Mit den gegenwärtigen Massendemonstrationen scheint die rotgrüne Welt wieder in Ordnung. Sie meinen, sie seien die Mitte der Gesellschaft, eine, die aber nur von links bis linksextrem reicht.
Dass Hunderttausende in unzähligen deutschen Städten wochenlang an Demonstrationen „gegen Rechts“ teilnehmen, ist angesichts des eher dürftigen Anlasses – ein privates Treffen im November letzten Jahres, das mit mehrwöchiger Verspätung medial zur „Wannsee-Konferenz 2.0“ aufgebauscht wurde – bemerkenswert. Weder die NSU-Morde noch der ausländerfeindliche Amoklauf eines psychisch Gestörten in Hanau oder der Mord eines Rechtsextremisten an dem Lokalpolitiker Walter Lübcke führten zu einer vergleichbaren Massenmobilisierung.
Einen unfreiwilligen, aber überzeugenden Erklärungsansatz dafür bietet ein Kommentar des taz-Redakteurs Gereon Asmuth. Nach der Spaltung der Gesellschaft durch die „latent rechtsoffenen Proteste der Bauern“ sowie die stetig wachsenden Umfragewerte für die AfD mit ihrer „sehr offen rassistischen und antihumanen Politik“ hätten die Deportationspläne der Rechtsextremen bei vielen das Fass zum Überlaufen gebracht. Bei der dadurch erzeugten Protestwelle gehe es „vor allem um die Selbstvergewisserung einer hoffentlich sehr starken Mehrheit, die die demokratische Gesellschaft mit ihrer Kuscheligkeit verteidigen will […], dieses Sicherheit gebende Gefühl, dass sich alle politischen Lager trotz heftigster Dispute am Ende gegenseitig Raum zum Leben geben“.
Abgestandene Antifa-Phrasen
Schon der letzte Satz zeigt, dass sich der Kommentator der taz in den letzten Jahren nie aus seiner Meinungsblase herausgewagt hat. Sonst wüsste er, dass selbst geringen Abweichungen vom Meinungskorridor des Mainstreams (bezüglich Energiewende, Migration, Corona etc.) keineswegs „Raum gegeben“ wird, sondern dass in solchen Fällen politische und soziale Ausgrenzung und Ächtung drohen. Toleranz und Meinungsfreiheit gewähren die Mitglieder seiner „demokratischen Gesellschaft“ (welche mit den insgesamt etwa 25 Prozent Grünen-, SPD- und Linke-Wählern identisch sein dürfte) nur ihresgleichen.
„Selbstvergewisserung“ und Bewahrung der „Kuscheligkeit“ klingen hingegen nach Therapie, und so wirken die Kundgebungen bei näherem Hinsehen auch: in Regenbogenfahnen gehüllte Menschen, die mit vor Gratismut stolzgeschwellter Brust Pappschilder wie Monstranzen vor sich hertragen, auf denen Plattitüden stehen wie „Lieber bunt als braun“. Wer die Ansprachen auf den vielen Kundgebungen der letzten Wochen auf der Suche nach wenigstens einem einzigen neuen, eigenen, originellen Gedanken durchforstet, wird enttäuscht: nur vorgestanzte, abgestandene Antifa-Phrasen, die in der medialen Berichterstattung tausendfach reproduziert und verstärkt werden. Menschen wollen „Gesicht zeigen“, „ein neues 1933 verhindern“, „es besser machen als ihre Großeltern“ etc. pp.
Die inflationär gebrauchten, maßlosen NS-Vergleiche können gar nicht drastisch genug sein, die öffentlichen Bekenntnisse triefen vom verlogenen Pathos des „nachgeholten Widerstandes“. So erklärte etwa der Braunschweiger SPD-Bürgermeister Kornblum vor 15.000 Demonstranten: „Wenn uns unsere Enkel fragen: Wo wart ihr 2024? Ihr, die ihr im Geschichtsunterricht gelernt habt, wie die Nazis die Welt in den Abgrund gezogen haben. Ihr, die ihr wusstet, was die Rechten dort am Wannsee geplant haben. […] Dann könnt ihr sagen: Wir sind aufgestanden am 20. Januar am Braunschweiger Schlossplatz, um zu zeigen: Bis hierher und nicht weiter!“
„Wir sind mehr!“, rufen dieselben Leute im Chor, die sonst gern gegen die angeblich rassistische Mehrheitsgesellschaft für angeblich diskriminierte Minderheiten auf die Straße gehen. Das ist wie Pfeifen im Wald und wird verständlich durch die Vorgeschichte: die für das Land in allen Bereichen desaströse Ampel-Politik, betrieben von der unbeliebtesten Bundesregierung aller Zeiten; in der bundesdeutschen Geschichte nie dagewesene Proteste von Landwirten, Spediteuren und Handwerkern – den wahren Leistungsträgern dieser Gesellschaft –, die ihre Forderungen alle auf einen einzigen gemeinsamen Nenner brachten: „Die Ampel muss weg!“ Zwar wurde in Politik und Medien systematisch versucht, diese Proteste als „rechts“ zu framen, trotzdem schwammen und schwimmen der rotgrünen Herrschafts- und Meinungselite für jeden sichtbar die Felle weg. Große Verunsicherung erfasste auch das dazugehörige Fußvolk.
Munition für eine dringend benötigte Gegenoffensive und Ablenkung lieferte die Potsdamer „Geheimkonferenz“, ein Treffen von 20 bis 25 Privatpersonen (teils aus CDU und AfD), die im letzten November über die „Remigration“ illegal in Deutschland aufhältlicher Ausländer diskutiert hatten. Die Enthüllungsberichte darüber warteten in der Schublade auf den geeigneten Moment und darauf, dass das passende Theaterstück fertig war; Medien und Politik dichteten in einer konzertierten Aktion die Assoziationskette „Deportation – Wannseekonferenz – Auschwitz“ hinzu, und prompt waren alle Bauern- und Handwerkerproteste, war alle Kritik an der Ampel vergessen. Was für ein Schmierentheater!
Das gekaperte „Nie wieder ist jetzt!“
Noch verräterischer als „Wir sind mehr!“ ist eine andere Parole, die ebenso häufig angestimmt wird: „Nie wieder ist jetzt!“ Die stammt aus dem Oktober 2023 und zielte eigentlich auf den Antisemitismus von Linken und Islamisten, der durch deren Sympathiebekundungen für das Massaker von Hamas-Terroristen an israelischen Zivilisten offenbar wurde. In der Folge wurden auch Juden in Deutschland bedroht, eingeschüchtert und angegriffen. Auf einmal standen linke Proteste und Demonstrationen in der öffentlichen Kritik, es war sogar die Rede von „eingewandertem Antisemitismus“, und erstmals seit Beginn der Merkel-Ära (die in der Politik der Ampel ihre Fortsetzung findet) gerieten die notorischen Verfechter einer ungesteuerten Massenzuwanderung und des In-die-rechte-Ecke-Drängens aller Kritiker der Regierungspolitik in die Defensive – für sie eine völlig ungewohnte Rolle und ein weiterer Grund ihrer Verunsicherung.
Mit den gegenwärtigen Massendemonstrationen aber scheint die rotgrüne Welt wieder „kuschelig“. Die Vertreter der Ampel-Regierung, eben noch als Versager kritisiert, setzen sich an die Spitze des Kampfes gegen Rechts. Dessen Aktivisten haben das „Nie wieder ist jetzt!“ für ihre Zwecke gekapert. Sie gerieren sich als Mitte der Gesellschaft, eine Mitte allerdings, die nur von links bis linksextrem reicht. Alle anderen geraten unter „Faschismus“-Verdacht. Nur Islamisten und andere „Israel-Kritiker“ dürfen wieder mitdemonstrieren, als hätte es den 7. Oktober und die deutsche Debatte darüber nie gegeben.
Möglicherweise haben sich manche, die jetzt „gegen Rechts“ auf die Straße gehen, gerade durch die Stichworte „Deportation“ und „Vertreibung“ im Kontext des Gaza-Krieges triggern lassen, nach dem Motto: „Was den Palästinensern gerade von Israel angetan wird, müssen wir in Deutschland unbedingt verhindern.“ Insofern wäre es interessant, die jetzigen Proteste auch auf verdeckte beziehungsweise unbewusste antisemitische Motive zu untersuchen.
Auch „Fridays for Future“, deren Galionsfigur Greta Thunberg eben noch die Klima-Bewegung in den Dunstkreis antisemitischer Gaza-Aktionen hineingezogen hatte, mischt wieder mit, denn „Faschisten wollen nicht nur die Demokratie schreddern, sondern leugnen auch die Klimawissenschaft“.
Die Versuchung der Macht
Die AfD, um die es bei den Massenprotesten geht, ist in Wahrheit Angela Merkels Geschöpf. Sie wurde als direkte Antwort auf das Diktum der Kanzlerin gegründet, ihre Politik sei „alternativlos“. Damals ging es um den Euro, doch in den Folgejahren ihrer Herrschaft wurden auch abweichende Meinungen in allen anderen wichtigen Politikbereichen (unkontrollierte Massenzuwanderung, Energiewende, Coronaregime) konsequent in die AfD-Ecke gedrängt. Echte Demokratie und Meinungsvielfalt wurden so gerade von jenen ausgehöhlt, die den Kampf für sie ständig im Munde führen. Angela Merkel setzte rotgrüne Kernforderungen unter dem Label einer konservativen Partei um.
Die Ampelparteien führen ihre Politik einer radikalen Gesellschaftsveränderung mit dreifacher Wucht und Geschwindigkeit fort, ideologiegetrieben, kritikresistent und mit dem unbedingten Willen, um jeden Preis an der Macht zu bleiben. Der Aufstieg der AfD ist der Gradmesser ihres politischen Versagens. „Macht endlich eine vernünftige Politik für das Land, dann verschwindet die ‚rechte Gefahr‘ von selbst!“, würde man ihnen gern zurufen, wüsste man nicht, dass sie blind und taub sind für die Realität.
Im ersten Teil der Film-Trilogie „Der Herr der Ringe“ bietet der Hobbit Frodo der Elbenkönigin Galadriel den Ring der Macht an, weil er sich der ihm auferlegten Bürde, diesen zu vernichten, nicht gewachsen fühlt. Galadriel, von Cate Blanchett als Verkörperung des absolut Guten gespielt, lehnt ab und demonstriert dem Hobbit – in einer erschreckenden Szene –, in welch eiskalt-bösartige Herrscherin sie sich verwandeln würde, gäbe sie der Versuchung nach. So wollte der Autor der Buchvorlage, der gläubige Christ Tolkien, zeigen, dass Gut und Böse gleichermaßen in jedem Menschen angelegt sind und dass auch gute Menschen sich unter bestimmten Bedingungen in böse verwandeln können (aber das wussten wir ja schon aus „Star Wars“).
Die Parteien der Ampel-Regierung, die zur Verteidigung der Demokratie aufrufen und doch nur den eigenen Machterhalt meinen, die sich eine „Zivilgesellschaft“ nur noch als blind ergebene Anhängerschaft vorstellen können, die Kritiker dämonisieren und abweichende Meinungen diffamieren, zeigen, dass sie – anders als die Elbenkönigin – den Ring der Macht längst in Besitz genommen haben. Um den eigenen Machterhalt abzusichern, schaffen sie gerade das, wovor sie selbst unentwegt warnen: einen autoritären Staat, für den echte Demokratie und Meinungsvielfalt nurmehr hohle Schlagworte zur Wahrung der Fassade sind.
Oliver Zimski ist Übersetzer, Sozialarbeiter und Autor. 2015 erschien sein Kriminalroman „Wiosna – tödlicher Frühling“.