium der geistigen Verwesung.

A. Ostrovsky / 21.07.2023

“Nicht Faschismus, nicht Kommunismus, sondern etwas anders Kollektivistisch-Absolutistisches, das die gebildeten Antikörper erkennen.”  Na das ich doch mal eine gute Nachtricht! Es ist eindeutig kollektivistisch-absolutistisch, zersetzend, spaltend, diskriminierens, volksverhetzend, auf feudalistische Staatsstrukturen hinzielend. Aber Gottseidank ist es kein Kommunismus und kein Faschismus. Dann ist es etwas ganz neues! Faschosozismus-Kommunalizismus-Kakofonismus. Oder Quarkoblökismus-GraicoHabismus. Na gottseidank, wir haben schon gefürchtet, es wäre etwas Schlimmes! Und nein, es hat nichts mit Trampolin zu tun!!! PUUUTIN wars!

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