Chaim Noll / 12.10.2022 / 06:00 / Foto: Achgut.com / 55 / Seite ausdrucken

Literatur-Nobelpreis: Die geistige Öde von gestern

Wie schon manches Mal zuvor verblüfft das schwedische Nobelpreis-Komitee auch in diesem Jahr mit einem Missgriff. Es gibt tausende Schreibende auf dieser Welt, deren Texte bewegend, beredt und bedeutsam sind, doch der Nobelpreis für Literatur ging an die französische Autorin Annie Ernaux, eine schreibende Französisch-Lehrerin. Nichts gegen schreibende Lehrerinnen, sie haben ihre eigene Weltsicht, geprägt von tief verinnerlichter Besserwisserei, deren sichtbare Spuren sie sorgfältig aus dem Text zu tilgen versuchen. In peniblen Prozeduren der Selbstunterdrückung. Deswegen wirken ihre Bücher so vornehm blass und erbarmungslos durchredigiert. Wir leben in einer toleranten Gesellschaft, in der man Pädagogik vornehm verbirgt, das Knochengerüst der Ideologie, die überall walten muss, doch nirgendwo offen sichtbar werden soll. 

Diese Art der Täuschung gilt als große Kunst. Die Texte von Annie Ernaux sind in diesem Sinn politisch korrekt, europäisch korrekt, ihr Hauptmerkmal ist eine mühsam erreichte stilistische Nivellierung, man könnte sagen: Perfektion. Und so achtenswert diese Fleißarbeit ist, so berechenbar ist sie auch, daher erzeugt sie beim Lesen vor allem eins: Langeweile. Die kultivierte Langeweile eines Erdteils, auf dem sich über Jahrzehnte nichts Dramatisches mehr zu ereignen schien. Der Preis wird offenbar von älteren Leuten vergeben, die auch in zunehmend turbulenten Tagen an dieser Illusion festhalten. Insofern ist es eine anachronistische Wahl. Denn das ereignislose, arrogant-unbeteiligte Europa der Annie Ernaux gibt es nicht mehr. 

Worüber schreibt die von tausend Feuilleton-Redakteuren gefeierte Autorin? Ihre Bücher basieren auf eigenen Erlebnissen, sind also das, was man „autobiographisch“ nennt. Sie reflektieren die Beziehungen der Autorin zu ihr nahestehenden Mitmenschen, zu um diese sich bildenden weiteren Kreisen, allgemein ausgedrückt: zu ihren Zeitgenossen, zu ihrer Zeit. Das Tableau der Zeitschilderung rückt mehr und mehr in den Vordergrund, Zeitgeschichte in literarischer Form, inklusive einer „fortschrittlichen“, dabei alles Neue blockierenden Ideologie, und erdrückt die Figuren.

„Ich darf nicht“ – das ist der entscheidende Satz

Deshalb sind ihre Texte, was sie nicht zu sein vorgeben: politisch. Romane kann man sie nicht nennen, das weiß die Autorin selbst. In ihrem Text Der Platz findet sich das Bekenntnis: „Daraufhin begann ich einen Roman zu schreiben, mit ihm als Hauptfigur. Mittendrin ein Gefühl des Ekels. Seit Kurzem weiß ich, dass der Roman unmöglich ist. Um ein Leben wiederzugeben, das der Notwendigkeit unterworfen war, darf ich nicht zu den Mitteln der Kunst greifen, darf ich nicht ‚spannend‘ oder ‚berührend‘ schreiben wollen. Ich werde die Worte, Gesten, Vorlieben meines Vaters zusammentragen, das, was sein Leben geprägt hat, die objektiven Beweise einer Existenz, von der auch ich ein Teil gewesen bin. Keine Erinnerungspoesie, kein spöttisches Auftrumpfen. Der sachliche Ton fällt mir leicht, es ist derselbe Ton, in dem ich früher meinen Eltern schrieb, um ihnen von wichtigen Neuigkeiten zu berichten.“

„Ich darf nicht“ – das ist der entscheidende Satz. Weder „zu den Mitteln der Kunst greifen“ noch überhaupt irgendetwas äußern, was genuin menschlich wäre oder individuell. Ihr Ziel, schreibt ein Rezensent, sei eine kollektive, „unpersönliche Autobiografie“. Diese des Individuellen beraubte Prosa sei, so ein anderer Rezensent, „eine völlig neuartige Erzählform“. Sie meide die Ich-Form – auch das wird lobend hervorgehoben. „Keine Erinnerungspoesie, kein spöttisches Auftrumpfen.“ Überhaupt nichts, was den Text für die Leser interessant oder amüsant machen könnte. 

Das Bemühen dieser Autorin ist die Obsession, das Individuelle zurückzunehmen. Sie muss Schüler mit provozierenden eigenen Meinungen früh als Störung empfunden haben, die auszumerzen ihren – modernistisch verdeckten – pädagogischen Eifer entfachte. Diese wohltemperierte Dame hat ihre Tadel stets mit sanfter Stimme vorgetragen. Am Ende richtet sich die Abtötung des Individuellen erfolgreich gegen die eigene Prosa. Auch dort ist ihr alles Subjektive verdächtig, jede Leidenschaft verhasst. Sie wird von ihren Anhängern „Feministin“ genannt, doch in Wahrheit ist sie eine Wächterin. Sie überwacht sich selbst. Und demonstriert diesen Mechanismus als Vorbild für ihre Leser. Wenn später im Text von ihrem Mann und ihrem Sohn die Rede ist, fragt man sich unwillkürlich, wie eine so indifferente, in all ihren Regungen unterdrückte, psychologisch gleichgeschaltete Person überhaupt zu einem Mann und einem Sohn gekommen ist.

In der Attitüde des Hochbedeutenden

Schon auf der ersten Textseite (Buchseite 9) der betont auf gediegen zurechtgemachten deutschen Ausgabe ihres Buches Der Platz im einst renommierten Suhrkamp-Verlag findet sich ein Grammatik-Fehler, der weder der gepriesenen Übersetzerin Sonja Finck noch Lektorin oder Lektor noch bisher einem einzigen Rezensenten aufgefallen ist. Dort steht: „Ich musste im Beisein des Prüfers und zweier Beisitzer, sehr erfahrenen Französischlehrern, eine Unterrichtsstunde geben.“ In korrektem Deutsch müsste es heißen: „sehr erfahrener Französischlehrer“ – es gibt keinen Grund, hier einfach vom Genitiv in den Dativ zu schlüpfen. Offen gesagt: es ist schlicht und einfach falsch. Man mag es kleinlich nennen, auf diesen Fauxpas hinzuweisen (für den Annie Ernaux ohnehin nicht kann), doch angesichts des Anspruchs, mit dem diese Art angepasst linke, apathisch verblasste, im Grunde nichtige europäische Literatur daherkommt, immer noch in der Attitüde des Hochbedeutenden, konnte ich es mir nicht versagen. 

Was muss Europa für ein langweiliger Kontinent sein, fragt sich ein ferner Leser in einer stürmischen Fremde, wenn dort solche Bücher Beachtung finden. Wahrnehmung von Literatur ist natürlich immer subjektiv. Mir persönlich geht es so, dass mich beim Versuch, ihre Prosa zu lesen, lähmende Müdigkeit überfällt. Annie Ernaux gelte als „eine der prägendsten Stimmen der Französischen Gegenwartsliteratur“, lässt uns Wikipedia wissen, einen Text der Universität Fribourg zitierend (Abteilung Unicom, Kommunikation und Medien), zudem hat sie die selbsternannten Eliten der europäischen Literaturwissenschaft im Rücken: „Sie wird im universitären Umfeld positiv rezipiert; ihr Werk ist Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Arbeiten. In der Literaturkritik wird ihr Werk vorwiegend positiv rezipiert.“

Die Welt der Annie Ernaux ist im Untergehen begriffen. Es war eine Welt der zum Ideal erhobenen Anpassung, der Selbstunterdrückung, der falschen Ruhe, der Illusion eines erfolgreich durchregierten Europa. Eine Welt der Belehrung gegenüber Nicht-Europäern, der eingebildeten Überlegenheit, des heimlichen Selbsthasses und vertuschten Antisemitismus. Inzwischen haben brutale Wirklichkeiten zugeschlagen, Flüchtlingsheere aus Nordafrika, Krieg an der Ostflanke, Energieknappheit, Rezession und Inflation. Letzte Gelegenheit, einen Preis zu vergeben an eine pensionierte Lehrerin, die auf beschönigende Weise die geistige Öde von gestern aufs Papier gebannt hat.

Foto: Achgut.com

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Andreas Rühl / 12.10.2022

Wer grammatische Fehler in einer Übersetzung sucht, sollte sich schon die Mühe machen, ad fontes zu gehen. Besonders bei den deutschen Kongruenzregeln, die mit zu den chaotistischsten der deutschen Sprache gehören. Beckmesser würde Ihnen gewiss zustimmen, dass in einer Aufzählung der Kasus derselbe bleibt. Was aber, wenn es sich bei dem Einschub um einen unvollständigen Nebensatz handelt? “Ich gab Peter, ein guter Freund meines Vaters, eine Ohrfeige.” Hier fordert geben an sich den Dativ. Gleichwohl ist der Nominativ offenkundig nicht falsch, weil der Einschub ein Anakoluth ist (hier eines Relativsatzes). Würde im Einschub der Dativ stehen, hat der Satz eine andere Bedeutungsnuance. Bei der ersten Variante ist die Freundschaft Peters zum Vater des Subjekts des Hauptsatzes nur eine zusätzliche Information: “Ich gab Peter, einem Freund meines Vaters, eine Ohrfeige,” Bei “im Beisein” gibt es zwei erlaubte Varianten, die angeblich hochsprachliche, die den Genetiv fordern (soll), und die Bildung mit “von”, die lange Zeit als falsch galt. Es kann gut sein, man müsste es prüfen, dass die Autorin im Original auch ein wenig, und zwar bewusst, von der grammatisch korrekten Bildung der Wendung abgewichen ist, die aber allgemein gebräuchlich ist. In dem Fall koennte die Übersetzerin genau das versucht haben wiederzugeben. Dann hätten wir es schlicht mit einem Stilmittel zu tun. All das laesst sich an der Übersetzung allein nicht prüfen und gehoert damit nicht in eine Kritik, die das Original nicht kennt. (Und warum schreiben Sie nicht einfach, dass Ihnen die Autorin nicht behagt, weil sie den Staat Israel auslöschen will?)

Heiko Stadler / 12.10.2022

Der Literaturnobelpreis wurde 1901 ins Leben gerufen, also in einer längst vergangenen Zeit, als es noch keine Bestsellerlisten gab, die messerscharf Auskunft geben über die Qualität eines literarischen Werkes. Heute ist der Literaturnobelpreis etwa so wichtig wie die Contergan-Tablette für Schwangere. Er wird nur noch als erzieherisches Instrument missbraucht, um die Leser auf den vermeintlichen Pfad der Tugend zu bringen. Der heutige Literaturnobelpreis entspricht ungefähr dem damaligen Karl-Marx-Orden der DDR.

Jürgen Fischer / 12.10.2022

Ich kenne die nicht und kaufe auch keine Bücher von der. Was mich aufregt, ist, dass sie für ihre Giftspritzerei auch noch einen Haufen Geld nachgeschmissen kriegt. Nobels Intention war ja, mit dem Preis solle „ausgezeichnet werden, wer „das Vorzüglichste in idealistischer Richtung geschaffen hat“. Tja, wenn man idealistisch klammheimlich durch ideologisch ersetzt ...

S.Bahr / 12.10.2022

Wahrscheinlich so langweilig, wie als Kind bei einer Familienfeier am Tisch stundenlang sitzen gemusst zu haben. Zum Glück lese ich nur die Achse :-)

Klaus Müller / 12.10.2022

Ein wirklich gut geschriebener Verriß, Danke. Der Begriff Literatur wird gemeinhin Werken zugeordnet, denen besondere Bedeutung als Kunst zugesprochen werden kann. Mein (etwas älterer Duden) spricht gar von Sprachkunst. Die Texte von Annie Ernaux - „Ich darf nicht“ – „zu den Mitteln der Kunst greifen“ - kann also lesen wer will. Ich nicht. Ergüsse der BeLehrer, der eingebildeten Überlegenheit von selbsternannten Eliten, des heimlichen Selbsthasses und der geistigen Öde gibt es jeden Tag bis zum Abwinken. Das Europa der Annie Ernaux wird gerade von der Welt in den Mülleimer der Geschichte getreten.

A.Schröder / 12.10.2022

Zu dumm, achse-Autoren kommen nicht mal in die erweiterte Auswahl des Literatur-Nobelpreises. In Deutschland erscheinen gut hunderttausend Titel, jedes Jahr. Lesen kann ich davon nur einen winzigsten Bruchteil. Wie egal ist mit, wer, von wem, mit welchen Grund, einen Preis angesteckt bekommt, noch dazu auf einem Gebiet, Literatur, wo persönliches Empfinden der Sache viel mehr darstellt, als bei Chemie, Physik oder sonstiger Wissenschaft.

armin_ulrich / 12.10.2022

Samuel Beckett: “Unsere Zeit ist so aufregend, daß man/weib/div die Menschen eigentlich nur noch mit Langeweile schockieren kann.”

Adorján Kovács / 12.10.2022

Wohl wahr, Herr Noll! Und traurig. Als ich am Tag der Verleihung in einem gut besuchten Antiquariat laut fragte, wer Annie Ernaux kenne, meldete sich nur eine ältere Frau, Typ feministische Linksintellektuelle, vielleicht Lehrerin. Die Stockholmer Entscheidung war für sie vor allem auch deshalb gut, weil die drohende Auszeichnung des „frauenfeindlichen“ Houellebecq verhindert wurde…

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