In meiner Kindheit in Berlin war Polizist ein geachteter Beruf. Viele Jungs, die ich kannte, wollten Polizist werden, es war einer der häufigsten Berufswünsche neben Feuerwehrmann, Pilot, Löwendompteur oder Astronaut. Das Internet belehrt mich darüber, dass es auch heute noch so ist: Polizist gilt einer Studie zufolge bei männlichen Erstklässlern als zweithäufigster Berufswunsch nach Fußballprofi. Doch bei „15-jährigen Teenagern“ ist Polizist schon auf Platz vier abgerutscht (nach IT-Spezialist, Industriemechaniker und Autoschlosser), bei Abiturienten taucht dieser Beruf in manchen Statistiken überhaupt nicht mehr auf, in anderen, wenn man will, in schwammigen Kategorien versteckt wie „Öffentlicher Sektor“.
Mit fortschreitendem Alter „werden die Berufswünsche realistischer“ heißt es in einer Untersuchung der Bundeszentrale für politische Bildung aus dem Jahre 2018. Entscheidend ist das Verhältnis von persönlichem Einsatz und Risiko zur gesellschaftlichen Geltung und Vergütung. Die meisten Menschen gehen danach, ob sich die Sache am Ende lohnt. Fast jeder Jugendliche sucht Anerkennung, doch schattenhafte Gruppen arbeiten ernsthaft daran, das Image der Polizei zu demolieren. Geht man nach den Medien, handelt es sich bei Polizisten um beschränkte Schlägertypen mit rechtsradikalen Neigungen (und ich meine jetzt gemäßigte Blätter, nicht die Hass-Tirade einer geistig Verwirrten in der Berliner taz). Für Schulabgänger bietet sich folgendes Bild: Ich muss hart arbeiten, Schicht- und Streifendienst, ich riskiere mein Leben und empfange dafür eine an Verachtung grenzende gesellschaftliche Gleichgültigkeit. Ist Polizist nur noch ein Beruf für Idealisten?
Mir geht es gezielt um den Schutz der Polizei in Deutschland. Denn hier in Israel gibt es diese suizidale Polizei-Verachtung nicht, niemand zweifelt an der Notwendigkeit einer starken, gut ausgebildeten Truppe zur Sicherung der Straßen und Städte. Das Problem mit arabischen „jungen Männern“, das deutsche Politiker in ihrem Land nach Kräften vertuschen, haben wir ganz offen und seit Jahrzehnten. Wer in der Innenstadt von Jerusalem unterwegs ist, freut sich, wenn er möglichst oft einen Polizisten sieht. In Wahrheit ist es heute in Essen, Duisburg, Berlin-Neukölln, auf dem Hamburger Hauptbahnhof oder in der Stuttgarter Königsstraße nicht anders.
Am 31. Mai 2010 war ich auf einer Lesereise unterwegs nach Wiesbaden, in der S-Bahn vom Frankfurter Hauptbahnhof. Am frühen Morgen hatte eine israelische Marine-Einheit ein Schiff der sogenannten „Gaza-Flottille“ gestürmt, in dem an Bord ausbrechenden Kampf starben neun türkische Staatsbürger, und ich wurde, an meiner Kipa leicht als Jude erkennbar, von im S-Bahnwagen mitfahrenden Türken und Arabern erst feindselig angestarrt, dann körperlich bedrängt. Schon beim Einsteigen gab es ein paar kleine Schubser, die ich nicht als aggressiv wahrnahm, da ich mir damals nicht vorstellen konnte, mir drohe am hellen Vormittag in der S-Bahn eines so sicheren, gut organisierten Landes wie Deutschland irgendeine Gefahr. Dann setzte sich ein imposanter, schnurrbärtiger Mann, deutlich mehr Lebendgewicht als ich, mir gegenüber und stieß mit seinem Schuh gegen meine Tasche, dann gegen mein Bein, so dass ich am Überlegen war, ob ich aussteigen und in der nächsten S-Bahn, zwanzig Minuten später, mein Glück versuchen sollte.
Doch an der Haltestelle stieg ein junges Mädchen ein, mit Pferdeschwanz und kurzärmliger Bluse, bestickt mit dem Emblem der Polizei. Sie trug eine Pistole an der Hüfte und war offenbar außer Dienst. Sie studierte die Nachrichten auf ihrem Smartphone, textete ihrerseits und kicherte über eine Antwort. Sie war ein Bild des Friedens und der Arglosigkeit, und der gewichtige Mann, der mir eben noch bedrohlich zu Leibe gerückt war, saß jetzt artig auf seinem Platz und sah aus dem Fenster. Das war vor zehn Jahren, als es noch unüblich war, Polizisten mit Flaschen zu bewerfen oder mit Messern zu attackieren, das war damals, bevor Kanzlerin Merkel mit einem Schlag mehrere hunderttausend „junge Männer“ ins Land holte und die Stimmung in Deutschland ins Böse kippte.
Inzwischen muss man auch keine Kipa tragen, um in der deutschen Öffentlichkeit in bedrohliche Situationen zu kommen, es genügt, Frau zu sein oder in der Minderzahl oder zu alt, um sich wehren zu können. Nie vergesse ich das Gefühl der Erleichterung beim Anblick der jungen Polizistin. Und obwohl ich Ausländer bin und nur gelegentlich zu Besuch, obwohl ich die Schultern zucken und mir in Zukunft ein Taxi nehmen und den Veranstaltern in Rechnung stellen könnte, wünsche ich Deutschland, all meinen alten Freunden dort, ihren Kindern und Enkeln, in diesen Zeiten eine möglichst starke Polizei.