Jesko Matthes / 29.07.2020 / 08:38 / Foto: Hans Peters/Anefo / 67 / Seite ausdrucken

Hilfe! Ich bin ein Linker!

Ein guter Bekannter übersandte mir neulich ein paar politische Thesen aus den USA. Ich erspare Ihnen und mir den Inhalt, über den man uferlos diskutieren könnte. Natürlich ging es um "Corona", worum denn sonst? Schließlich bin ich Arzt. Aber, auch da geht es mir wie Pille McCoy bei Raumschiff Enterprise: "Jim, ich bin Arzt und kein... ". Ja, was bin ich denn nicht? Also, auf keinen Fall bin ich ein Linker!

Nachdem ich mir etwa drei Stunden lang den Kopf zerbrochen hatte und um eine Antwort auf den Corona-Post rang, weil ich ehrlich angep... *äh* total geflasht war, wechselte ich, mitten im Versuch einer Antwort, einfach das Thema. Nein. Ich stürzte programmiert ab. Zwischen die Zeilen. In den Subtext, sozusagen.

Die Spießigkeit der unwissenschaftlichen amerikanischen Webseite eines bibeltreuen Christen – dann bin ich wohl ein bibeluntreuer Christ, so wie man einst ein undogmatischer Linker sein konnte – rechts von Donald Trump schockierte mich auf einmal weit weniger als... ganz andere Tatsachen: Ich schaute in den Spiegel – und ich sehe nicht länger Matthias Walden, Reginald Rudorf oder Gerhard Löwenthal, denn wer kennt die denn noch? Ich sehe... Rudi Dutschke!

Ich selbst weiß überhaupt nicht mehr, ob ich konservativ bin! In mir keimt ein entsetzlicher Verdacht: Ich bin links.

Ich denke – sei es der Euro, sei es die Einwanderung, sei es die Energiewende, sei es Corona – immer zuerst an die kleinen Leute.

Das Establishment mit seinem staatstragenden Gefasel kotzt mich an.

Die Mehrheitsmeinung finde ich bestenfalls langweilig und spaßbefreit (neuer Code für kalte Rache: "wenig hilfreich"), in der Regel arrogant und gefährlich, schlimmstenfalls antidemokratisch und antisemitisch.

Die Obrigkeit finde ich geschichtsvergessen, beseelt vom Charme eines Oberlehrers  und voll von ungerechtfertigter deutscher Arroganz.

Das deutsche Liedgut finde ich trivial und klammheimlich ideologisch überfrachtet zugleich.

Die bürgerliche Moral finde ich spießig und verlogen.

Die veröffentlichte Meinung zeugt für mich vom feigen Untertanengeist eines Diederich Hessling.

Ich möchte dieses System mit seinen eigenen Mitteln bekämpfen. Den Langen Marsch durch seine verkrusteten Institutionen antreten. Eine neue Internationale der Geknechteten gründen.

Ich lege eine kratzende Scheibe von Ernst Busch auf. Ich singe danach laut mit Hannes Wader.

O Himmel, hilf! Aus mir ist tatsächlich ein Linker geworden! Die wahren Rechten, die Bourgeoisie, die Reaktion, die Revanche... das sind längst die anderen! Die mir erzählen, wie großartig Deutschland ist, das beste Deutschland, das wir je hatten.

Das alles kommt mir so seltsam vertraut vor, so verführerisch hirnkurzgeschlossen, so betörend bekloppt... so bleiern gefährlich.

Es ist zu spät. Das Hufeisen hat mir Unglück gebracht. Verwechselt das Bäumelein. Ringelpiez auf Abstand, mit Maske. In dem Scheißspiel bin ich also inzwischen der Linke. Weg mit dem Andy-Warhol-Poster des Ollen Fritz! Gebt mir eins von Che Guevara!

Ach, was soll's. Irgendwer soll es schon sehr viel einfacher gesagt haben: Wer hat bloß Sex, Drugs and Rock 'n' Roll ersetzt durch Kopftuch, Rauchverbot und Herbert Grönemeyer?

Foto: Hans Peters/Anefo - Nationaal Archief CC0 via Wikimedia Commons

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Leserpost

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Dieter Schilling / 29.07.2020

Wissen Sie, wie man in U S and A (Borat) den Unterschied zwischen Demokraten und Republikaner erklärt? Ein Demokrat ist ein Republikaner,der noch nicht überfallen wurde.

Karl-Eduard Brinkmann / 29.07.2020

@Ilona Grimm, für diesen vorzüglichen, sachlichen und somit überzeugenden Beitrag, als auch zu dem über Ihren HNO, habe ich Sie für meine Hall of Frame vorgemerkt. Ihnen soll ein Ehrenplatz eingeräumt werden!

Karl-Heinz Vonderstein / 29.07.2020

Auch CDU und CSU sind heute in weiten Teilen eher Links als Rechts.

sybille eden / 29.07.2020

Lieber Herr Matthes, sie sind wahrscheinlich ein klassischer Liberaler, sie wissen es nur noch nicht. Vielleicht mal reinlesen : Karl Popper, Hajek,von Mieses, Röpke,Baader…...

aaron Treppe / 29.07.2020

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion weiss doch eh keiner mehr was links ist, die Schreiberlinge für Spon/Stern etc sind es auf jeden Fall nicht, das ist grünes Spiessbürgertum in der schlimmsten Ausprägung.  Früher sagte man Links kämpft gegen die oben, rechts kämpft gegen die unten, in Zeiten der linken Meinungshoheit hat der Spruch lang ausgedient und so wenig man es sich in den 70ern vorstellen konnte, im Vergleich zu dem wie die Medien heute auftrumpfen und kalt lächelnd vom Journalismus zur Propaganda gewechselt sind, wünscht man sich so alte Knallköppe wie den Löwenthal fast schon zurück.

Sascha Hill / 29.07.2020

An diesen Irrwitz, habe ich auch schon ofters denken müssen. Der vermeindliche Linke, Antifaschist und Europäer ist längst zu einem Linkextremen EU-Nationalist verkommen. Der vermeindliche Rechte hingegen, ist eigentlich das, was er schon zuvor war. Liberal-Konservativ. Schlussendlich, ist es aktuell der Liberal-Konservative, der wie die Linken damals gegen das Establishment kämpft. Wenn es nicht so traurig wäre, wäre es in der Tat witzig.

Thomas Schmied / 29.07.2020

@Horst Jungsbluth Sehe ich auch so. Kaum ein Mensch passt mit seinen Ansichten komplett in eine “linke” oder “rechte” Schublade. Da ragt immer etwas raus. Die Schubladen dienen allein den Herrschenden, die es geschafft haben, den Begriff “politisch rechts” mit “böse” gleichzusetzen. In die rechte Schublade sortieren sie nun alles, was ihnen nicht passt. Gewicht bekommt nur, was von ihnen als links oder als immaginäre “Mitte” definiert wurde. Dass sie die Begriffe nicht definieren müssen, macht es ihnen noch einfacher. Es liegt auf der Hand, dass sowas nur zu geistigen Schräglagen und intellektuell stark beschränkten Debatten führen kann.

Johannes Schuster / 29.07.2020

Ich sitze im Auto, einen Blinker links und einen rechts, was bin ich ? Ein Autofahrer ! Ich kann die Kirche nicht leiden - ich höre Karl Richter, - ich kann das Deutschtum nicht leiden und höre Wagner - Ouvertüren, ich kann Röhrenradios nicht ausstehen und repariere sie gerne - ich kann Bier nicht leiden und trinke es nicht. Was bin ich: Ein Mensch und doch kein Vogel. Mozart kann ich übrigens nicht leiden und liebe seine Musik.  Wer links steht hat die Eier rechts um nicht umzukippen und die Mitte zu wahren. Das ist Politik.

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