Von Anna Basina.
Ich bin keine Moralistin, die im Namen des Guten zu einem Leserpublikum – ebenfalls bestehend aus Guten – spricht, um sich gegenseitig darin zu bestärken, dass wir die Guten sind. Ich bin keine Lehrerin, um Sie eines Besseren zu belehren, auch bin ich keine Historikerin, um Sie aufzuklären. Ich bin keine Aktivistin, um Parolen herauszuschreien, ich bin auch keine Germanistin, um Sie zu einer Sprachanalyse zu bewegen und keine Philosophin, um Sie zu einem Gedankenexperiment einzuladen. Nach so vielen Worten darüber, wer ich alles nicht bin, bleibt mir nur zu hoffen, dass Sie mich ausreichend gut kennengelernt haben und das mir fehlende Expertentum als ausreichendes Eignungskriterium anerkennen, um mir einen Teil Ihres Vertrauens zu schenken und mich auf einen Gedankenspaziergang zu begleiten.
Ich lade Sie zu folgendem Wortspiel ein: Man bilde einen simplen Satz, ersetze im folgenden Schritt einen der Satzbestandteile durch ein Synonym und führe diesen Prozess bis zur Erschöpfung des zur Verfügung stehenden Wortschatzes fort. Exerziere ich diese Übung zur besseren Veranschaulichung an einem Beispiel, so würde unter Auslassen unzähliger Varianten aus dem Satz „Ich habe etwas zu sagen.“ – „Ich habe etwas zu verfassen.“ – „Ich habe etwas zu melden.“ – „Ich habe etwas zu kritisieren.“ – „Ich habe etwas zu gestehen.“ – „Ich habe etwas zu entdecken.“ – „Ich habe etwas zu ernten.“ – „Ich habe etwas zu repräsentieren.“ Setzte man dieses Wortspiel endlos lange fort, erhielte man am Ende einen Satz, dem jegliche Nähe zu seiner ursprünglichen Fassung fehlen würde; die originale Bedeutung wäre auf ewig verloren, das Wortspiel dagegen gewonnen. Und genau dieses semantische Missverständnis tritt ein, wenn vermeintliche Experten anfangen, mit uns ihre Wortspielchen zu treiben.
Zu schwer, zu mächtig, um übersetzt zu werden
Alle Inhalte, die mit dem Verstand zu begreifen sind, können mit Leichtigkeit in Worte übersetzt werden. Betriebsanleitungen, Rezepte, Dissertationen und wissenschaftliche Abhandlungen oder Maßnahmenkataloge gegen Rassismus und Antisemitismus – ihr aller Sinngehalt ist sprachlich erklärbar, mehr noch, die Fähigkeit, diese technischen Sachverhalte für Interessierte über das Werkzeug der Sprache verständlich zu machen, gibt Hinweis darauf, wie gut der Inhalt vom Erklärenden höchstpersönlich verstanden und verinnerlicht wurde. So verwundert es keineswegs, dass vermeintliche Experten, also die bereits erwähnten Guten der Gesellschaft, wie Politiker und Aktivisten, unaufhörlich plappern, um sich über die Anzahl der gesprochenen Worte in ihrer Verstandeskraft zu messen und dabei vollkommen übersehen, dass die Sätze „Ich habe etwas zu sagen.“ und „Ich habe etwas zu plappern.“ bei Weitem nicht dasselbe bedeuten.
Worüber sich aber die wenigsten Gedanken machen, ist, warum Menschen, die sehr wohl etwas zu sagen hätten, manchmal lieber schweigen. Menschen, die über tiefes Nachdenken und prägende Lebenserfahrungen zu Wissen und Erkenntnissen gelangen, verfügen über eine Wahrheit, die nicht immer in Worte übersetzt werden kann.
Meine Urgroßeltern, seligen Angedenkens, haben den Holocaust überlebt. Sie haben ihre Eltern, Geschwister und zum Teil auch ihre Kinder überlebt. Sie haben unendliches Leid erfahren, das nicht mit Worten gefasst werden kann. Familiengespräche über ihre Vergangenheit zeigten lindernde Wirkung, weil der von meinen Urgroßeltern als gestalt- und damit als endlos empfundene Schmerz aus der Sphäre des Unbegreiflichen mithilfe von Worten in die reale Welt überführt wurde. Dennoch vermochte das ausgesprochene Wort die durchlebte Wahrheit nur an ihrer Oberfläche zu streifen. Der Schmerz blieb. Er war zu schwer, zu mächtig, um übersetzt zu werden. Die Sprache endete an ihm und Worte reichten nicht aus.
Hauptsächlich als matte und abgeschliffene Bachkiesel
Je mehr Worte gesprochen werden, desto häufiger entfernen sich die Wortbesitzer von dem beabsichtigten Sinngehalt. Und nur zu häufig schleicht sich bei ihnen das semantische Missgeschick ein, dass aus dem ernsthaft beabsichtigten Satz „Ich habe etwas zu sagen“ – der Sinn „Ich habe etwas zu repräsentieren“ zum Vorschein tritt, wobei ich dem Gesagten nicht die geringste Substanz noch Repräsentanz abgewinnen kann.
Im Vorfeld an den Tag des Gedenkens an die Befreiung des Konzentrationslagers in Auschwitz am 27. Januar, startet der Jüdische Weltkongress (WJC) jährlich zum internationalen Holocaust-Gedenktag eine weltweite Aktion des Erinnerns. Unter dem Motto „We remember“ ruft der WJC Menschen dazu auf, an den Massenmord der sechs Millionen Juden in Europa zur Zeit des Nationalsozialismus zu erinnern. Wer seine Unterstützung für diese Aktion zum Ausdruck bringen will, ist aufgerufen, ein Selfie mit der eindringlichen Botschaft „We remember“ ins Netz zu stellen. Eine gut gemeinte Absicht bedeutet aber noch lange keine geglückte Umsetzung.
Just in diesem Jahr demonstrierten eifrige Aktive, dass sie ihren Wortschatz deutlich reicher einschätzen als den der tatsächlich Betroffenen. Das Junge Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft zum Beispiel wagte es in seinem Social-Media-Beitrag, nicht nur dazu aufzurufen, niemals zu vergessen, sondern auch niemals zu vergeben! Andere jüdische Studierendenverbände demonstrierten mit ihrer Teilnahme an dieser Aktion, dass sie nicht in der Lage sind, die Buchstaben der Aussage „We remember“ gerecht und unter Einhaltung der Regeln zur Silbentrennung unter ihrem Vorstand auf Transparenten aufzuteilen, damit jeder in seinem Bedürfnis befriedet sein würde, der Stimmung des Anlasses angepasstes Schwarz-Weiß-Foto in den Social-Media-Kanälen veröffentlicht zu sehen. Und viele andere Kampagnen mit den Worten „Nie Wieder“ ließen den Eindruck entstehen, sie würden vordergründig nur auf die Selbstinszenierung – wohlgemerkt erneut in gedecktem Schwarz-Weiß – zielen. Unter der Absicht der Aktivisten und Gutmenschen als Bergkristalle, mit Stärke und Kante dem Erinnern neuen Glanz zu verleihen, erlebte ich die meisten von ihnen hauptsächlich als matte und abgeschliffene Bachkiesel.
Bescheidenheit und Demut, die wir unseren Worten beilegen
Obgleich sich die Worte „Quantität“ und „Qualität“ nur um zwei Buchstaben unterscheiden, könnten sie sich in ihrem Sinngehalt kaum ferner sein. So bemisst sich die Qualität des Gedenkens kaum in der Anzahl der „Likes“ für ausgestellte Schwarz-Weiß-Fotos, der Anzahl der Kniebeugen, die Staatsmänner und -frauen bei Kranzniederlegungen vollführen oder der Anzahl der mit ernstem Gesicht vorgetragenen Worte.
Die Qualität des Gedenkens bemisst sich für mich als Nichtexpertin in der Besinnung auf den Anlass des Gedenkens. Sie bemisst sich darin, ob wir Gutmenschen die Absicht verfolgen, selbst mit Aufmerksamkeit bedacht zu werden, oder ob wir aufrichtig der Betroffenen zu gedenken wünschen. Die Qualität des Gedenkens bemisst sich in der Bescheidenheit und Demut, die wir unseren Worten beilegen, und sie bemisst sich in der Erkenntnis, dass unser Wort niemals genügen wird, um die Wucht und Schwere des Holocaust zu berühren. Sie bemisst sich in der Erkenntnis, dass dort, wo Sprache endet und Worte nicht länger ausreichen, die Wahrheit beginnt.
Der Gedenktag des Staates Israel für die Märtyrer und Helden des Holocaust wurde in diesem Jahr von der jüdischen Gemeinschaft in aller Welt am 8. April begangen. Selbstverständlich kam auch dieser Gedenktag nicht ohne offizielle Gedenkveranstaltungen aus. Im Beisein des Präsidenten und des Premierministers des Staates Israel versammelten sich zahlreiche Würdenträger, Überlebende, Kinder von Überlebenden und deren Familien in Yad Vashem, um der zentralen Gedenkzeremonie beizuwohnen, von ihren Erfahrungen zu sprechen und Fackeln von symbolträchtigem Charakter zu entzünden. Solch offizielle Versammlungen bedürfen einer Inszenierung, aber die Aufführungen zum israelischen Gedenktag waren nach meinem Geschmack stilvoller, gesetzter, von keinem Konkurrenzgeist der Redner beschattet, und vor allem ging der Yom HaShoa an vielen jüdischen und nichtjüdischen Gutmenschen vorbei, sodass sie und ihre Social-Media-Kanäle endlich schwiegen.
Nach so vielen Worten über Sprache, ob nun als exakte Wissenschaft der Logik oder als Kunstform des Ausdrückbaren, bleibt die Erkenntnis, dass Sprache niemals imstande sein wird, den ihr zu Grunde liegenden Gedanken in seiner Ganzheit wiederzugeben. Sobald eine unberührbare Idee, ein unantastbares Gefühl, oder ein endloser Gedanke in Spracheinheiten übersetzt werden, sind sie nicht länger unberührbar, unantastbar oder unendlich. Sobald unser innerstes Innenleben über das Werkzeug der Sprache die physische Welt berührt und sich in Worte kleidet, macht es sich nackt und begrenzt. Deshalb ist es zu bestimmten Anlässen angebracht zu schweigen. Zu schweigen bedeutet, am Gedenktag des Holocaust die Leere des ausgelöschten Lebens hörbar zu machen. Zu schweigen bedeutet, die Schwere einer endlosen Stille in sich eindringen zu lassen. Zu schweigen bedeutet, den Ermordeten und Überlebenden den Ihnen gebührenden Respekt entgegenzubringen, indem wir erkennen, dass dort, wo Sprache endet und Worte nicht ausreichen, ihre Wahrheit beginnt.
In Gedenken an meine Urgroßeltern und all jene, denen das Leben während der Shoa genommen wurde.
Anna Basina, geb. 1995 in Moskau, studiert Humanmedizin an der Universität zu Lübeck und engagiert sich aktiv im Bereich der jüdischen Jugend- und Bildungsarbeit. So gehört sie dem Gründungsvorstand des Verbands Jüdischer Studierender Nord (VJSNord) an und ist Gesamtsprecherin des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks.