Nun habe ich mir den Gauck-Auftritt bei „Lanz“ doch noch angetan. Hier möchte ich mich auf einige Momente dieses absurden ZDF-Theaters beschränken, die dem einen oder anderen verbal geohrfeigten Zuschauer vielleicht entgangen sind.
„Warum gibt es in der DDR keine Streiks und Proteste wie in der BRD?“, fragte der Lehrer in Staatsbürgerkunde, der Unterrichtsfach gewordenen Propaganda der SED, und hatte die Antwort gleich selbst parat: „Weil die DDR der Staat der werktätigen Massen ist und die Arbeiter ja schlecht gegen sich selbst demonstrieren können!“ Und wenn da dennoch jemand sei, der das Gefühl habe, mit dem Arbeiter- und Bauernstaat und der Politik seiner weisen Regierung (die führende Rolle der SED in derselben hatte Verfassungsrang) sei etwas nicht in Ordnung, nun, der gehöre eben nicht zur Klasse der Arbeiter und Bauern – und mit dessen Gefühlen oder Gedanken konnte etwas nicht stimmen. Für diese Leute leistete sich der fürsorgliche Arbeiter- und Bauernstaat ein ganzes Arsenal an Ministerien und Abteilungen… nun, Sie kennen die Geschichte, liebe Leser. Mir kam die Lektion aus Staatsbürgerkunde nur sofort in den Sinn, als ich den Artikel von Claudio Casula las, in dem er einen Auftritt von Altbundespräsident Joachim Gauck bei Markus Lanz behandelte. Und was war ich nach dem Lesen froh, dass ich schon seit langem deutsche Talk-Formate meide! Doch nun habe ich mir diesen „Lanz“ doch noch angetan, und weil ich nicht einfach rekapitulieren will, was Claudio viel besser beschrieben hat, als ich es könnte, möchte ich mich auf einige Momente dieses absurden ZDF-Theaters beschränken, die dem einen oder anderen verbal geohrfeigten Zuschauer vielleicht entgangen sind.
Gauck, auch wenn er versucht, gelegentlich etwas Optimismus einzustreuen, attestiert den Ostdeutschen einen zumindest größeren Hang zum Autoritären, zum Führerprinzip. Dies sei den Brüchen in den Biografien und der Tatsache geschuldet, dass ihnen zu den zwölf finsteren Jahren zwischen 1933 und 1945 weitere 44 aufgebrummt wurden. Doch wie der Staatsbürgerkundelehrer von weiter oben geht Gauck davon aus, dass der Protest sich gegen etwas richtet, das des Protestes gar nicht bedürfe. So wie früher im Arbeiter- und Bauernparadies leben wir doch heute im besten Deutschland aller Zeiten! Und gibt die Presse Gauck nicht recht in dieser Meinung? Schließlich lesen und hören wir tagein tagaus, die Schwefelbuben hätten es auf die Demokratie an sich abgesehen, und wahre Demokraten richteten ihre Kritik nun mal nicht auf die Demokratie.
Gauck – und hier wird er mir richtig unheimlich – fordert uns auf: „Macht euch mal die Mühe, diese Gesellschaft mit anderen zu vergleichen. Möchtet ihr wirklich unter Putin oder Erdogan oder wo auch immer leben?“ Mal abgesehen davon, dass die Fans von Kalif Erdogan eher in Köln, Frankfurt/Main oder Mannheim zu finden sind als ausgerechnet in Leipzig oder Rostock und diese (anders als die Putin-Fans) ihn sogar wählen, klingen solche Vorwürfe seltsam hohl angesichts der Tatsache, dass unsere Politik selbst andauernd solche Vergleiche anstellt. Unsere Außenministerin war sich neulich nicht zu blöde, Kenia zum energetischen Vorbild für Deutschland hochzufiedeln, und unser Wirtschaftsminister wollte gern von den Ureinwohnern des Amazonas lernen, wie man im restlos abgeholzten Deutschland wieder Bäume pflanzt. Nein, Herr Gauck, die Menschen wollen nicht wirklich unter Putin oder Erdogan leben, die haben einfach nur keine Lust, eines Tages unter vergleichbarer Repression aufzuwachen. Dass ausgerechnet Sie das nicht sehen können, enttäuscht.
Keine Angst vor KI – natürliche Dummheit hat ihr Werk bereits getan
Gauck hat, wie er selbst bekennt, Angst vor der sich ausbreitenden Künstlichen Intelligenz. Doch ich kann ihn beruhigen. Bis diese sich zur Bedrohung auswächst, ist unser Land längst von natürlicher Dummheit an die Wand gefahren worden. Wir holen zum Beispiel Kohle aus Kolumbien und Australien und schalten im Namen des CO2 unsere gut funktionierenden Kernkraftwerke ab. Auch attestiert Gauck den Ostdeutschen ein „Fremdeln mit der Moderne“, während die Politik uns gerade ins energetische Mittelalter mit Windrädchen zurückschickt und unsere Wohlstand schaffende Industrie aus dem Land treibt. Lanz und Gauck beklagen die Anspruchshaltung von Bürgern, „die Gießkanne sozialer Wohltaten“ zu genießen, und sind sich einig, „wir tun Menschen nichts Böses, wenn wir etwas von ihnen verlangen“. Doch über wem die Gießkanne gerade geleert und von wem im Gegenzug überhaupt nichts verlangt wird, darüber kein Wort.
„Der Staat als Dienstleister des Bürgers“ – laut Lanz eine irrige Annahme – wird ersetzt durch den Bürger als Dienstleister (und Mündel) des Staates, der die ideologischen Verstiegenheiten und größenwahnsinnigen Weltrettungsprojekte der Politik finanzieren soll. Aber so sei das eben manchmal mit dem „Wunschdenken der Politik, die Großes leisten will“, meint Gauck. Wenn das „Große“ aber in die Hose zu gehen droht, ist dann wohl etwas Zorn und Widerstand erlaubt, oder müssen „gute Demokraten“ es bei einem „Upsi!“ bewenden lassen wie Gauck?
Doch Pastor, der er nun mal ist, mag Gauck die Zuschauer nicht ohne Trost entlassen. Auf Nachfrage von Lanz breitet er etwas Optimismus vor uns aus. Insgesamt sehe er positiv in die Zukunft, das Land sei keinesfalls auf dem Weg zu Totalitarismus und Diktatur. „Deutschland ist doppelt geimpft“, so Gauck, was merkwürdig klingt, weil es doch ausgerechnet die von ihm abgewatschten Ossis waren, die die zweite „Impfung“ in Form des kommunistischen Regimes zwischen 1949 und 1989 erhalten haben. Gauck sollte in Betracht ziehen, dass er sich irrt und der von ihm diagnostizierte Hang zur Diktatur in Wirklichkeit die Immunreaktion des „doppelt geimpften“ Ostens gegen eine sich ausbreitende neue Form der Diktatur ist. Nicht Faschismus, nicht Kommunismus, sondern etwas anders Kollektivistisch-Absolutistisches, das die gebildeten Antikörper erkennen. Erst ist es nur eine hochgezogene Augenbraue, dann das ungute Gefühl im Magen, und schließlich stellt man fest, dass man sich schon wieder auf einer Reise befindet, die man nie antreten und deren Ziel man nie erreichen wollte. „Unsere Demokratie ist nicht Weimar, wir haben genügend Demokraten“, sagt Gauck. Doch könnte es sein, dass sich einige davon ganz im Sinne von Ignazio Silone lediglich für solche halten oder ausgeben. Der Altbundespräsident muss sich entscheiden, was der Osten denn nun sein soll: dem Führerprinzip verfallen oder doppelt gegen Diktatur geimpft. Er kann nicht beides haben.
Roger Letsch ist aufgewachsen in Sachsen-Anhalt, als dieses noch in der DDR lag und nicht so hieß. Er lebt in der Nähe von und arbeitet in Hannover als Webdesigner, Fotograf und Texter. Sortiert seine Gedanken in der Öffentlichkeit auf seinem Blog unbesorgt.