Wissen Sie, was das Karpaltunnelsyndrom ist? Diese sehr schmerzhafte Erkrankung zählt zu den indirekten Folgen der weltweit grassierenden Seuche; indirekt, weil man das Karpaltunnelsyndrom auch ohne jeglichen Kontakt mit Covid-19 bekommen kann. Es entwickelt sich gerne über einen längeren Zeitraum hinweg und wird bevorzugt durch das mangels sozialer Außenkontakte besonders exzessive Scrollen und Tippen auf tragbaren Mobilgeräten wie Smartphones und Tablets hervorgerufen. Oft wird das Karpaltunnelsyndrom begleitet von einer massiven Gewichtszunahme, vor allem dann, wenn man beim stundenlangen Scrollen und Tippen auf dem Sofa liegt und sich höchstens mal erhebt, um etwas Nahrung zu sich zu nehmen.
Zu den Folgen der – ich sagte es bereits – äußerst schmerzhaften Erkrankung gehört das Schreiben extrem kurzer Texte. Fasse dich kurz! Jeder Buchstabe bereitet Qualen, jedes Satzzeichen wird hinterfragt („Muss ich es wirklich tippen? Versteht es der Mailempfänger nicht auch so? Oder hält er mich dann für einen debilen Deppen, nicht einmal fähig, die rudimentärsten Regeln der Zeichensetzung zu beherrschen?“). Das ist alles nicht sehr schön, und erst vorgestern habe ich herausgefunden, dass mein Tablet eine Worterkennungsfunktion besitzt, ich Text also auch diktieren kann. Und das erstaunlich präzise, selbst das Wort „Karpaltunnelsyndrom“ wurde trotz mehrfacher, absichtlich zunehmend nuscheliger Sprache („'arpltnnlsünderm“) korrekt in Buchstaben umgesetzt. Und das bei einem Gerät der Firma Nichtvonapple für keine 100 Euro. Schon erstaunlich, was diese Chinesen konstruktiv im Viren- wie im Gerätebau alles drauf haben.
Dennoch will ich den heutigen Text nicht ausufern lassen. Am Ende müssten Sie vielleicht zu viel scrollen und bekommen dann selber ein Karpaltunnelsyndrom, das, ich erwähnte es bereits, eine extrem, kaum auszuhaltende, äußerst schmerzhafte Erkrankung ist. Bei mir zeigt es sich am Schlimmsten an der Hand, dort, wo Zeige- und Mittelfingerwurzel aufeinander treffen. Was sich eindeutig auf Scrollen und Tippen zurückführen lässt. Ich habe mir diese Finger jetzt aneinandergetapet, so dass sie steif sind, immer beide in die selbe Richtung weisen und nicht auseinander gespreizt werden können. Damit verhindere ich ein wenig den ansonsten unvermeidbaren Vernichtungsschmerz, den ein ausgeprägtes Karpaltunnelsyndrom hervorrufen kann. Der Nachteil der zusammengebundenen Finger: Hilflosigkeit, bis hin zu Tollpatschigkeit. Versuchen Sie so mal, eine Tasse zu halten. Eine Gabel. Eine Zahnbürste. Whisky zu entkorken. Ein randvolles Glas zum Mund zu führen. („Trinken Sie viel?“ „Nein, das meiste verschütte ich.“) Eine Cigarre anzuschneiden. Oder zu schreiben.
Vor ein paar Tagen beinahe aus dem Koran zitiert
In vielem, eigentlich dem meisten, geht mir Covid-19 aber weitgehend am Siewissenschon vorbei. Weitgehend heißt: nicht völlig. Gerne würde ich mir mal den Pony schneiden, um beim Essen nicht ständig Haare im Mund zu haben, aber Sie können sich denken, dass jemand, der am unerträglich unerträglichen Karpaltunnelsyndrom leidet, keine Schere bedienen kann. Mit Links würde es zwar gehen, aber bei dem zu erwartenden Ergebnis sind Haare im Mund das kleinere Übel. Auch mein Bart wäre gerne wieder drei Tage, statt drei Monate dicht; beim morgendlichen Blick in den Spiegel hätte ich vor ein paar Tagen beinahe aus dem Koran zitiert. Andererseits reibt Kater Django jetzt besonders gerne seinen Kopf an meinem Gesicht, bevorzugt, wenn er nachts nass und kalt von draußen reinkommt.
Als leidenschaftlicher, professionell seit Jahrzehnten tätiger Misanthrop kenne ich jedoch die meisten Einschränkungen, verursacht durch die verschiedenen Lockdown-Varianten, überhaupt nicht. Sich abends mit Freunden in der Kneipe treffen? Ich habe keine Freunde. Familienfeiern? Verabredungen zum Essen? Gemeinsame Spaziergänge, Wanderungen, Museumsbesuche, Demos, Konzert- und Kinobesuche? Weihnachten im Kreise der Lieben? Alles nicht Teil meines Lebens. Nicht vor Corona, nicht während, nicht danach (falls es jemals wieder ein Danach geben sollte). Die Hölle, das sind nun mal die Anderen. Ich hock' in meinem Bonker, über mir drei Meter Stahlbeton.
Und einen Fegelein brauche ich erst recht nicht. Nur wieder funktionierende Finger. Ein Karpaltunnelsyndrom ist nicht nur bis zur Unerträglichkeit schmerzhaft, es kann sich auch über sehr lange Zeit einnisten, oder anders ausgedrückt: über viele Lockdowns. (Wer unter Ihnen nützliche Tipps geben kann, aus eigenem Erleben, sofern der jenseits alles Erträglichen quälende Schmerz nicht zu Wahnsinn und Selbstentleibung geführt hat: Ich bin für jeden Ratschlag dankbar!)
Besonders enge Kontakte zu den Rothschilds
Anfang der Woche musste ich einmal das Haus verlassen; Sie können sich vielleicht vorstellen, welche Qualen mir das mit wenig Plagen vergleichbare Karpaltunnelsyndrom beim Autofahren bereitete. So gerne ich auch Aktionen vermeide, die mich in die kleine enge Stadt führen: Die alle drei Monate fällige „Große Hafenrundfahrt“ beim Urologen auszulassen, ist mir zu riskant; nicht, dass ich noch unberechtigt in die Liste der vorerkrankten Coronatoten eingereiht werde – das würde mich extrem ärgern. Ich stand schon vor der Praxis, da fiel mir angesichts der mit Zetteln und Plakaten vollgetackerten Türe ein, dass ich keine Maske dabei hatte. Also retour zum Auto und aus dem Handschuhkasten den längst nicht mehr weißen, geschweige denn sterilen Lappen gefingert. Ich will auf keinen Fall wissen, wer da alles drin sitzt. Hauptsache, dem Maskenzwang ist Genüge getan und die Hafenrundfahrt findet nicht ohne mich statt.
Der Arzt sympathisch und humorvoll wie immer. Er ist einer von den Typen, bei denen man noch ein „Sie haben noch vier Wochen zu leben!“ mit lautem, vergnügtem Lachen quittieren würde. Aber er ist auch noch recht jung; mal sehen, wie er drauf ist, wenn er weitere drei Jahrzehnte Tag für Tag alten, meist weißen Männern … aber lassen wir das. Für die nächsten drei Monate habe ich wieder Ruhe, wenngleich seine Bemerkung „Wir müssten doch mal über eine Operation nachdenken, aber nicht, solange Corona grassiert“ in meinen Ohren einen etwas unschönen Schatten hinterlassen hat. Andererseits hat er ja nichts anderes gesagt als „Die OP hat locker noch zehn, fünfzehn Jahre Zeit.“
Als ich sagte „Ich habe keine Freunde“, habe ich natürlich etwas kokettiert. Da ist Freund Joshi, Ihnen vielleicht bereits aus früheren Berichten bekannt. Joshi ist mein ganz privater „Meet a Jew!“ und hat besonders enge Kontakte zu den Rothschilds; er hält mich zuverlässig über den Stand der Dinge in Sachen Neue Weltordnung auf dem Laufenden (Ergänzend sei erwähnt, dass ich vor kurzem in einer Kiste auf dem Dachboden das Handbuch von Windows 1.0 wiederfand, da steht noch die private Telefonnummer von Bill Gates drin, 555-88-666).
Man sollte sich als Misanthrop nicht mit alten Freunden treffen
Und als ich am vergangenen Sonntag bei strahlend blauem Himmel und 6°C Außentemperatur eine Runde mit dem offenen MG machte, lief mir Freund Fred hinters Auto. Fred wohnt keine 3 km Luftlinie von mir entfernt, gesehen haben wir uns aber sicher 10 Jahre nicht mehr. Zwar ist mir außerhalb des eigenen Haushalts wegen der Seuche nur eine weitere Kontaktperson erlaubt (was völlig in Ordnung geht), aber da ich nicht wusste, ob pro Tag, Woche, Monat oder Jahr, setzte ich mich darüber hinweg und trank in Freds gemütlichem Fachwerkhaus, umgeben von Wiesen, Wäldern und Weiden, einen Kaffee. Und dann kamen wir so sehr ins Erzählen („Erinnerst du dich noch an...?“ „Erinner' mich bloß nicht daran!“), dass ich seitdem im Hals einen dort nicht hin gehörenden Schmerz verspüre, der mich fatal an das Karpaltunnelsyndrom in der rechten Hand erinnert. Noch ist es nicht ganz weg. Man sollte sich als Misanthrop einfach nicht mit alten Freunden treffen, und wenn, dann schweigend. Wir tauschten uns unter anderem auch darüber aus, dass wir seit langem weder Staatsrundfunk noch -fernsehen konsumieren. Als ich zu Hause ankam, machte ich unbedacht die CD-Radio-USB-MP3-UKW-Radiotuner-Kombination mit Netz- und Batterie-Betrieb an, und es erklang eine Stimme: „...gibt es eben mehr als nur zwei Geschlechter...“
Es war im August, da unternahm ich eine andere längere Ausfahrt und besuchte eine liebe Freundin in der Eifel. Ulla Haesen, die Interpretin beschwingter brasilianischer Sambas und Bossa Novas, war allerdings in Eile, der letzte Feinschliff an ihrem neuen Album Prendila Così im Tonstudio stand an; im Oktober ist das Album nun erschienen. In Folge der Coronaverbote kann man Ullas Musik derzeit nicht live erleben, um so mehr lege ich Ihnen das Album ans Ohr. Wenn es Sie wundert, dass der erste Titel nicht brasilianisch, sondern finnisch inspiriert ist: dort liegen Ullas familiäre Wurzeln. Hier können Sie in die Platte reinhören.
Da ich nicht weiß, ob ich vor Weihnachten (2020? 2021?) noch einmal zum Schreiben, pardon, Diktieren komme, lasse ich Ihnen schon hier und heute meinen alljährlich liebsten Gruß zum Fest zukommen. Seit mehr als zehn Jahren gehört dieser Gruß zu den persönlichen Highlights der ansonsten so stillen, besinnlichen Zeit. Doch, ja, ein wenig kann ich Weihnachten durchaus abgewinnen.