In der FAZ-Online vom 07.01.2019 ist ein recht interessanter Bericht erschienen. Es geht um die „Wohngemeinschaft Tempelhof“ (bei Schwäbisch-Hall, nicht bei Berlin, sonst wäre das Dorf heute noch nicht fertig), in der „ein jeder wohne, wie er mag“. Und hätte es Claas Relotius nicht gegeben, dann hätte er hierfür erfunden werden müssen. Die ganze Reportage sieht aus wie die Blaupause eines grünen Wahlprogramms. „Hier [in dieser engen Gemeinschaft] treffen Ärzte auf Handwerker, Buddhisten auf Atheisten, Amazon-Verweigerer auf Konsumkunden“. Oder so. Pommes trifft auf Fritz und Max auf Moritz, Arsch auf Eimer. Jeder der Dorfinsassen hat einen eigenen Raum, das kann eine Jurte oder ein Bauwagen oder ein Zimmer in der WG im Haus sein. Alles gehört allen und niemandem gehört etwas. Hauptsache, es wurde, „wo möglich, aus ökologischen Baumaterialien gefertigt“. Interviewt wird beispielsweise die Filmemacherin Simone Specht, die sich freut: „Egal, wo ich stehe, in fünf Schritten bin ich draußen.“ Was ich verstehe, ich wäre auch froh, schnell aus einer Jurte zu kommen.
Wenn Simone Specht mal keine Filme (wie den bahnbrechende 38-Minuten-Blockbuster „Kriegsenkel und Kriegsenkelinnen“ in Zusammenarbeit mit der Volkshochschule Freiburg, so die kurze Google-Recherche), sondern etwas anderes machen muss, dann muss sie eben runter „von der Mandala-Decke“ und bei Wind und Wetter aus dem Zelt, aber dafür ist sie verdammt nah an der Natur. Und die an ihr.
Und wenn sie weder Filme macht, noch dem Ruf der Natur folgt, dann backt sie Brot für die Dorfgemeinschaft, das die dann essen muss. Denn „dieses Leben fühlt sich für die Vierzigjährige richtig an.“ Es sei ihr gegönnt. Neben Frau Specht hat es auch noch 19 andere MenschInnen erwischt, die auch in Bauwagen und Zelten „ganz nah an der Natur“ wohnen, 130 andere hatten Glück und dürfen in Steingebäuden wohnen. Das Eintrittsticket in diesen „experimentellen Forschungsraum für ein neues Wohnen, das den Menschen als soziales Wesen in den Mittelpunkt stellt“, kostet übrigens schnöde 32.000 Euro, dafür gibt es aber ein lebenslanges Wohnrecht. Miete ist allerdings – je nach Qualität der Naturzelle – auch noch fällig.
Begeistert von dieser archaischen Form des sippenähnlichen Zusammenlebens begab sich Reporter Rethilotius auf eine geistige Reise zum Ort des Geschehens. Er kam leider wieder zurück. Hier ist sein Bericht:
„Sie haben mich gezwungen, grün zu wählen“
Es ist gegen 13 Uhr am späten Abend dieses herrlichen Sommertags im Januar, als mich Renate Blümel-Halmackenreuther am Eingang der Tempelhofsiedlung abholt. Die Liederschafferin, Kunstmacherin und ausgebildete Nagelstudiogehilfin bewohnt seit einem Jahr ein aus Naturprodukten errichtetes Indianertipi auf dem Gelände und ist mit Bewohnern und Besuchern bestens vertraut. „Willkommen in unserer Wohn-, Schicksals- und Lebensgemeinschaft“, begrüßt sie mich mit einem Lächeln und führt mich die gut hundert Schritte von dem mit NATO-Draht verzierten Eingangstor zu dem gemeinschaftlichen Essplatz, auf dem einige wenige Dorfbewohner ein spätes Frühstück oder ein frühes Abendessen zu sich nehmen.
„Seit dem Artikel in der FAZ kommen eine Menge Leute hierher“, erklärt sie, „es sind so viele, dass wir mittlerweile Führungen anbieten.“ Sie lächelt: „Allerdings mussten wir mittlerweile Vorschriften erlassen, dass unsere Bewohner nur mit biologisch und ökologisch unbedenklichen Lebensmitteln gefüttert werden, aber Sachspenden nehmen wir jederzeit gerne an“, sagt sie und lacht und reibt dabei den Daumen und den Zeigefinger der rechten Hand aneinander. Schnell sind wir per Du, dies ist in Tempelhof so üblich, erklärt Renate, „denn wenn man nur ein Zimmer hat und sich dann auf der Gemeinschaftstoilette trifft, dann ist ein Sie doch recht förmlich.“ Ich beschließe, im Tempelhof weder zu essen noch zu trinken.
Renate geht voraus zu einer der hübschen blauen Plastikgarnituren auf der Gemeinschaftsterrasse, an der ein alter Herr mit schlohweißem Haar sitzt, der eine Hirsesuppe aus selbst angebauter Hirse isst. „Das ist Erwin Katschinski, unser Dorfältester“, stellt sie ihn vor, „aber wir alle hier nennen ihn einfach nur Opa. Oder „alter Sack“. Oder „Methusalix“, stellt sie ihn lachend vor und wir setzen uns an den Tisch. Herr Katschinski sieht mich nur schweigend an, dann löffelt er weiter aus seiner Suppe. „Opa bewohnt einen ausgedienten Castor-Behälter um die Ecke, deswegen strahlt er immer so, gell, Opa?“, scherzt Renate und gibt dem alten Herrn einen Klaps auf den Rücken, so dass dieser seine Suppe verschüttet. „Er ist schon sechs Jahre hier und kennt sich aus. Du kannst ihn gerne alles fragen, was Du wissen willst, falls er Dir antwortet. Ich muss für heute abend noch den Kurs für kreative Buchführung vorbereiten“, sagt Renate und geht, und Herr Katschinski sieht mich schweigend an.
Natürlich will ich wissen, was so ein alter Herr in einer Gemeinschaft wie Tempelhof für sich sucht. Ich versuche es ganz zaghaft: „Erwin…“, hebe ich an und der Mann dreht den Kopf. „Für Sie Herr Katschinski“, erwidert er trocken und ohne den Anflug eines Lächelns. Und dann, plötzlich, packt er mich überraschend fest am rechten Arm und drückt derart zu, dass mir die Tränen in die Augen schießen. „Bitte holen Sie mich hier ’raus“, fleht er, „hier ist es ganz ganz furchtbar. Mein Sohn und seine blöde Frau sind vor vier Jahren einfach über Nacht verschwunden und haben mich hier allein gelassen. Helfen Sie mir!“
Seine Augen werden feucht. Dann beugt er sich nahe zu mir. „Ich bin mir nicht sicher, ob die sie hier nicht gefressen haben, diese Zombies“, raunt er mir verschwörerisch zu. Sein Atem riecht nach Suppe und filterlosen Zigaretten. Wie denn so das Leben in der Dorfgemeinschaft ist, will ich wissen. „Beschissen“, gibt er zur Antwort, „aber ich komme nicht weg. Einmal habe ich versucht, abzuhauen, aber sie haben mich hinter der Jurte…“, er deutet mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf ein Zelt im Rund „…wieder eingefangen! Meine Briefwahlunterlagen für die Bundestagswahl, die waren ihnen wichtig. Sie haben mich gezwungen, die Grünen zu wählen.“ Und jetzt weint er tatsächlich. Leise. Leicht schluchzend. Er sieht mich an. „Ich will sterben“, sagt er. „Ich will heim“, sagt er auch.
Ich löse mich aus seinem Griff und stehe auf. Ich habe genug gesehen. Unsere Blicke treffen sich. „Ich kann nicht. Hier sind doch alle glücklich. Und ich kann der Gemeinschaft doch nicht ihren Opi einfach wegnehmen“, erkläre ich ihm. Er sieht mich stumm und verzweifelt an. Sein weißes Haar bewegt sich in der leichten Frühlingsbrise. Ich drehe mich um und gehe zu meinem Auto. Als ich noch einmal zurückschaue, sitzt Herr Katschinski schweigend an seinem Plastiktisch, die Hände im Schoß. Sein Blick geht abweisend in die Ferne. Er summt ein Lied. Es hört sich nach der Kindermelodie von Freddy Krueger an. Nicht jedem tut die Gemeinschaft von Tempelhof gut.