Rainer Bonhorst / 12.05.2014 / 01:31 / 9 / Seite ausdrucken

Im kalten Krieg geht es um den Bart

Nach der Ukraine-Krise nun die Wurst-Krise. Die Conchita-Wurst-Krise. Denn wer Wurst sagt, muss in diesen Tagen auch Conchita sagen. Die bärtige Scheindame aus Österreich feuert den Kalten Krieg zwischen West und Ost auf eine Weise an, dass die Kampfhähne in der Ukraine vor Neid erblassen müssten.

Bärtige Damen haben im Zirkus zwar Tradition. Aber sie verschwanden, als man ganz allgemein aufhörte, missgestaltete Menschen als Show-Objekte der Lächerlichkeit preiszugeben. Und nun ist ein solches bärtiges Wesen in Frauenkleidern im größten europäischen Schlagerzirkus wieder die Hauptattraktion geworden. Millionen haben am Bildschirm miterlebt, wie Conchita Wurst den Eurovision Song Contest gewonnen hat. Und nun droht dieser Sieg die Europäische Songgemeinschaft, die größer ist als die Europäische Union, politisch zu zerreißen.

In Russland hat man gerade der Schwulität den Kampf ansagt, damit niemand beim Anblick des ständig halbnackten Staatschefs Putin auf dumme Gedanken kommt. Und jetzt dies aus dem dekadenten Österreich. Kein Wunder, dass sich da einige russische Politiker empört den eigenen Bart raufen. Die eine oder andere kahle Sängerin hat man ja noch hingenommen. Aber eine bärtige Sängerin? Wenn das nicht das endgültige Symbol des Untergangs Westeuropas ist.

Wie anders wir im Westen! Wir sonnen uns in unserer Toleranz. Wow! Eine bärtige Drag-Queen darf einen so wichtigen Wettbewerb gewinnen! Das ist ja noch besser als ein geouteter Fußballer. Alle Achtung. Das hätte Tom Neuwirth alias Conchita Wurst wohl selber kaum zu träumen gewagt. Ja, wir sind schon Prachtexemplare im Vergleich zu diesen russischen Hinterwäldlern. Die stecken mit beiden Beinen im Mittelalter und wir können vor neuzeitlicher Toleranz kaum laufen.

Jedenfalls ist damit ein für allemal klar geworden, dass der Song Contest kein Musikwettbewerb im engeren Sinne ist. Die Punktvergabe wird ja schon lange als nachbarschaftliche Dienstleistung gegenseitiger Unterstützungsvereine gehandhabt. Worunter ausgerechnet wir deutschen Vereinsmeier wegen Mangels an Mitgliedern leiden. Und jetzt hat der unmusikalische Wettkampf eine neue Phase erreicht. Er ist zum Kampf der Kulturen, zum geträllerten Ostwest-Konflikt eskaliert.

Conchita steht als Wunderwaffe gegen Russland auf der Bühne, als eine westliche Außenstelle der Pussy Riot. Während zwei hübsche Russinnen jeden Punkt, den sie bekamen, mit Buh-Rufen aus dem westlich geprägten dänischen Publikum bezahlen mussten.

Das haben die Hübschen sich selber eingebrockt. Es wird ja wohl kein Zufall gewesen sein, dass Russland ausgerechnet zwei aufreizend schöne Frauen gegen die österreichische Vollbart-Transe ins Feld geführt hat. Ihr Einsatz kann nur als eine unverhohlene Demonstration reaktionären Gedankenguts verstanden werden. Die Russen wollten mit den beiden unverkennbar weiblichen Akteurinnen den Eindruck erwecken, als gäbe es auf die Genderfrage auch heute noch eine einfache Antworten: nämlich Frau und Mann.

Wir im Westen aber haben auf wundervolle Weise dagegen gehalten, und demonstriert, dass selbst ein Vollbart die Genderschranken sprengen kann. Damit haben wir das veraltete Mann-Frau-Schema als das entlarvt, was es offenbar ist: üble russische Propaganda.

Zurück zur Musik. Wie ich höre, soll das Lied der Conchita Wurst so ähnlich geklungen haben wie all die anderen Lieder auch. Aber Conchita war den anderen Sängerinnen um eine Bartlänge voraus. Und darauf kommt es in der Musik schließlich an.

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Klaus-Peter Kubiak / 12.05.2014

Es hat mich sehr gefreut, dass Conchita Wurst diesen Wettbewerb gewonnen hat. Zeigt es doch, dass wir alle inzwischen sehr tolerant geworden sind. Aber es ergibt sich daraus natürlich ein gewisses Problem: Wenn im nächsten Jahr ein Schwuler oder Transvestit an dem Wettbewerb teilnimmt und dann nicht gewinnt, wäre das dann ein Sieg der Intoleranz? Wir haben ja vor Jahren selbst eine Blinde ins Rennen geschickt, die dann doch nicht gewonnen hat (Unverschämtheit! Wusste denn niemand, dass sie blind ist?) Und was ist, wenn andere Länder diese Idee aufgreifen? Was wäre, wenn zum Beispiel Frankreich einen Mann im Rollstuhl schickt, Holland einen Aidskranken oder einen Krebskranken im letzten Stadium und Deutschland jemanden mit enem Kropf? Wer sollte den Wettbewerb dann gewinnen? Auf diese Frage weiß ich leider keine Antwort.

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