Seit Menschen sich erdreisten, auch mal alternative Informationsquellen zu nutzen oder gar alternative Parteien anzukreuzen, geht ein neues Gespenst um in Europa. Die „Spaltung der Gesellschaft“ heißt das derzeit angesagte Schreckbild, das sogar die immergrüne „Schere zwischen Arm und Reich“ auf einen hinteren Platz im Jammerlappenchor verwiesen hat. Gespalten zu sein, ist offenbar ein schlimmer Zustand; es gilt, mehr Einigkeit zu wagen (über Demokratie reden wir vielleicht ein andermal).
Wer die Spaltung betreibt? Wohl klar. Ein „Spiegel“-Schreiber, der vor nicht langer Zeit noch als Volontär herumgeschoben wurde, inzwischen aber bereits als Meinungskanonier auf dem Sturmgeschütz Dienst schieben darf (traumhafte Karrieren gibt’s an Hamburgs Relotiusspitze!), hat eine „Reise zum Riss“ getan, in der er „aus einem gespaltenen Land“ berichtet: „Populisten, die durch Innenstädte und in Parlamente ziehen. Flüchtlinge, die in Dörfern und Städten ein neues Leben anfangen.“ Die einen grölen, die anderen schaffen – genau, da verläuft der Riss.
„Der Diskurs im Land ist unglaublich vergiftet“, lässt „Zeit“-Chef Giovanni di Lorenzo wissen, indes er ein neues Zeit-Ressort ankündigt, das „Streit“ heißen soll. Der langgediente Helmut Schmidt-Dackel, einer der verschlagensten Häuptlinge im Hamburger Pressetipi, moppelt da aber womöglich ein bisschen doppelt.
Sein Blatt hat ja bereits eine Reihe von erlesenen Giftnudeln im Portfolio, wie Frau Mely Kiyak, die nach einer in ihren Augen schiefgelaufenen Landtagswahl „Kotzanfälle übers Treppenhausgeländer“ erlitt. Ein Großteil der Leser übergab sich im Forum solidarisch mit. Hallo, da erklangen Töne! Welche die gräfliche Zeit-Herausgeberin glatt vom Ross hätte kippen lassen, weilte sie noch unter uns.
Ein Pool von Heilkundigen
Weil nun also die Debatte oder der Diskurs, ach was: die ganze Stimmung in Schland angeblich so was von runter ist, auch dank wortmächtiger Mithilfe der Zeit, hat sich die Wochenschrift einem Pool von Heilkundigen angeschlossen, der das Land kurieren soll. „Deutschland spricht“ heißt eine Aktion von Spiegel, FAZ, SZ, Zeit und anderen staatstragenden Meinungsbildhauern, bei der sich „Andersdenkende aus ihrer Nachbarschaft zu politischen Vier-Augen-Gesprächen“ treffen sollen, vermittelt durch die genannten Medien.
Erklärtes Ziel der angestrebten Massenversöhnung ist, dass sich die Beteiligten durch persönlichen Kontakt auch politisch näher kommen. Am besten mit dem Ergebnis, dass sich die Vorurteile der von Populisten verhetzten Menschen in Luft auflösen. Wenn der aufgeklärte Maximilian dem Vollhorst zum Beispiel verklickert, dass letzterer, was dessen Furcht vor Kriminalität angeht, einer „Verfügbarkeitsheuristik und anderen kognitiven Verzerrungen“ aufgesessen ist, müsste Hotte der Dösbaddel dies nicht am Ende einsehen?
Nämlich verdammt noch mal begreifen, dass sein Bedrohungsgefühl allein daher kommt, dass „trotz stetiger Abnahme der realen Bedrohung“ bestimmte Medien allzu oft über irgendwelche Verbrechen von selbstredend nur regionaler Bedeutung reißerisch berichten. Ist die Vier-Augen-Wahrheit erst mal ausgesprochen und verstanden, wendet sich sicher vieles zum Besseren. Idealerweise posieren die Kontrahenten am Ende für verschwiemelte Umarmungsfotos vor der Kamera des Zeit-Knipsers.
Am 30. Oktober soll die Aktion zum dritten Mal über die Bühne gehen. Das linke Portal „Nachdenkseiten“ erkannte darin ein Stück Realsatire, wie es „irrsinniger nicht sein könnte“: „Medien, die über viele Jahre das Meinungsspektrum in der öffentlichen Debatte auf den Durchmesser eines Strohhalms verengt haben, inszenieren sich nun als Initiatoren und Moderatoren eines großen Bürgerdialogs.“
Formiertheit schuf nur geistige Plattenbauten
Abseits des konsensseligen Laberprojekts steht natürlich elefantös die Sinnfrage im Raum. Was soll das Ganze, abgesehen von der Simulation einer Debatte? Warum muss eine Gesellschaft denn unbedingt geeint, warum darf sie nicht gespalten sein, sich aufteilen in diverse, ihre realen Interessen verfolgenden Fraktionen? Was ist so erstrebenswert an strammstehenden Volksgemeinschaften, von denen der letzte deutsche Kaiser erst zu schwärmen begann, als es brenzlig wurde („Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche“).
Wilhelms alldeutsche Volksgemeinschaft, die unter den Nazis richtig auf Vordermann gebracht wurde, als Modell? Und was war so attraktiv an der sozialistischen Volksgemeinschaft der DDR, in der alles volkseigen war, die HO, die Armee, selbst die Buckower Süßkirschenbäume? Und in der man von kulturellen Politkommissaren angepfiffen wurde: „Sag mir, wo du stehst“?
Ludwig Erhards Vorstellung einer formierten Gesellschaft, die ihm sein Berater Rüdiger Altmann aufgeschrieben hatte, war das nicht für jeden aufrechten Liberalen eigentlich ein Gruselprojekt? Sezession – Abspaltung – nannten sich immer mal wieder Künstlergruppen, durch die frischer Wind in die muffigen Hallen der Mainstreamkunst wehte. Abspaltung und ihre kleine Pop- und Modeschwester, die Distinktion, haben in der Regel kreativen Gewinn erbracht. Formiertheit dagegen schuf nur Nullachtfünfzehn, geistige Plattenbauten.
„United we stand, divided we fall“ lautet ein Spruch aus dem angelsächsischen Sprachraum, der schon in der amerikanischen Revolution benutzt wurde. Eine Durchhalteparole, die in Kriegen oder Streiks moralischen Mehrwert erbringen mag, ansonsten in den Giftschrank gehört. In einer freien Gesellschaft ist eher das Gegenteil wünschenswert.
Konsens ist oft Nonsens. Man lasse die Wirklichkeit entscheiden. Die „Energiewende“ (in Wahrheit nur der Versuch, anders an ein Viertel jener verbrauchten Energie zu kommen, die aus Strom stammt), dieses Unterfangen ist nicht diskutabel. Eine Erkenntnis, die neuerdings auch in Mainstreammedien manchmal ganz zart aufscheint. Weil, diese Wende ist nicht nur „verkorkst“, was impliziert, man könnte sie besser gestalten. Sie ist schlicht unmöglich. Zehntausende von riesigen Windrädern mehr, darauf kommt es nicht an. Beim Hausbau mit dem Dach zu beginnen, funktioniert nun mal nicht. Alle Fakten liegen auf dem Tisch, zu verhandeln gibt es nichts. Time will tell.
Interessen verwischen, Sachlagen vernebeln
Nein, es muss durchaus nicht überall Konsens geben. Am Ende entscheidet die Wirklichkeit das Match, nicht Friede, Freude, Eierkuchen. Der frühe Rudi Dutschke war da seinerzeit ganz konsequent. Nie, wirklich niemals wollte er mit irgendjemandem diskutieren in dem Sinn, dass er, Dutschke, auch Fehler einräumen und Zugeständnisse machen würde. Der Rudi wollte im Schlagabtausch mit den Charaktermasken des Kapitals nur seine eigenen Thesen öffentlich machen, von denen er hoffte, sie würden irgendwann – notfalls brachial – umgesetzt. Es lief bekanntlich nicht so gut für seine Sache, die Revolution fiel aus. Aber den Versuch war es wert, für ihn.
Wer Schulterschluss propagiert (oder, wie vormals die SED, eine Einheitspartei, „In eins nun die Hände“), der will meist Gegensätze verkleistern, objektive Interessen verwischen, Sachlagen vernebeln. Insofern war, als es noch waschechte Klassen gab, die Rede der Linken vom festen Klassenstandpunkt, den es einzunehmen gelte, eine vergleichsweise vernünftige Forderung. Doch das ist Geschichte.
Das Sonderbare an den aktuellen Jeremiaden über die Spaltung Deutschlands, der man mit bundespräsidial abgesegneten Aktionen wie „Deutschland spricht“ beikommen möchte, ist nun dies: Die Republik hat de facto längst eine Einheitspartei. Diese konnte bei der letzten Bundestagswahl 87 Prozent der abgegebenen Stimmen einsammeln. In Zukunftsfragen wie Migration, „Energiewende“ und EU passt kaum ein Blättlein zwischen deren Vertreter. Höchstens konkurrieren die Parteien darum, wer noch ein bisschen grünere Politik macht als die anderen und noch flinker die Frauenkarte zieht.
Wohlwollend begleitet wird der Blocksgesang vom Staatsfunk sowie dem Gros der privaten Medien. Der sogenannte öffentliche Diskurs befindet sich ziemlich fest unter Kuratel etablierter Meinungsverweser. Ein finanzkräftiges Geflecht aus teilweise staatlich geförderten Instituten und Stiftungen schiebt den Redaktionen unablässig neue Thesenpapiere, Umfragen und „Studien“ zu. Diese sollen belegen, dass in Deutschland soziale Kühlschranktemperaturen und extreme Nazidichte zusammenkommen (was seltsamerweise noch immer nicht zum Versiegen der Migrationsströme vor allem nach Deutschland geführt hat).
Kurz, 87 Prozent des wählenden Volkes sind anständig geblieben. Und im vielfältigen deutschen Medienstadl findet sich nicht ein einziges Massenmedium vom Schlage des überwiegend Trump-affinen US-Fernsehsenders „Fox News“, wo geholzt wird wie einst in Gerhard Löwenthals „ZDF Magazin“. Einer wie Tucker Carlson ist undenkbar in Konsens-Germany. Man muss ihn sich wie den „Monitor“-Mann Georg Restle vorstellen, nur in rechts und in witzig.
Dann lege ich ganz schnell den Hörer auf
Woher also rührt die beklagte Spaltung der Gesellschaft, die zu überwinden heroische Anstrengungen unternommen werden?
Möglichkeit eins: Sie existiert gar nicht. Alles Gerödel darum ist nur die übliche Journo-Hysterie. Und dass eine kleine Minderheit nicht den weithin einigen Komplex UnionSPDGrüneLinkeFDP gewählt hat, bleibt politisch ohnehin folgenlos. Conklusio: Lasst den AfD-Haufen rechts liegen; viel größer wird er nicht.
Möglichkeit zwei: Es gibt die Spaltung, und sie betrifft weit mehr Leute als 13 Prozent der Wähler. Therapie: Die Leute müssen sich mal ausquatschen dürfen, damit sie, har har, das hübsche Gefühl kriegen, Politiker und Medien nähmen sie ernst. Einige kehren dann beim nächsten Wahltermin sicher wieder auf den Pfad des Guten zurück.
Wie auch immer, für meinen Teil ist ausgemacht: Sollte mir jemand von der Zeit-Redaktion das Ansinnen unterbreiten, mit einer rotgrünen Lehrerin aus, sagen wir, Otterndorf über den auch in dieser Gegend grassierenden Windradwahn zu streiten (und hinterher mit ihr für ein wohlgefühliges Foto zu posieren), dann lege ich ganz schnell den Hörer auf. Meine Lektion stammt von anno 1968, dem kurzen Jahr des großen Aufmupfs: Divided we stand. United we fall.