Von Martin Voigt.
Trans-Ideologie ante portas: Der neuen Leitlinie zur Behandlung minderjähriger Trans-Patienten mangelt es an wissenschaftlicher Evidenz. Sie ist nun eine "Konsens-Leitlinie".
Pubertätsblocker, Hormone und Brustamputation; Selbstbestimmung der Patienten statt ärztliche Diagnose; keine Psychotherapie – das sollen die Kernpunkte der neuen Behandlungsleitlinie für den Umgang mit Kindern und Jugendlichen sein, die von "Geschlechtsinkongruenz" oder "Geschlechtsdysphorie" betroffen sind. Vergangene Woche hat die Leitlinienkommission ihren Entwurf der Presse vorgestellt.
Bisher gab es lediglich Leitlinienempfehlungen für erwachsene Trans-Patienten. An den lang erwarteten pädiatrischen Orientierungshilfen hatte die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) unter Führung des Kinder- und Jugendpsychiaters Georg Romer aus Münster sieben Jahre lang geschrieben. Insgesamt 27 medizinische Fachgesellschaften, darunter zwei Trans-Verbände, sind an dem 320 Seiten langen Entwurf beteiligt. Die Leitlinien für den Umgang mit geschlechtsdysphorischen Minderjährigen richten sich an Ärzte und Therapeuten im deutschsprachigen Raum.
Einer der Autoren ist die Schweizer Kinderpsychiaterin Dagmar Pauli. Sie sagte der Welt, die Leitlinienkommission habe sich im Grundsatz an den "internationalen Leitlinien" der Transgender-Organisation "WPATH" orientiert. Die World Professional Association for Transgender Health (WPATH) ist jedoch vor kurzem massiv in die Kritik geraten. An die amerikanische Presse durchgestochene Gesprächsmitschnitte von WPATH-Ärzten haben einen radikal trans-affirmativen und menschenverachtenden Umgang mit minderjährigen Trans-Patienten offenbart.
Selbstdiagnosen sollen ärztliche Diagnose ersetzen
Die neuen deutschen, ebenfalls trans-affirmativen Leitlinien standen wegen der fehlenden Evidenz von Pubertätsblockern und Hormonen jedoch schon vor dem WPATH-Leak unter Beschuss, was auch zu der langen Entstehungszeit von sieben Jahren geführt haben dürfte. Ursprünglich war sie nämlich als sogenannte S3-Leitlinie angemeldet worden. Den S3-Status erhalten Leitlinien, wenn sie auf medizinischer Evidenz basieren, das heißt, wenn es eine Studienlage gibt, die die Vorgaben der Kommission wissenschaftlich bestätigt. Das ist jedoch bei den vorliegenden Empfehlungen zur Behandlung der minderjährigen Trans-Patienten nicht der Fall, weshalb die Leitlinie Anfang des Jahres 2024 auf den Status einer sogenannten S2k-Leitlinie herabgestuft wurde. Es handelt sich nun nicht mehr um eine evidenzbasierte sondern nur noch um eine konsensorientierte Leitlinie und das sagt nichts weiter aus, als dass die Mitglieder der Leitlinienkommission zu einer gemeinsamen Meinung gefunden haben.
Dass der nun vorgestellte Konsens sich tatsächlich an der Sichtweise der internationalen Trans-Lobby orientiert, zeigt sich schon in der Präambel der Leitlinie: "Die geschlechtliche Identität einer Person ist höchstpersönlicher Natur", heißt es dort. Die "Förderung der Selbstbestimmung" sei ein wesentliches Anliegen der Behandlung. Die Selbstwahrnehmung und Selbstdiagnose der minderjährigen Patienten sollen also die ärztliche oder psychotherapeutische Diagnose ersetzen. Kinder und Jugendliche, die sich als trans identifizieren, sollen selbst vorgeben, ob sie ihre Körper teilweise irreversiblen medizinischen Behandlungen unterziehen.
Die neue Leitlinie nennt konkrete Empfehlungen für den Einsatz von medizinischen Behandlungen und operativen Eingriffen. Pubertätsblocker sollen schon ab dem "Tanner 2"-Stadium verschrieben werden. Gemeint ist damit die frühe Phase der Geschlechtsentwicklung, also etwa die beginnende Entwicklung der weiblichen Brust und die erste Volumenzunahme der männlichen Hoden. Darüber hinaus gehören zu den Behandlungsmethoden bei Minderjährigen mit "Geschlechtsdysphorie" unter anderem die Gabe von gegengeschlechtlichen Hormonen sowie die Entfernung der sich entwickelnden Brust bei Mädchen.
Es geht um Meinung, nicht um medizinische Wissenschaft
Eine Psychotherapie, also die Erkundung und seelische Einordnung der ursächlichen Probleme, die der Geschlechtsdysphorie vorgelagert sein könnten, wird als Behandlungsmethode nicht empfohlen. Da es sich bei Geschlechtsinkongruenz um "keine psychische Erkrankung" handle, müsse man die betroffenen Kinder und Jugendlichen in ihrer "geschlechtlichen Identität" bestärken, findet die Mit-Autorin und Diplom-Psychologin Sabine Maur. Der Versuch, sie mit ihrem natürlichen Geschlecht auszusöhnen, fiele hingegen in den Bereich von "Konversionsmaßnahmen". Maur spielt damit auf die inzwischen untersagte Psychotherapie für Homosexuelle an, die zum Ziel hat, die meist erwachsenen Männer auf ihren eigenen Wunsch hin von ihrer sexuellen Orientierung zu befreien. Die Absicht, die erfolgreiche Ächtung der Konversionstherapie nun auch auf die Psychotherapie für Transgender-Patienten auszuweiten, ist eine beliebte Einschüchterungsstrategie der Trans-Lobby.
Aus Sicht der Leitlinien-Autoren sei die Geschlechtsdysphorie, unter der vor allem unzählige Mädchen plötzlich während der Pubertät zu leiden beginnen, keine psychische Erkrankung. Jedoch können psychiatrische Begleiterkrankungen wie Depressionen oder Autismus auftreten, die psychotherapeutisch behandelt werden könnten. Viele Ärzte beobachten jedoch genau den umgekehrten Sachverhalt, nämlich dass die sich im geschlechtlichen Zugehörigkeitsempfinden manifestierenden Identitätskrisen als kulturell moderne Begleiterscheinung ursächlicher Persönlichkeitsstörungen zu werten sind. Dafür spricht, dass etwa drei Viertel der jungen Patienten bereits in psychiatrischer Behandlung waren und ihre Transgender-Selbstwahrnehmung erst unvermittelt während der Pubertät auftritt. Vor allem die soziologische Perspektive auf das Phänomen der sich rapide häufenden Trans-Selbstdiagnosen widerspricht der Behauptung von der natürlichen Anomalie, im "falschen Körper/Geschlecht" geboren worden zu sein.
Hier zeigt sich deutlich, dass es den Autoren der Leitlinie weniger um medizinische Wissenschaft als um ihre Meinung zu dem Thema geht. Denn anstatt kritische Studien und Untersuchungen einzubeziehen oder zumindest wahrzunehmen, fährt die Kommission einen ideologischen Kurs, der dem der WPATH in nichts nachsteht. So bleibt zum Beispiel die Frage unbeantwortet, wie präpubertierende Kinder ein Verständnis für die unerforschten und meist irreversiblen Eingriffe entwickeln sollen, um überhaupt "informiert zustimmen" zu können. Ärzte aus dem WPATH-Umfeld gaben in internen Gesprächen zu, dass solche Aufklärungsgespräche einem "Gespräch mit einer Wand" glichen.
"Behandlungs-Algorithmen" statt kritischer Abwägung im Einzelfall
Zu den schärfsten Kritikern der neuen Leitlinien gehört Professor Florian Zepf, Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Jena. Er hat die Leitlinienkommission Ende des Jahres 2022 aufgrund berufsethischer Bedenken verlassen. Seine Begründung: Es gebe keine klare medizinische Evidenz für die Behandlung biologisch gesunder Minderjähriger mit Geschlechtsdysphorie mit Pubertätsblockern oder Hormonen.
Darüber hinaus fehlten eindeutige Nachweise, dass diese Interventionen tatsächlich eine Geschlechtsdysphorie oder die psychische Gesundheit "nachhaltig und substanziell bei Kindern und Jugendlichen verbessern", betont Zepf.
"Als medizinische Indikation versteht man den nachgewiesenen Grund für einen Einsatz einer diagnostischen oder auch einer therapeutischen Intervention oder Maßnahme bei Betroffenen, wobei ebendiese Vorgehensweise bei einem bestimmten Zustandsbild aufgrund medizinischer Evidenz tatsächlich und nachweislich angebracht ist. Der verwendete Begriff der medizinischen Indikation ist hier aufgrund der aktuellen Evidenzlage hinsichtlich der Pubertätsblockade und auch der Hormongabe bei Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie aus meiner Sicht nicht passend."
Dennoch sprechen die Leitlinien von einer klaren medizinischen Indikation für Pubertätsblocker oder für gegengeschlechtliche Hormone bei Minderjährigen, was fachlich nicht angebracht sei, so Zepf gegenüber Welt. Vor wenigen Wochen noch rechtzeitig vor der Präsentation des Entwurfs hatte Zepf in einer Übersichtsarbeit die fehlende medizinische Evidenz von Pubertätsblockern und Hormongaben bei Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie detailliert dargestellt. In den Leitlinien wird diese aktuelle Forschung ignoriert. Umso abwegiger sei es, Minderjährigen die Entscheidung dann auch noch komplett allein zu überlassen:
"Wie können alle Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie ihr informiertes Einverständnis zu einem körperlichen Eingriff oder zu einer nicht mehr vollständig umkehrbaren medizinischen Intervention wie der Pubertätsblockade oder der Hormongabe geben, wenn nicht einmal sicher feststeht, dass ihr dringlicher Wunsch einer Verbesserung der Geschlechtsdysphorie oder der psychischen Gesundheit sicher eintritt?"
"Minderjährige haben neben dem Recht auf freie Entfaltung auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit", macht Zepf deutlich und verweist auf das oberste ärztliche Gebot, nicht zu schaden. Ein Arzt dürfe nicht automatisch jeder Einschätzung hilfesuchender junger Menschen, die sich in individuellen Belastungssituationen und Lebenskrise befinden oder psychische Diagnosen haben können, vorbehaltlos zustimmen. Einschätzungen, Erklärungsmodelle und Diagnosen müssten auch "hinsichtlich ihrer jeweiligen Entstehung und Entwicklungssituation" hinterfragt werden: "Ziel ist die bestmögliche Entlastung der Betroffenen und ihre Versorgung. Das muss auch für ein Phänomen wie die Geschlechtsdysphorie bei Minderjährigen gelten."
Anstatt solch eine kritische Abwägung im Einzelfall zu empfehlen, würden die Leitlinien vielmehr "Behandlungs-Algorithmen" festlegen, warnt auch Tobias Banaschewski, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters in Mannheim und früherer Präsident der DGKJP. "Wir sprechen hier nicht über Erwachsene, die selbst entscheiden können, ob sie sich operieren lassen wollen, sondern über Kinder und Jugendliche, deren Körper sich noch in der Entwicklung befindet", betont Banaschewski. Wegen der mangelhaften wissenschaftlichen Evidenz und vor allem weil Jugendlichen die Konsequenzen einer "Transition" wie etwa der Verlust sexueller Funktionen und Unfruchtbarkeit meist nicht klar sei, hätten die Eingriffe das Potenzial "für einen der größten Medizinskandale der heutigen Zeit."
Dr. Martin Voigt ist Publizist und Jugendforscher mit Schwerpunkt auf Identitätsentwicklung von Jugendlichen im Zusammenhang mit sozialen Medien.