Georg Etscheit / 14.11.2020 / 14:30 / Foto: Martin Kraft / 53 / Seite ausdrucken

Ministerin Giffey und die Ungnade der frühen Geburt

Die Familienministerin Franzi Giffey wurde gerade der Gnade der späten Geburt teilhaftig. Trotz diverser Plagiate in ihrer Dissertation zum Dr. rer pol. an der Freien Universität Berlin („Europas Weg zum Bürger - Die Politik der Europäischen Kommission zur Beteiligung der Zivilgesellschaft“) will sie das Amt einer Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend behalten. Zudem hat sie angekündigt, an ihrer Kandidatur für den SPD-Vorsitz im Lande Berlin beim digitalen Parteitag Ende November festzuhalten. Zwar gibt es weiter Rücktrittsforderungen gegen sie, doch dass Angela Merkel sie fallen lässt wie einst den Minister Guttenberg (sehr gerne) oder die Ministerin Schavan (ungerne), darf als wenig wahrscheinlich gelten. Eine Kabinettsumbildung mitten in der Corona-Krise und nur ein Jahr vor der Bundestagwahl dürfte der Kanzlerin ungelegen kommen.

Die Ministerin ohne Titel Franziska Giffey erfreut sich des glücklichen Umstandes, dass sie nur eine mutmaßliche Plagiatorin in einer mittlerweile stattlichen Reihe von Politikern ist, die sich den Doktortitel auf mehr oder weniger dreiste Weise erschummelt haben. Das Volk hat sich an solcherlei Eskapaden längst gewöhnt und nimmt nur noch Schulter zuckend zur Kenntnis, dass der begehrte und einst so klangvolle und Respekt gebietende Doktortitel analog zu den inflationären Fachhoch- und Junior-Professorentitel zu akademischer Ramschware verkommen ist.  

Nach Karl-Theodor zu Guttenberg, der im März 2011 im Zuge einer die ganze Republik, ja die ganze Welt bewegenden Staatsaffäre von allen Ämtern zurücktrat und keine Anstalten macht, jemals in die Politik zurückkehren zu wollen, gerieten die FDP-Politiker Silvana Koch-Mehrin, Jorgo Chatzimarkakis und Margharita Mathiopoulos ins Visier digitaler Plagiatswächter. Die prominenteste unter ihnen, Koch-Mehrin, trat zwar Vizepräsidentin des Europaparlaments zurück, behielt aber ihr bis 2014 laufendes Mandat. 

Austragsposten als Botschafterin am Heiligen Stuhl

Auch Annette Schavan wurde 2013 von der Universität Düsseldorf wegen systematischer Täuschungen in ihrer Dissertation („Person und Gewissen. Studien zu Voraussetzungen, Notwendigkeit und Erfordernissen heutiger Gewissensbildung“) aus dem Jahre 1980 der Doktortitel aberkannt, was für die damalige Bundeswissenschaftsministerin und Honorarprofessorin der FU Berlin natürlich besonders peinlich war. Doch das hinderte die Kanzlerin nicht daran, ihrer Duzfreundin einen Austragsposten als Botschafterin am Heiligen Stuhl zu verschaffen, obwohl Schavan die „Eingangsvoraussetzungen für den höheren Auswärtigen Dienst“ fehlen. Sie versah das schöne Amt in der Ewigen Stadt bis 2018. Eine andere Merkel-Vertraute, Ursula von der Leyen, brachte es trotz in erheblichen Teilen abgekupferter Dissertation zur EU-Kommissarin. Ihren akademischen Titel konnte sie behalten.

Für Karl-Theodor zu Guttenberg, den einstigen Bundeswirtschafts-, dann Bundesverteidigungsminister, gab es kein Pardon. Er verfiel der Ungnade der frühen Geburt, weil er das Pech hatte, der erste zu sein, der nach allen Regeln digitaler und medialer Inquisition politisch und moralisch zur Strecke gebracht wurde. Wenn man heute die vielen Bücher und Medienberichte liest, die vor und nach der Affäre über Karl-Theodor zu Guttenberg geschrieben wurden, wundert es einen, wie sich die eigentlich nicht weltbewegende Geschichte eines unredlich erworbenen Doktortitels zur Staatsaffäre auswuchs, die das Land noch Monate nach dem Rücktritt in Atem hielt. 

Im Fall Guttenberg passte in medialer wie politisch-strategischer Hinsicht alles. Er war nicht nur der erste, er war zudem ein hoch ambitionierter, rhetorisch brillanter und blendend aussehender Ausnahmepolitiker, eine charismatische Lichtgestalt mit Ticket ins Kanzleramt und damit direkter Konkurrent Angela Merkels. Während Horst Seehofer Guttenberg,  geschickt lavierend und in Schach haltend, als Joker benutzte, um Markus Söder von der Macht in Bayern fernzuhalten, musste in Berlin schwereres Geschütz aufgefahren werden. Um den jungen Baron aus Oberfranken politisch zu vernichten, bediente man sich kaltblütig nicht zuletzt der im Volk kursierenden Neidreflexe gegenüber dem Adel. Wobei sich die Fallhöhe der Affäre auch aus den hohen moralischen Ansprüchen entwickelte, die Guttenberg an sich selbst und die Politik stellte und die er in den Augen seiner Kritiker und von Teilen der Öffentlichkeit nicht zu erfüllen vermochte. 

Den ersten beißen die Hunde

Auf die Ministerin für Gedöns trifft dies alles nicht zu. Sie ist keine Lichtgestalt, viele wissen nicht einmal, dass es sie überhaupt gibt. Außerdem kann sie sich auf die wohlwollende Unterstützung nicht nur ihrer marginalisierten Partei verlassen, sondern auch auf die Rückendeckung einer in der Coronakrise unangefochtener denn je regierenden Kanzlerin. Und von den Qualitätsmedien droht ohnehin keine Gefahr. Dass sie großmütig ankündigte, ihren Titel nicht mehr führen zu wollen, wird von der taz, die Guttenberg einst hämisch in Grund und Boden schrieb, wohlwollend kommentiert „Nun kann sie sich auf ihre politischen Ämter konzentrieren. Ihre Arbeit als Familienministerin. Den Kampf ums Berliner Rathaus als mögliche Nachfolgerin des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller im Herbst 2021. Und diese Chance sollte sie auch bekommen.“

Diesmal macht das Sprichwort erst umgekehrt einen Sinn: Den ersten beißen die Hunde.

Hinweis: Der Autor hat im Frühjahr 2020 im Mainzer Schott-Verlag eine Biografie des Dirigenten und Umweltschützers Enoch zu Guttenberg vorgelegt, des Vaters von Karl-Theodor zu Guttenberg. Darin wird auch ausführlich auf die Plagiatsaffäre eingegangen.

Georg Etscheit, Musizieren gegen den Untergang. Der Dirigent und Umweltschützer Enoch zu Guttenberg. Ein biografisches Porträt. 260 Seiten, 29,99 (Hardcover, 22,99 (Paperback)

Foto: Martin Kraft CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

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Lutz Herzer / 14.11.2020

Was nützt denn schon ein Doktortitel, wenn man das Gefühl hat, eine niedliche Figur aus einem Zeichentrickfilm spricht zu einem? Ja, diese Bemerkung ist böse und sie ist auch böse gemeint. Das könnte sogar daran liegen, dass ich manchmal wirklich böse bin.

Richard Loewe / 14.11.2020

ich persoenlich fand Schavan am unterhaltsamsten: nicht mal ein Diplom hatte Frau Bildungsministerin, nachdem die Uni und ein Gericht ihr die ohnehin gehirnfreie Promotion um die Ohren gehauen haben. Und dann wird sie Botschafterin am Heiligen Stuhl, nachdem sie zuvor kein Geld mehr nach Rom ueberweisen wollte. Dr. (DDR) Merkels Prinzip fuer “Freunde” und Berufungen wird an ihr wunderbar deutlich.

Rainer Hanisch / 14.11.2020

Bei der “Arbeit” der Regierenden wundert mich nicht, dass ihre Qualifikationen auf den Arbeiten Anderer beruhen. Braucht man bloß die Lebensläufe der Minister und Parteibonzen zu lesen. Jeder Posten nist mit irgend einem x-Beliebigen besetzbar - Hauptsache ist das richtige Parteibuch. “Ehre” und “Anstand” sind überall zu Fremdworten geworden. Die Millionen für “Berater” wären bei entsprechender Kompetenz nicht nötig gewesen, hätten für sinnvollere Dinge (nun nicht gerade BER, Windmühlen o. ä.) besser verwendet werden können. Aber Schwachsinn hat in Buntland Hochkonjunktur! Je sinnfreier, desto besser. Der Bundesmichel versteht eh nur Bahnhof und lässt das Denken sein. Bildung ist auch nicht so wichtig, schlimmstenfalls können die Abiturienten ja eine Petition starten, wenn denen die Prüfungsaufgaben zu schwer sind.

Jürgen Fischer / 14.11.2020

Der Doktortitel ist der doch wumpe. Die kassiert auch ohne die beiden Buchstaben noch ordentlich ab.

Peter Petronius / 14.11.2020

Solange beim Wahlvolk der Glaube vorherrscht, daß ein Dr.-Titel einen Kandidaten besonders qualiziziert, solange wird die Schwemme von echten, erschummelten oder gar gekauften Dr.-Titeln bei Politikern nicht aufhören. Ein Irrglaube, der sich auch darin äußert, daß sich in Foren Kommentatoren gerne mit einem nicht überprüfbaren Dr.-Titel schmücken. Als ich einst meinen ehemaligen Tutor und Mentor kennenlernte und ihn ehrfurchtsvoll mit “Herr Doktor ...” ansprach bekam ich zu hören: “Lassen Sie den Dr.-Titel weg, bei uns am Lehrstuhl zählt der Output.”

Wiebke Ruschewski / 14.11.2020

Ach ja, die Sache mit Guttenberg und dem Ghostwriter… Ich muss gestehen, ich war damals zumindest anfangs ziemlich schadenfroh, weil ich Guttenberg immer als überschätzten, arroganten Labersack und Lackaffen wahrgenommen habe. Es wurde dann aber zunehmend unangenehm. Heute würde ich die Sache vielleicht generell anders einschätzen. Weiß nicht. Der Skandal um Wulf war ähnlich. Irgendwann wurde es zuviel mit dem Draufhauen. Wenn jemand am Boden ist, muss man nicht noch nachtreten, finde ich. Bei Wulf kam hinzu, dass der Auslöser seiner… äh… “Pechsträhne” ein Streit mit einem Journalisten war. Das hatte definitiv ein Geschmäckle und die Presse hat in beiden Fällen keine allzu gute Figur gemacht. Dass manche Leute abgesägt werden und andere mit ähnlichen Vergehen kommen relativ ungeschoren davon ist natürlich unfair. Aber es ist tatsächlich so, dass es den Ersten der sich erwischen lässt oft am härtesten trifft. Und wenn er nicht “Muttis” Liebling ist, dann natürlich erst recht! P.S. Manchmal werden ja schon nicht korrekt angegebene Quellen oder nicht gekennzeichnete Zitate zum Skandal aufgepupt. Das finde ich dann doch ein bisserl überzogen. Den Fall von Frau Giffey habe ich bislang nicht so richtig verfolgt. Da habe ich keine Meinung zu.

H. Meier / 14.11.2020

Interessanterweise befinden sich in der AfD absolut überdurchschnittlich viele Personen mit redlich erlangten akademischen Titeln, auch das macht den realen Unterschied zu den merkelistischen Hütchensammlern aus. Professionelle Berufsfunktionäre und Berufsbetrüger mästen sich sichtbar in diesen Zeiten der politischen Transformation, wo Unrecht und Betrug zum politischen Prinzip wird.

Ilona Grimm / 14.11.2020

@Manfred Lang: Die Sozen und Grünen haben das Lügen und Betrügen genauso locker drauf wie die Mohammedaner mit ihrer TAQIYYA-Doktrin. Die wissen sehr wohl, warum sie blendend miteinander auskommen. NOCH.

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