Gunnar Heinsohn / 28.02.2022 / 10:00 / Foto: Unbekannt / 50 / Seite ausdrucken

General Denikin – eine Schlüsselfigur in Putins Kosmos

Putins erste Kriegserklärung zur Ukraine liegt nun fast dreizehn Jahre zurück. Sie entspringt durchaus einer „amour fou“, die der Verehrten eher das Leben raubt, als sie anderen zu überlassen.

Unter marxistischen Zeitgenossen sehe ich eine – oft uneingestandene – Übertragung ihrer Liebe für die Sowjetunion auf die sich anschließende Russische Föderation. Entsprechend übertragen sich auf Putin viele der Neigungen zu Lenin.

In der Bewunderung für den Bolschewismus von 1917 äußert sich natürlich der Jubel über den Untergang des ausbeuterischen Zarentums. Dessen Gesicht – „Fratze“ sagen meine Bekannten – gehört damals General Anton Denikin (1872–1947). Er kommandiert ab 1918 die Weiße Armee für die Wiederherstellung des Romanow-Reiches. Die Revolution schiebt er nicht auf den enormen Youth Bulge seiner Heimat, sondern auf ihre Juden. 1920 entkommt er nach Belgien. 1945 emigriert er in die USA.

Entgangen ist fast allen meinen Bekannten Putins Besuch des Denikin-Grabes in Moskaus Donskoi-Kloster im Jahre 2009. In dieses wunderschöne Bauten-Ensemble hatte er die Leiche im Oktober 2005 aus Ann Arbor (Michigan) überführen lassen. Wie alle Funktionsträger der ehemaligen Sowjetunion hatte man auch den KGB-Mann Putin zum Hass auf Denikin erzogen. Mit dem Niederlegen des Kranzes an seinem Gedenkstein wendet sich der Kreml-Chef endgültig ab von Lenin und erst recht von Jelzin, dem er sein Amt verdankt.

Ersterer habe das Russische Reich zwar erhalten, aber durch Autonomierechte für die Minderheiten unterminiert. Erst später und nur teilweise sei das Russentum in seine alten Vorrechte zurückgelangt. Dann aber habe Jelzin durch Verhinderung des großrussischen Putschversuchs vom August 1991 den Wiederaufbau des Imperiums verhindert und es im Dezember 1991 durch Verteilung an die Nationalitäten umstandslos aufgelöst. Das sei eine Tragödie, weil mit der Sowjetunion keineswegs der nie existente Kommunismus unterging, sondern das sich mit seinen Farben lediglich schmückende Russische Reich.

Die Demografie und auch die Ökonomie Mexikos

Am 24. Mai 2009 ruft Putin den Russen zu: „Habt ihr Denikins Tagebücher gelesen? Lest sie um Himmels willen.“ Denikin schreibt seinerzeit von Großrussland, dem alten Großherzogtum Moskau, und von Kleinrussland, der Ukraine. Beide gehören unauflöslich zusammen und dürfen nicht durch Minderheitenrechte beschädigt werden. Deshalb beschwört Putin 2009 seine Landsleute, die mit immer noch 17 Millionen Quadratkilometern längst überfordert sind: „Niemandem ist eine Einmischung in unsere Beziehungen [zur Ukraine] erlaubt. Das war immer nur ein Angelegenheit für Russland allein“ (auf Russisch bei Interfax, 24. Mai 2009). 

Von 146 Millionen Einwohnern der Föderation sind nur 116 Millionen russisch. Unter 42 Millionen Ukrainern leben auch nur 7 Millionen Russen. Das ist die Demografie und auch die Ökonomie Mexikos, das allerdings die Menschheit nicht nuklear auslöschen kann. Direkt in Moskau erinnert Alexander Sokurow – Russlands angesehenster Intellektueller und für seinen Faust-Film Gewinner des Goldenen Löwen in Venedig – den Machthaber im Dezember 2021 daran, dass ethnische Minderheiten innerhalb der Föderation Angst haben vor Russen. Man solle sie gehen lassen, wenn sie weg strebten. Putin verehrt den Regisseur, verwarnt ihn jetzt aber hart. Er wolle zum Großherzogtum Moskau zurück. Putins Reich soll nicht wie die westlichen Altmächte werden. Alle noch ihm untergebenen Eroberungen der Zaren sollen auch in Zukunft beherrscht werden.

Putins erste Kriegserklärung zur Ukraine liegt nun fast dreizehn Jahre zurück. Sie entspringt durchaus einer amour fou, die der Verehrten eher das Leben raubt, als sie anderen zu überlassen. Ein Stück weit ist das verständlich, denn Russland hatte weniger Zeit zum Verarbeiten des Trennungsschmerzes als andere Imperialismen. Die Reiche der Deutschen und Österreicher gehen schon 1918 unter. Die Alliierten folgen bis 1970. Portugal gibt erst 1974 auf. Immer ist dabei die westliche Linke auf Seiten der rebellierenden Kolonien, die fast durchweg in denselben Sprachen kommunizieren wie die Herrenländer. Das erst 1991 versinkende Reich der Moskowiter wird von seinen altmarxistischen Verteidigern bis heute nicht ernsthaft analysiert. Putin hat spätestens 2009 seinen Charakter erkannt und sich eben darin verliebt. Vielleicht wird 2022 das Jahr, in dem seine linken Bewunderer sich über ihre Denikin-Verehrung erschrecken und zum Antikolonialismus zurückfinden.

 

Gunnar Heinsohn hat 2011 am NATO Defense College (NDC/Rom) das Fach der Kriegsdemographie eingeführt und bis 2020 gelehrt.

Foto: Unbekannt via Wikimedia Commons

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Johann Santi / 28.02.2022

Tja, und Herr Stoltenberg war in jungen Jahren überzeugter Leninist, dann GAVI-Direktor und Special Envoy on Climate Change der UNO. Was bedeutet das? Weitere Fragen an den Nato-Fachmann: Wenn Putin nicht verrückt sein sollte, welche aktuelle Entdeckung in der Ukraine hat ihn denn dann so dermaßen beunruhigt, dass er in eine nicht besonders gut vorbereitete Militärkampagne gestartet ist? Amerikanische Atomraketen, amerikanische Atomwaffenlager, amerikanische Biowaffenlabore (vgl. Corona), amerikanische Infrastruktur für Cyberangriffe, eine weitere Stationierung amerikanischer („Ausbildungs“-)Truppen oder alles zusammen? Es gab doch im Dezember ein russisches Angebot für ein Abkommen über Sicherheitsgarantien, das von der Nato und den USA schmählich missachtet wurde. Wieso denn diese Missachtung?

Angelika Meier / 28.02.2022

@Martin Wehlan / 28.02.2022 Ja die Ukrainer wollen reich werden - wie alle Menschen. Aber wenn sie wohlhabenderer sind, könnte es durchaus sein, dass sie den westlichen Lebensstil als dekadent, inhaltsleer und verlogen ablehnen. (Soll ja mittlerweile weltweit nicht so selten sein, hört man.) Halte ich für möglich. Und dann könnten sie sich auf “ihre Geschichte” rückbesinnen. Wie immer sie die sehen. Als Ukrainer oder als Teil der Russen.

Dieter Kief / 28.02.2022

Sehr informativ: Glenn Greenwald, einer der besten amerikanischen Journalisten, über den War in the Ukraine - auf YouTube zu finden. Eine Stunde. Sehr gut, sehr empfehlenswert.

R.Camper / 28.02.2022

Vielleicht sollten sie ja auch Mal über die Kriegserklärung der Ukraine an Russland berichten. Solwenskyj hat im März 2021 das Dekret 117/2021 unterzeichnet, was die Rückeroberung der Krim und den Beitritt zur Nato zum Inhalt hatte. Die Berliner Zeitung hat einen ausführlichen Bericht dazu veröffentlicht. Wer unter- Dekret 117/2012- Ukraine - Berliner Zeitung -sucht, sollte schnell fündig werden.

Marc Greiner / 28.02.2022

Die Sowjetunion war nichts anderes als ein Russisches Kolonialreich. Mit dem Unterschied, dass die Kolonien an Russland angrenzten und nicht in Afrika oder Übersee lagen. Auch die Weissrussen und Ukrainer, obwohl als Brudervolk beschworen und von der einfachen Bevölkerung auch so gesehen, waren Bürger zweiter Klasse, all die anderen dritter oder sogar vierter Klasse. Man mag sich vielleicht noch an die 2000er Jahre erinnern, als es zu einem Exodus russisch-stämmiger Juden kam weil sie massivst bedroht wurden. Und ich habe einige Videos gesehen von Jagden auf “Schwarze” - so werden alle nicht-Russen genannt, vor allem Kaukasier. Die Jagden auf Homosexuelle kam erst danach. In den 90er Jahren dachte ich einmal in Moskau ich sei in einen Dreh für einen historischen Film geraten als ich aus der U-Bahn Station Tverskaya rauskam: Männer und Frauen in Khakihemden mit dem Nazisymbol. Das muss man gesehen haben. Es hat sich nichts geändert. Heute laufen im Fernsehen Lieder mit Texten wie “vom Baltikum bis Alaska”. Aber hey, Schuld ist Amerika.

Arne Ausländer / 28.02.2022

Parallelen zwischen Hitlers und Putins Taktik fielen schon 2014 einem Moskauer Professor auf, der folgerichtig Putin vor den Folgen warnte. Dies gehörte zu seinem Job - den er umgehend verlor. “Cancel Culture” auch dort. - Parallelen auch in der Heldenverehrung: In “Zwischen Paris und Vichy” von Max Clauss, 1942 in Berlin erschienen, ist ein Bild eines ganz kleinen Hitlers (mit Gefolge) am riesigen Grab Napoleons. Das war kein Schnappschuß, sondern ein inszeniertes Bild! Allerdings wird damit sichtbar, daß schon Hitler nur scheinbar deutsche Interessen vertrat. Sonst hätte er doch nie im Osten angegriffen, bevor er im Westen den Rücken frei hatte - nur ein Beispiel von vielen. Aber auch Putin verzettelt sich am Westrand seines Riesenreichs, statt dessen Ressourcen wirklich effektiv zur Geltung zu bringen - was jeden Angriff von außen so unsinnig machen würde, wie dies für die USA schon lange gilt. - Hitler war über Thule u.v.a. Linien an England gebunden, Putin ist immer in die westlichen Machtstrukturen eingebunden gewesen. Hätte der Westen sonst den (Ex?-)KGB-Mann Schröder als Bundeskanzler unkommentiert gelassen (während Rußlanddeutsche mir schon 2000 sagten: Der redet wie einer “von uns” - also aus der SU)? Und auch seinen Gazprom-Job toleriert? - Nun, Herr Heinsohn mit seinem NATO-Job wird da wohl nicht zu tief graben dürfen. Oder doch? Ich würde mich gern mit einem Hintergrundbeitrag zu den genannten Fragen widerlegen lassen.

Andreas Rühl / 28.02.2022

Wollen Sie mit diesem Beitrag Ihre grotesk falschen Prognosen wegwischen?

Jakob Mendel / 28.02.2022

Sollte es nicht „GroßFÜRSTENtum Moskau“ heißen?

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Gunnar Heinsohn / 01.01.2023 / 12:00 / 17

Whoopi Goldberg und „Jewish Race”

Nicht aufgrund ihrer „Rasse“, sondern wegen der „Unmenschlichkeit des Menschen gegen den Menschen“ habe Hitler die Juden ermorden lassen, erklärt Whoopi Goldberg im Magazin der…/ mehr

Gunnar Heinsohn / 01.11.2022 / 10:00 / 133

Putinsturz durch heimkehrende Truppen?

Eroberungskriege aus einer demografisch so desolaten Nation wie Russland hat es bisher nicht gegeben. Das weiß auch Putin. Seine Fehlkalkulation, was die Motivation der eigenen…/ mehr

Gunnar Heinsohn / 27.09.2022 / 12:00 / 114

Putins nukleare Vorsicht

Putin droht zwar gelegentlich mit dem Einsatz von Atomwaffen, doch wird er ihn wohl nicht befehlen. Nicht weil er Skrupel hätte, sondern weil er weiß,…/ mehr

Gunnar Heinsohn / 21.09.2022 / 13:50 / 136

Putins Teilmobilisierung: Wofür die einzigen Söhne verheizen?

Schon am 20. September berichtet Igor Sushko über die Panik russischer Mütter, die ihre Söhne – überwiegend einzige Kinder – vor Putin Teilmobilisierung ins Ausland schaffen…/ mehr

Gunnar Heinsohn / 13.07.2022 / 12:00 / 134

22 Jahre Ostpolitik gegen die Ukraine und Polen

Deutschland macht seit spätestens dem Jahr 2000 Politik zu Lasten der Ukraine und Polens- Hier eine Auflistung. Prolog 1997 Deutsche Firmen wollen ihr Gasgeschäft mit Russlands…/ mehr

Gunnar Heinsohn / 28.06.2022 / 12:00 / 84

Patent und Verstand: Ex-Kolonie Südkorea überholt Deutschland

Südkorea ist überaltert, holt sich keine ausländischen Arbeiter ins Land, hat nahezu keine Bodenschätze, war unterdrückte Kolonie der Japaner und vom brutalen Korea-Krieg verwüstet –…/ mehr

Gunnar Heinsohn / 09.05.2022 / 10:00 / 98

Putins Nukleardoktrin

Wer Putins Äußerungen zum Einsatz nuklearer Waffen verstehen will, muss beachten, dass Russland seit dem Jahr 2000 einer neuen Nukleardoktrin folgt. Sie erlaubt es Moskau,…/ mehr

Gunnar Heinsohn / 02.03.2022 / 08:06 / 188

Putin verrechnete sich mit dem kampflosen Sieg und steht nun mitten im Krieg

Dass Putin an die schnelle Kapitulation Kiews und das Überlaufen der ukrainischen Truppen wirklich geglaubt hat, belegt ein am Samstag, den 26. Februar bereitgestellter und…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com