„Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand.“ So heißt es in der Ballade „Die Brück‘ am Tay“ von Theodor Fontane, der dazu extra die berühmten Hexen aus „Macbeth“ auftreten lässt, die das Zug-Unglück voraussagen. Es war mehr als ein Betriebsunfall, es sollte uns eine Lehre sein, damit es nicht eines Tages zu einer Menschheits-Katastrophe kommt, wenn wir besinnungslos so weitermachen.
Die Firth-of-Tay-Brücke war eingestürzt, als gerade ein Zug darüberfuhr, und hatte 75 Menschen in den Tod gerissen. Das war im Jahre 1879. Aus damaliger Sicht ein großes Unglück. Am 15. April 1912 ging die „Titanic“ unter und riss 1.514 Menschen in den Tod. Ein noch größeres Unglück. Beide Katastrophen wurden als Menetekel gesehen, als Warnung an den modernen Menschen, sich nicht zu überheben, die Götter nicht unnötig herauszufordern und demütig die Grenzen der menschlichen Möglichkeiten zu achten.
Denn alles Menschengemachte enthält eine Fehlerquote, der unvollkommene Mensch irrt sich zwangsläufig – gerade wegen seiner Unvollkommenheit und seiner Beschränktheit. Es geht nicht anders. Fehler sind unvermeidlich. Das ist die tiefe Weisheit des Spruches „Errare humanum est”. Es ist Vorsicht geboten bei allem, was von Menschen gemacht ist und nachher nicht mehr korrigiert wird. Deshalb hat der Spruch eine wichtige Fortsetzung: „Perservare diabolicum“ – auf dem Fehler zu beharren, ist teuflisch.
Der kleine Tand und der große Tand
Es ist aber auch nicht alles schlecht. Die meisten Brücken sind nicht eingestürzt, die meisten Schiffe sind nicht untergegangen. Das Wort „Tand“ erscheint uns sowieso seltsam altmodisch, wir denken an etwas, das überflüssig ist, an Kleinkram, Tinnef und Killefit. Im kleinen Maßstab kann es zu kleineren Missgeschicken kommen, die nicht allzu schlimm sind.
Richtig gefährlich wird es, wenn Tand im großen Maßstab umgesetzt wird, und die unvermeidlichen Fehler, die grundsätzlich allem Menschengemachten anhaften, gigantische Schäden anrichten, die alles in den Schatten stellen, was die Brücke am Tay und die „Titanic“ an Leid und Unglück gebracht haben.
Das größtmögliche Unglück
Es kommt immer wieder zu solchen Experimenten, bei denen größenwahnsinnige Menschen, die offenbar einem unstillbaren Machtrausch erlegen sind, mit ihrem menschengemachten Pfusch in die Schöpfung eingreifen und sich als ein allmächtiger Gott aufspielen wollen. Wenn dann noch eine uneingestandene – oder auch offen zugegebene – Lust an der Zerstörung hinzukommt, kann es zum GAU kommen, zur menschengemachten Apokalypse.
In den Siebziger und Achtziger Jahren schien die Gefahr zum Greifen nahe. Ich hatte eine untergründige Angst vor einem Atomkrieg, der das menschliche Leben auf der Erde beenden würde. Mir war, als würde ein Idiot mit erhobenem Beil hinter mir hergehen und mich wie ein Schatten überallhin begleiten. Ich war ausgeliefert. Der Idiot konnte jederzeit zuschlagen. Er würde nicht nur mich, sondern alle treffen. Tom Lehrer hatte schon 1959 von der Möglichkeit so einer gemeinsamen letzten Reise gesungen: „We all go together when we go.” Bei der Friedensdemo im Jahr 1981 klang das immer noch in mir nach.
Inzwischen ist der Sirenenton leiser geworden. Aber ist das auch ein Grund zur Entwarnung? Besteht nicht nach wie vor die Gefahr, dass der Mensch mit seinen tödlichen Spielzeugen den gesamten Planeten ruiniert? Jordan B. Peterson berichtet von möglichen neuen Kampfrobotern, gegen die Menschen keine Chance mehr haben (hier, folgen Sie dem dritten Hinweis), Putin stellt seine neuen Vernichtungswaffen vor. Sehr beängstigend – sehr beeindruckend: Da sind nicht nur Schöpferkraft und Geltungssucht der Konstrukteure ins Gigantische gesteigert, da haben sich auch der menschliche Makel und das moralische Defizit vergrößert, als wären sie mehrmals multipliziert worden.
Dann kommt zusammen, was nicht zusammenkommen sollte
Also: keine Entwarnung. Es besteht weiterhin die Gefahr, dass eine technische Entwicklung über sich hinauswächst und ein Zerstörungspotenzial entfaltet, das – wehe, wenn es losgelassen – nicht mehr einzufangen ist. Schlimm genug. Es kommt noch schlimmer: Auch Menschen können ein gefährliches Zerstörungspotenzial freisetzen, wenn sie sich in eine Massenhysterie hineinsteigern.
Dann wächst zusammen, was besser nicht zusammenwachsen sollte: Jakobinismus und Guillotine. Der Rückfall in vorzivilisatorische Verhaltensweisen geht dann selbstverständlich Hand in Hand mit der neuesten technischen Errungenschaft; ein brutales Rudelverhalten darf sich in der Gewissheit austoben, den Segen der Wissenschaft zu haben und sich auf dem neuesten Stand der Forschung zu befinden.
Ich will ein paar Beispiele nennen – Beispiele, die zeigen, dass Menschen sich überheben, wenn sie zu den Sternen greifen und ihre Möglichkeiten, effektiv in den Weltenlauf einzugreifen, heillos überschätzen, und zwar: den Großversuch mit der menschengemachten Pflanze, die unter Stalin parallel zum neuen, sozialistischen Menschen geschaffen werden sollte; den Versuch, einen gendergerechten Menschen zu konstruieren; das Vorhaben, das menschengemachte Klima weltweit zu regulieren und die aktuellen Maßnahmen, eine menschengemachte Immunität für alle durchzusetzen.
Ich höre jetzt schon den Aufschrei: „Das kann man nicht vergleichen!“ Doch, kann man. Dann erkennt man die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten. Dazu sind Vergleiche da. Schauen wir mal:
Der menschengemachte Mensch
Wir erleben gerade die künstliche Geburt des menschengemachten Menschen, der durch neue operative Methoden möglich werden soll, durch Geschlechtsumwandlungen, die neuerdings auch „Geschlechtsangleichungen“ genannt werden. Dazu spielt eine aufdringliche Begleitmusik, die mit groß angelegten pädagogisch-politischen Kampagnen einhergeht. Hinzu kommen juristischen Reformen, diverse Förderprogrammen, eine weit reichende linguistische Therapie und ständig neue Aufrufe, sich zu Toleranz und Vielfalt zu bekennen. Gleichzeitig werden Straftatbestände geschaffen für alle, denen man Transphobie nachsagen kann.
Es ist nicht wirklich klar, was momentan das Richtige ist, es gibt aber viel, was man falsch machen kann. Das Projekt ist stärker von Unbehagen und Verneinung geprägt als von einem verheißungsvollen Ausblick auf eine angenehme Zukunft. Die Stimmung ist gedrückt. Es gibt wenig Vorfreude, aber viele bange Fragen, was da noch für Kosten und Spätwirkungen auf uns zukommen werden.
Das menschengemachte Klima
Ähnlich geht es uns beim menschengemachten Klima. Auch hier gibt es viel zu fürchten und wenig, auf das man sich freuen könnte. Die Aussichten auf ein gutes Gelingen sind nicht gerade gut. Auch hier sollen wir – trust science – auf die Wissenschaft hören, die inzwischen als höchste Instanz gilt. Die Medien betäuben uns mit düsteren Prognosen und hässlichen Bildern und fordern uns auf, zur Rettung des Planeten alles Menschenmögliche zu tun. Es wird auch viel getan. Viel geredet, viel geschrieben. Der Versuch, eine menschengemachte Verdunkelung der Sonne herbeizuführen und so die Kontrolle über das Klima zu erlangen, ist inzwischen wieder abgeblasen worden.
Das Publikum wird in ständiger Spannung gehalten. Eine Erlösung ist nicht in Sicht. Eine effektive Beherrschung des Weltklimas kann es nur geben, wenn alle Welt zusammenhält – was eher unwahrscheinlich ist. Dennoch: Jeder muss sein Verhalten überprüfen und seine Gewohnheiten ändern. Jeder ist aufgerufen, mitzuwirken, ein ideales Klima mit einer idealen Durchschnittstemperatur zu schaffen – und dann auf dem Niveau zu halten.
Wie bei einer Diät, bei der es uns gelungen ist, das Wunschgewicht zu erreichen, so müssen wir auch beim Klimaschutz sämtliche Einschränkungen, die uns zumindest einen Teilerfolg gebracht haben, auf unbegrenzte Zeit beibehalten, damit es nicht zu Rückfällen kommt. Erfolge wird es sowieso erst viel später geben. Wir werden sie vermutlich nicht mehr erleben. Doch wir müssen jetzt schon alle verfolgen und bestrafen, die keine Opfer bringen wollen, um die drohende Menschheits-Katastrophe durch Erderhitzung abzuwenden.
Die menschengemachte Immunität
Auch bei dem Projekt der menschengemachten Immunität geht die Forschung neue Wege. Vielleicht kann eine menschengemachte Mücke dazu beitragen, Malaria zu bekämpfen. Neue Wege sind auf jedem Fall nötig, denn womöglich ist auch das Virus, das es heute zu bekämpfen gilt, ebenfalls menschengemacht (dazu kann ich nichts sagen) – wie auch immer: Nun ist es halt da. Alle Hoffnungen ruhen im Moment auf Massenimpfungen und auf der Umerziehung der gesamten Menschheit, die es sich angewöhnen soll, Abstand zu halten, Masken zu tragen und am besten alleine zuhause zu bleiben. Wir stecken in einem riesigen Menschheitsexperiment mit ungewissem Ausgang.
Das ist eine gute Gelegenheit, einen scheuen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Was ist eigentlich aus der menschengemachten Pflanze geworden, die ich vorhin erwähnt habe? Es war einmal ein gigantisches Projekt. Es hat sich als gigantisches Unglück erwiesen. Da wir mit „heutigem Wissen“, um Jens Spahn zu zitieren, in Ruhe auf das blamable Experiment zurückblicken können, wird es uns leichtfallen, das Scheitern in diesem Fall einzugestehen. Wir können uns bequem zurücklehnen und leise aufstöhnen: „Wie konnte man nur auf so einen Schwindel hereinfallen?!“
Nun können wir vergleichen. Wie sieht es mit den anderen Fällen aus? Wir können nun das Schicksal der menschengemachten Pflanze als Kontrastfolie nutzen und uns fragen: Was kommt uns bekannt vor? Kann der Versuch, eine menschengemachte Pflanze zu schaffen, ein paar Schlaglichter auf die Projekte werfen, in denen wir gerade bis zum Hals stecken? Dann können wir die Frage auch im Präsens stellen: „Wie kann man nur auf so einen Schwindel hereinfallen?!“
Die Erziehung der Hirse
Wie wäre es, wenn wir eine neue Pflanze allein mit von Menschen kontrollierten Mitteln herstellen? Allein durch Propaganda und Pädagogik! Allein dadurch, dass wir die Pflanze richtig erziehen, ihr gut zureden und uns dabei voll und ganz auf die sozialen Einflüsse verlassen, die auf so eine Pflanze einwirkt? Alles, was von Natur aus gegeben sein könnte, ignorieren wir einfach. Geht das?
Man hat es versucht. Die Eigenschaften von Kulturpflanzen und anderen Organismen werden nämlich nicht – wie man bisher dachte – durch Gene bestimmt, sondern einzig und allein durch Umweltbedingungen. Das war grob gesagt die Vorstellung, die dem sogenannten Lyssenkoismus zugrunde lag. Trofim Denissowitsch Lyssenko wird heute widerspruchslos als „Scharlatan“ angesehen, als „Fälscher“; seine Wirkung gilt allgemein als „katastrophal“. Zu seiner Zeit führte kein Weg an ihm vorbei.
Er verwarf die herrschende Lehre der Genetik als „bourgeoise“, als „faschistisch“, als „unsozialistisch und damit falsch“ und behauptete, es gebe überhaupt keine Gene, und man könne verschiedene Getreidesorten allein durch geeignete Kulturbedingungen umwandeln. Es würde dann eine regelrechte „Artumwandlung“ stattfinden, bei der etwa aus Weizenkörnern Roggenpflanzen hervorgehen könnten. Manche Pflanzen wurden daraufhin so nebeneinander platziert, dass sie sich „solidarisch“ verhalten und sich bei ihren Wandlungsprozessen zur menschengemachten Pflanze gegenseitig unterstützen konnten. Interessante Idee. Sie funktionierte nicht.
Ein gigantischer Fehlschlag
Es kam zu Missernten und verheerenden Hungersnöten. Dennoch galt Lyssenkos Lehre als verbindlich und unumstößlich. Er war inzwischen zum persönlichen Landwirtschaftsberater Stalins aufgestiegen und damit unangreifbar geworden. Politik, Justiz und Presse waren ungebrochen auf seiner Seite. Misserfolge, die seiner Methode geschuldet waren, ließen sich durch Sabotage erklären und führten dazu, dass der Kampf gegen feindliche Elemente verstärkt wurde. Aus der ursprünglichen Begeisterung für etwas (für eine neuartige, menschengemachte Pflanze) war schnell ein Furor gegen etwas geworden (gegen die Feinde in den eigenen Reihen).
Dabei fielen unangepasste Journalisten dem „Großen Terror“ genauso zum Opfer wie Kritiker aus den Reihen der Wissenschaft – darunter auch der Begründer der Akademie der Wissenschaften, für dessen Tod im Straflager Lyssenko persönlich mitverantwortlich war.
Kein Einzelfall. Lyssenko hinterließ eine unüberschaubare Blutspur. Er nannte seine Gegenspieler „Fliegenliebhaber und Menschenhasser“, das reichte oft schon als Todesurteil. Seine Gegner wurden vergiftet, erschossen oder durch Rufschädigung in den Ruin getrieben. Er selbst überlebte alle Veränderungen. Erst ab 1965 verschwanden seine Lehren aus den Schulbüchern. Trofim Lyssenko starb achtundsiebzigjährig im Jahr 1976 in Moskau.
Wie konnte das passieren?
Der Siegeszug seiner Vorstellung von einer „proletarischen Biologie“, wie er es nannte, war durch ein Trommelfeuer an Propaganda und durch gnadenlose Bekämpfung der Abweichler möglich geworden. Es hatte zuvor eine komplette Gleichschaltung von Politik, Presse, Justiz, Erziehung, Wissenschaft und Kunst gegeben. Damit war für alle klar: Wenn alle dafür waren, musste es einfach richtig sein. Es konnten sich schließlich nicht alle irren.
Der aufgeheizte Kampf gegen die heimtückischen Menschenfeinde – gegen Saboteure und Faschisten – rechtfertigte das brutale Vorgehen gegen andere Denkansätze (die grundsätzlich aus jeder Diskussion ausgeschlossen wurden) und gegen andere Denker (die als Personen bekämpft wurden). Damit wurde jede Evaluierung des Projektes verhindert, es gab kein trial and error mehr, die Wissenschaft war zum Stillstand gekommen. Der war alternativlos.
Nachdem bereits unzählige Opfer gebracht worden waren, konnte es nur noch ein „Weiter-so“ geben, nur noch ein „Perservare diabolicum“, keinesfalls ein Innehalten, eine Einsicht oder eine Umkehr. Man hätte damit gesagt, dass die Opfer vergeblich gewesen wären. Das durfte nicht sein. Dafür war der Preis zu hoch. Es war, als hätte man einen Ozeanriesen zu Wasser gelassen, der nicht mehr wenden konnte.
Faszination für das Falsche
Es muss darüber hinaus eine starke Faszination gehabt haben. Warum auch immer. Vielleicht weil es wirklich revolutionär war? Weil es radikal mit allem brach, was die Wissenschaften und die praktischen Erfahrungen bisher gelehrt hatten? Weil es eine Erleichterung ist, die Körperlichkeit – die gesamte Biologie – abzuschütteln und einen Moment lang die Illusion zu hegen, dass man das ungestraft tun könne? Weil es das Versprechen enthielt, dass man nur auf „Neustart“ gehen müsse und alles würde sich auf wundersame Weise zum Guten wenden? Weil es so wirkte, als hätte man einen verloren geglaubten Schlüssel entdeckt, der einem den Zugang zu den Geheimkammern der Schöpfung ermöglicht?
Auch das Falsche kann eine starke Faszination haben, jedenfalls dann, wenn es nicht nur falsch ist im Sinne von „knapp daneben ist auch vorbei“, sondern abgrundtief falsch. Es muss schon im großen Stil falsch sein – too big to fail. Kleine Lügen und kleine Verbrechen erkennen wir sofort. Große nicht. Wir wagen es überhaupt nicht, sie wahrzunehmen. Dafür sind sie schlicht und ergreifend zu groß – wie ein Motiv, das man unmöglich auf ein Bild kriegt, sodass man kein Foto davon machen kann.
So war das in Russland nach der Revolution. Es waren außergewöhnliche Zeiten. Es drohte ein Unglück, der Weltfrieden war in Gefahr, die Gesellschaft lebte im Ausnahmezustand. Ich betrachte das heute aus sicherer Entfernung, durchaus mit Schrecken, aber auch mit einer gewissen Sympathie, zumindest bemühe ich mich um ein Verständnis. Durch die Menschen muss ein unerträglicher Riss gegangen sein. Wie konnten sie den Widerspruch zwischen der offiziellen und der tatsächlichen Wirklichkeit aushalten? Die menschengemachte Pflanze konnte sie zwar nicht ernähren, sie war aber unverzichtbar geworden, sie spielte nun eine bedeutende Rolle im Kampf gegen den Faschismus. Wenn man an ihr zweifelte, bestand die Gefahr, dass man anfing, auch an anderen Glaubenssätzen zu zweifeln, die man keinesfalls infrage stellen durfte.
Nachspiel aus der Welt der Literatur
Bleiben wir unter uns. Ich möchte noch einmal in die Welt der Literatur zurückkehren. Bertolt Brecht, der vergleichsweise viele Tassen im Schrank hatte (wenn auch nicht alle), schrieb im Jahr 1950 ein Gedicht mit dem vielsagenden Titel „Die Erziehung der Hirse“ – wohlgemerkt: die Erziehung der Hirse. Die Hirse wurde erzogen! Damit hat Brecht das Programm gut auf den Begriff gebracht und hat gleichzeitig offenbart, wie leicht die Kunst zu korrumpieren ist.
In dem Langgedicht wird Stalin als „Großer Gärtner“ gepriesen, als „Mann, der das Unmögliche möglich gemacht hat“. Es wurde 1954 kunstvoll von Paul Dessau vertont und als „Poem“ aufgeführt, mit Sprecher, Singstimme, gemischtem Chor, Jugendchor und großem Orchester. Ein anspruchsvolles Werk sozialistischer Kunst. Ein Meilenstein. Ein Glanzstück. Nicht nur ein unbedeutendes Beiwerk.
Da frage ich mich dann schon: Was zum Teufel war in diese Künstler gefahren? Besser gesagt: in diese Kunst- und Kulturschaffenden der DDR? Glaubten sie wirklich an das, was sie da aufwändig künstlerisch gestalteten? Machten sie das noch freiwillig? Offenbar. Der Druck wird in den Fünfziger Jahren nach dem Tod von Stalin und der historischen Niederlage des Faschismus nicht mehr so heftig gewesen sein – oder etwa doch?
Mit liebender Hirse gegen Hitler
Für mich ist es ein Zeichen dafür, dass man die Wucht, die hinter einem derart größenwahnsinnigen Projekt steckt, keinesfalls unterschätzen darf. So eine Wucht reißt alle mit. Der Kampf gegen einen so großen Feind wie den Faschismus rechtfertigt alles, was an Peinlichkeiten und Unverhältnismäßigkeiten möglich ist. Hauptsache, es wird eine Feindschaft aufrechterhalten.
Hier ein kleiner Auszug:
„Wo ist Hirsebrei?“ fragten die Soldaten.
„Hier kommt Hirse. Sie ist gut geraten.“
Sagen die Kolchosbrigaden.
„Jeder kämpfe jetzt für zwei.“
Gegen Hitler kämpfte Mensch und Ähre
Auf den einsten baren Steppen mit.
Vorwärts rückten die Befreierheere
Und die Hirse folgte liebend ihrem Schritt.
Ähren soll die Erde tragen.
Friedlich, fröhlich sei die Welt!
Tod den Faschisten!
Jätet das Unkraut aus.
Geht es auch ohne Verschwörer?
Wie sieht es aus mit einem Vergleich der verschiedenen menschengemachten Gebilde? Es zeigen sich frappierende Gemeinsamkeiten: etwa das Leugnen von allem, was von Natur aus vorhanden sein könnte, die Behinderung der freien Entfaltung von Wissenschaft und Forschung durch eine selbstherrliche Politik, die erbarmungslose Verfolgung von Abweichlern, der Verlust von jeder Hoffnung auf ein gutes Ende.
Es stellen sich auch einige Fragen: Kann es auch einen Lyssenkoismus ohne Lyssenko geben? Das wäre so etwas wie eine Verschwörungstheorie ohne Verschwörer, ohne Drahtzieher, ohne Hintermänner und ohne charismatische Verführer, wenn auch mit allerlei Profiteuren und Nutznießern. Ist das möglich? Kann man sich so eine Lawine, die über die ganze Welt rollt, auch als Selbstläufer vorstellen? Kann eine zunächst kleine, dann immer größer werdende Gruppe kollektiv von so einer gigantisch großen, letztlich zerstörerischen Idee befallen werden?
Carl Jung stellte sich das so vor: Nicht wir als selbstständige Individuen sind es, die irgendwelche Ideen haben, vielmehr haben die Ideen uns. Wir sind von diesen Ideen befallen und sehen uns gespiegelt in anderen, die ebenfalls davon besessen sind. Diese Ideen, die man heute vielleicht „Narrative“ nennen würde, verstärken sich umso mehr, je größer die Gruppe wird. Die Gruppe lebt irgendwann in einer Pseudorealität, die aus lügenhaften Begriffen und fehlmotivierten Umbenennungen zusammengesetzt ist.
Geht es auch ohne den großen Terror?
Die Meute sucht sich ihre Günstlinge, die Gefälligkeitsgutachten erstellen und die gewünschte Technik liefern. Scharlatane und Fachidioten finden sich schnell. Wer gerne Anführer spielen will, drängelt sich vor. Eine echte – oder auch bloß beschworene – Notlage hebelt alle Regeln aus, nach denen die Gesellschaft bisher funktioniert hatte und die dafür sorgen sollten, dass es nicht zu so einem Unglück kommt. Für narzisstisch gestörte Persönlichkeiten bieten sich plötzlich verführerische Möglichkeiten, steile Karrieren hinzulegen. Es finden sich sowieso immer Leute für die Drecksarbeit, für das Denunzieren, für die Zersetzung von feindlichen Elementen.
Solche Projekte leben von der Feindschaft, vom Zerstörungswillen, von der Lust am Bestrafen. Sie hatten womöglich als Bewegung angefangen, die etwas Neues entstehen lassen wollte, sind dann aber schnell zur Aggression gegen alles Alte geworden. Vielleicht geht es diesmal ohne den „Großen Terror“, aber vermutlich nicht ohne den „kleinen Terror“ für zwischendurch.
Was tun? Wenn man mitten in so einem Projekt steckt – was bleibt einem? Kann es dann noch gelingen, das wahre Ausmaß zu überblicken? Kann man sich das überhaupt noch leisten? Was können wir wissen? Was dürfen wir hoffen? Wie kann man sich vor Schaden schützen? Wie kann man sich wehren, ohne dabei die eigene Lage zu verschlimmern?
Wie kommt man jemals wieder raus aus so einer Nummer?