Von Edgar L. Gärtner.
Dieses Buch erzählt Geschichten von kleinen und großen Tieren von Seepferdchen bis zu Elefanten und Narwalen, in denen sich manchmal jahrtausendealte Irrtümer von Aristoteles bis Plinius dem Älteren widerspiegeln – so wie auch wir weiter irren.
Zu Weihnachten 2023 schenkte mir meine Frau ein luxuriös ausgestattetes Büchlein mit dem Titel "Warum die Giraffe nicht in Ohnmacht fällt" der bekannten britischen Autorin Katherine Rundell. Hätte ich es nicht geschenkt bekommen, wäre ich wahrscheinlich gar nicht auf dieses Buch aufmerksam geworden, obwohl ich mich als Zoologe selbstverständlich außer für wissenschaftliche Fachbücher auch für literarische Tiergeschichten interessiere.
In der Tat handelt es sich hier um eine Sammlung von 20 Geschichten von kleinen und großen Tieren von Seepferdchen bis zu Elefanten und Narwalen. Dabei geht es nur selten um Auszüge aus dem Zoologie-Lehrbuch, sondern um Kuriositäten, in denen sich manchmal jahrtausendealte Irrtümer vom Griechen Aristoteles und vom Römer Plinius dem Älteren widerspiegeln. Wobei die Autorin gleich darauf hinweist, es gebe keinen Grund zur Annahme, dass wir heute nicht genauso viel falsch verstehen wie unsere Vorfahren.
Katherine Rundell stellt ihre literarische Sammlung unter das Motto des bekannten britischen Autors G. K. Chesterton: „Der Welt wird es nie an Erstaunlichem mangeln, sondern nur am Staunen.“ Dabei nimmt Rundell, im Unterschied zu Chesterton, das Wort „Wunder“ nie in den Mund. Denn die darwinsche Evolutionstheorie, zu der sie sich bekennt, wurde bekanntermaßen erfunden, um Wunder wegzudefinieren. Ich selbst glaube nicht daran, dass man alles lückenlos erklären kann, auch wenn man davon ausgehen kann, dass genaue Beobachtung und Experiment dem „Wie“ eines Naturprozesses schrittweise auf die Spur kommen.
Kein richtiges Sommergefühl ohne Mauersegler
Aber mit dem „Wie“ weiß man oft noch nichts über das „Warum“. Ich vermute sogar, dass eine wissenschaftliche Definition von Leben gar nicht möglich ist, dass hier also die abrahamitischen Religionen richtig lagen. Warum etwa legt der winzige Mauersegler, der nur über Stummelfüßchen verfügt und kaum je zur Erde kommt, im Laufe seines relativ kurzen Lebens etwa zwei Millionen Kilometer mit einer Geschwindigkeit von bis zu über 110 km/h zurück? Für Ted Hughes sind die Mauersegler Apus apus in erster Line ein poetisches Thema: In den 1970er Jahren dichtete er über sie:
„Sie haben es wieder geschafft,
Das heißt, der Erdball funktioniert noch,
die Schöpfung
erwacht mit frischen Kräften, unser Sommer
Liegt noch ganz und gar vor uns“
Auch ich gerate regelmäßig in Hochstimmung, wenn die Mauersegler bis spät in die Nacht über meiner deutschen Heimatstadt mit lautem Pfeifen hunderttausenden von Insekten nachjagen. Kein richtiges Sommergefühl ohne Mauersegler. Leider verabschieden sich die Wundervögel schon im frühen August Richtung Süden.
Auch über das Einhorn, den Narwal, gibt es wunderliche Geschichten. Wozu das bis zu zweieinhalb Meter lange Einhorn gut ist, wusste man lange Zeit überhaupt nicht. Die russische Herrscher-Legende Iwan der Schreckliche ließ sich im Jahre 1584 ein reich verziertes Einhorn ans Sterbebett bringen, denn den Hörnern schrieb man eine magische Heilwirkung zu. Die vornehmsten Kirchen legten Einhornscheiben in Weihwasser. Heute wissen wir, dass das Horn von rund 10 Millionen Nervenenden durchsetzt ist und dass es eine positive Korrelation zwischen der Hornlänge und der Hodengröße der auffälligen Wale gibt. Die Hörner wirken also auch als Sexappeal. Damit ist ihre Funktion aber wahrscheinlich noch nicht ansatzweise umschrieben.
Igel mit Laktoseintoleranz
Einen besonderen kulturhistorischen Platz nimmt das Titeltier, die Giraffe ein. Als im Jahre 1827 als Geschenk für den damaligen französischen König Charles X. eine Giraffe nach Paris kam, löste das eine Mode-Revolution aus. In Anspielung auf den langen Hals und die langen Beine des afrikanischen Tieres ließen sich die feinen Damen mithilfe von Schweineschmalz und Orangenblüten Turmfrisuren kreieren.
Es gab auch Giraffenporzellan, Giraffenseife, Giraffen-Halstücher, Giraffentapeten und vieles andere. Wozu der lange Hals des Tieres gut war, wusste eigentlich niemand, und noch heute tappen wir da weitgehend im Dunkeln. Aber man machte sich Gedanken über die Frage, wie die Giraffe es vermeidet, dass sie beim plötzlichen Senken ihres Kopfes nicht in Ohnmacht fällt.
Gilt England als zivilisiertes Land, weil man hier seit 1290 keinen lebenden Wolf mehr gesichtet hat? Hat es jemals Werwölfe gegeben? Ist der Wolf wirklich der Feind des Menschen? Fragen, über die wir uns noch heute genauso streiten wie im Mittelalter. Bei kleineren Genossen der Arche wie dem Igel sind wir da zum Glück etwas weiter. Die schönsten Igel-Legenden stammen von Plinius dem Älteren. Es war Plinius, der in seiner Historia naturalis aus dem Jahre 77 die Geschichte vom vegetarischen, Wintervorräte anlegenden Igel-Eichhörnchen in die Welt setzte. Auch Charles Darwin trug dieses Gerücht weiter. Heute wissen wir, dass Igel von Kleintieren und Aas leben und keine Vorräte anlegen. Unbedingt wissen sollte man, dass Igel eine Laktoseintoleranz haben und folglich an der ihnen oft in bester Absicht verabreichten Milch elendig sterben können.
Manche Tiere sind ein richtig großes Geschäft, auf dem sich mächtige multinationale Konzerne tummeln. Das betrifft nicht nur den schuppigen Ameisenbär Pangolin, das am meisten gehandelte Tier der Welt, dessen Schuppen eine Schlüsselrolle in der traditionellen chinesischen Medizin spielen, sondern auch den Thunfisch, den einzigen gleichwarmen Fisch der Welt. Der japanische Mitsubishi-Konzern kontrolliert 40 Prozent des Weltmarktes für Blauflossen-Thunfisch. Der Konzern ist dabei, große Vorräte von tiefgefrorenem Thunfisch anzulegen. Daher die Vermutung, dass die Bosse auf die Ausrottung des begehrten Speisefisches spekulieren. In diesem Fall würde der Weltmarktpreis für gefrorenen Thunfisch schlagartig explodieren.
Mehr von den 20 Tiergeschichten möchte ich hier nicht verraten. Ich möchte aber noch darauf hinweisen, dass sich am Ende des Büchleins eine Literaturliste findet, in der die Leser zu jedem der besprochenen Tiere Hinweise auf seriöse zoologische Literatur finden. Außerdem weist die Autorin, die in meinen Augen ohnehin den Klimawandel etwas zu ernst nimmt, darauf hin, dass sie die Hälfte ihres AutorInnenhonorars Initiativen zur Eindämmung des Klimawandels spendet.
Warum die Giraffe nicht in Ohnmacht fällt – und andere Kuriositäten aus dem Tierreich. Hardcover Leinen, 208 Seiten, 2023, Verlag Diogenes Euro 25.
Edgar L. Gärtner ist studierter Hydrobiologe und Politikwissenschaftler. Seit 1993 selbständiger Redakteur und Berater, als solcher bis 1996 Chefredakteur eines Naturmagazins. Bis Ende 2007 Leiter des Umweltforums des Centre for the New Europe (CNE) in Brüssel. In Deutschland und in Südfrankreich ist er als Autor und Strategieberater tätig.