Von Jérôme Buske.
Heute vor einundvierzig Jahren starb Jean Améry im Alter von fünfundsechzig Jahren. Nur zwei Jahre, nachdem er mit seiner philosophischen Abhandlung über den Selbstmord die Bundesrepublik polarisierte und darin die Szene seines Suizids beschrieb, setzte er diese Überlegungen mittels einer Überdosis Schlaftabletten in die Tat um.
Wer war der Schriftsteller und Intellektuelle, der in „Hand an sich legen“ den Selbstmord als eine Wahl der Freiheit legitimierte? Der gebürtig Hans Mayer hieß und sein „Weltvertrauen“ während der Folter durch die Gestapo im belgischen Fort Breendok irgendwo zwischen Brüssel und Antwerpen verlor?
Améry flieht nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich im Jahr 1938 in das noch unbesetzte Belgien, wo er sich der kommunistischen Resistencia anschließt. Nach der Verteilung antifaschistischer Flugblätter wird er von der Gestapo festgenommen und von der SS in Belgien gefoltert. Nachdem seine Aktivitäten im Widerstand bekannt wurden, deportierten die Nationalsozialisten ihn aufgrund seiner doppelten Eigenschaft als Jude und als Angehöriger der belgischen Résistance unter anderem über Buchenwald, Bergen-Belsen sowie Gurs nach Auschwitz-Monowitz, dem Nebenlager jenes Ortes, der wie kein anderer für die singulären Verbrechen der Deutschen gegenüber den Europäischen Juden steht.
Das Nachkriegsdeutschland konfrontieren
Obwohl in Deutschland, dem heutigen Erinnerungsweltmeister, die Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Unrecht immer wieder zur Disposition gestellt wurde, war Améry spätestens nach dem Erscheinen von „Jenseits von Schuld und Sühne“ nie ein Protagonist ohne Name und ohne Gesicht. Seine Erfahrung von Flucht, Verfolgung und Deportation beschrieb er in einer Bundesrepublik, die eben erst aus dem Nationalsozialismus hervorgegangen war. Améry konfrontierte die deutsche Öffentlichkeit, indem er sich in intellektuelle Debatten einmischte. Vor dem Hintergrund des Eichmannprozesses bestritt er sowohl Hannah Arends These von der „Banalität des Bösen“ als auch die positivistische Philosophie – nicht zuletzt aus einem existenzialistischen Freiheitsverständnis heraus.
In der Zeitschrift „Der Merkur“ setzte er sich mit den Vorlesungen Theodor W. Adornos auseinander, dem er in einem Brief seine Hochachtung bescheinigte. Adorno wiederum machte den Essay „Die Tortur“ zum Gegenstand seiner Frankfurter Vorlesung über „Metaphysik und Tod nach Auschwitz“. Vor dem historischen Hintergrund der durch den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer initiierten Frankfurter Auschwitz-Prozessen in den 1960er Jahren erschien im Jahr 1966 die Essaysammlung „Jenseits von Schuld und Sühne – Bewältigungsversuche eines Überwältigten“. Améry beschreibt darin den Lageralltag des Intellektuellen, reflektiert über die Frage der Heimatlosigkeit und des inneren Exils sowie seine jüdische Biographie. Aber auch tagespolitisch bezog er immer wieder Position. Diskussionen, in die er sich einmischte, drehten sich beispielsweise um die Reparationszahlungen an Israel (1950er Jahre) und den Historikerstreit (1980er Jahre).
Amérys Biographie und die Debatten über die deutsche Erinnerungskultur überkreuzten sich auch im örtlichen Sinne: Am 28. Juli 1940 wurde er in Gurs interniert, einem Lager des Vichý-Regimes, in der Nähe der spanischen Grenze. Wegen der vergleichsweise späten Aufarbeitung der Kollaboration des südlichen Frankreichs mit den Nationalsozialisten wurde eine offizielle Gedenkstätte für das Internierungslager, das vorrangig für Antifrancisten im Spanischen Bürgerkrieg errichtet worden war, erst in den 1990er und 2000er Jahren offiziell eingeweiht. Im Jahr 2017 forderte die Landtagsfraktion der AfD Baden-Württemberg dann in einem Änderungsantrag „zum Entwurf des Staatshaushaltsplans“, die Landesförderung in Höhe von 120.000 Euro für die Gedenkstätte Gurs zu streichen. Von ihr beklagt wurde der angebliche „Erinnerungstourismus in den Pyrenäen“ sowie die „einseitige Betonung der dunklen Geschichtskapitel bei gleichzeitiger Verdrängung unserer historischen Leistungen.“
Die Schmach der Vernichtung
Die Folterung durch die Gestapo im Jahr 1943 bezeichnet Améry als „das fürchterlichste Ereignis, das ein Mensch in sich bewahren kann.“ Die traumatische Erfahrung der Folter hielt er in seinem Aufsatz „Die Tortur“ fest, der in „Jenseits von Schuld und Sühne“ erschien. Die in den Protokollen mit deutscher Genauigkeit festgehaltene Folter sei ein nichtrationaler Akt und gleichzeitig notwendige Essenz der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft. Er betont das Gefühl absoluter Entmenschlichung und des Ausgeliefertseins sowie das Nichtvorhandensein einer Hilfserwartung. Dieser öffentlichkeitswirksame Text, inklusive der Beschreibung der Schmerzen und Schläge in der „kellerig-feuchten Luft der Festung Breendok“, stellten in der neuen Bundesrepublik ein Novum dar: Sie legten die viehischen Züge des Nationalsozialismus offen.
Die Animalität des NS-Vernichtungsvollzuges bringt Améry an die Grenzen des Verstandes; er spürt die Fragilität des eigenen Lebens. In seinem häufig rezipierten Essay spricht er vom „in der Tortur eingestürzten Weltvertrauen“. Die Folter begleitete ihn sein Leben lang, da sie in einem gewissen Sinne nie wirklich vorbei sei. Die Schmach der Vernichtung lasse sich nicht tilgen, das eingestürzte Weltvertrauen nicht wiedergewinnen.
Amérys Texte haben es „eilig“ und gehen nicht chronologisch vor. In „Die Tortur“ vertauschen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wobei der Gefolterte sein Erlebnis aus historischer und existenzphilosophischer Perspektive schildert. Améry wechselt zwischen der Beschreibung seiner persönlichen Folter und gesellschafts- und geschichtspolitischen Reflexionen hin und her. Während er die Folter als „Essenz des Nationalsozialismus“ bezeichnet und diesen deshalb als nicht reformierbar betrachtet, gesteht er konträr zu Totalitarismus-theoretischen Vorstellungen der UDSSR zu, sich entstalinisiert zu haben. An anderer Stelle beschreibt er den totalen Zusammenbruch der ästhetischen Todesvorstellung in Auschwitz, um dieses Ereignis unmittelbar danach auf die deutsche Romantik sowie Wagner, Schopenhauer und Mann zu beziehen.
Vehemente Kritik an der deutschen Linken
Neben der literarischen Verarbeitung der Zeit zwischen 1938 und 1945 behielt er immer ein kritisch-solidarisches Verhältnis zur deutschen und globalen Linken, wobei er es sich nicht nehmen ließ, die weit verbreitete schwarz-weiße Weltsicht, die vulgärmarxistische Ideologie sowie den linken Antizionismus vehement zu kritisieren.
Trotz Sympathien gegenüber der Linken – 1943 tritt er der österreichisch-kommunistischen Widerstandsgruppe bei –, war er von der schlechten Aufhebung der Achtundsechziger in K-Gruppen und die Grünen enttäuscht. Ein Dorn im Auge war ihm die inflationäre Verwendung des Begriffs „Faschismus“, die auch vor der Diffamierung Israels nicht haltmachte und in der linken Debatte zum Sechs-Tage-Krieg virulent wurde. Darum hielt er im Vorwort zu Schuld und Sühne fest:
„Das sowohl politische und jüdische Nazi-Opfer, das ich war und bin, kann nicht schweigen, wenn unter dem Banner des Anti-Zionismus der alte miserable Antisemitismus sich wieder hervorwagt. [...| Das hätte ich mir nicht träumen lassen, als 1966 meine Schrift in erster Auflage erschien und ich als Gegner nur jene hatte, die meine natürlichen sind: Die Nazis, die alten und neuen, die Irrationalisten und Faschisten, die reaktionäre Brut, die 1939 die Welt in den Tod geführt hatte. Daß ich mich heute wider meiner natürlichen Freunde, die jungen Frauen und Männer der Linken, zu erheben habe, ist mehr als die strapazierte Dialektik. Es ist eine jener üblen Farcen der Weltgeschichte, die einen am Sinne jeglichen historischen Geschehens zweifeln und am Ende verzweifeln machen.“
„Du warst zu fremd.“
Die Kritik der regressiven Linken (aktualisiert in Amérys „Unmeisterliche Wanderjahre“), ist auch im Jahr 2019 noch nötig. Immer noch wird der Holocaust politisch instrumentalisiert, immer noch Schindluder mit dem Faschismusbegriff betrieben. Améry blieb bis zum Ende ein Mahner, der das Ressentiment gegenüber den Deutschen hegte, was sich auch in der Bewertung der deutschen Sprache widerspiegelte. Im resignativen Duktus urteilte er über die Sprache der Täter: „Du warst zu fremd.“
Jean Améry war ein Linksintellektueller, der versucht hat, die deutsche Nachkriegsgesellschaft über die NS-Verbrechen aufzuklären, der die Erfahrung des Konzentrationslagers vermitteln wollte, ohne dabei auf die sogenannte Lagerliteratur reduziert werden zu können. Im Unterschied zu seinem „Barackenkameraden“, Primo Levi, konnte er den Deutschen nicht mehr verzeihen. Améry wurde am 31. Oktober 1912 in Österreich geboren und starb am 17. Oktober 1978 in Salzburg. Seine Erfahrung deutscher Tortur ließ ihn nie mehr los: „Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in dieser Welt.“
Jérôme Buske hat Politik- und Kulturwissenschaften studiert und arbeitet im Bereich der politischen Bildung u.a. für das Kultur- und Begegnungszentrum Ariowitsch-Haus in Leipzig. Seine inhaltlichen Schwerpunkte sind kritische Gesellschaftstheorie, Autoritarismusforschung und Erinnerungspolitik. Zuletzt referierte er zum Antisemitismus in der AfD und zur kritischen Theorie Erich Fromms.
Literatur
Heidelberger-Leonard (2005), Jean Améry. Revolte in der Resignation. Biographie. 2. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta.S. 85 -98; S. 145 – 185; S. 200 -216;
Haury, T. (2002). Antisemitismus von links: Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR. Hamburg;
Jean Améry: Werke, Bd. 2: Jenseits von Schuld und Sühne
Unmeisterliche Wanderjahre; Örtlichkeiten. Hg. von Gerhard Scheit. Hg. v. Deutschlandfunk. Online verfügbar hier.