„Es ist ja nur ein Ballon“, so ulkte man im US-TV, als dieser Tage ein chinesischer Ballon mit Geräten an Bord über die USA flog. Einige Leute sind vorsichtiger und vermuten einen „Test“. Was meinen Sie aber, das da womöglich „getestet“ wurde?
Sun Tzu lehrt, dass der beste Krieg jener ist, der gar nicht erst geführt wird. Und wenn du den Krieg doch führen musst, dann öffne deinem Gegner einen Weg, sich bald geschlagen zu geben – und motiviere ihn, dies auch zu tun. So wird zwar Krieg geführt, aber nicht lang.
Doch wenn du den Krieg führen musst, dann nutze natürliche Vorteile wie höhere Ebenen und psychologische Manipulation. Unterwerfe den Gegner vollständig und gründlich, damit zumindest dieser Krieg nicht wiederholt werden muss.
Wir Westler meinen zuweilen, Sun Tzu zu verstehen, weil wir unsere Übersetzungen der „Kunst des Krieges“ gelesen haben. Auch ich habe Sun Tzu gelesen, als Kind schon, neben anderen Autoren wie etwa Michael Ende oder Roald Dahl. Ich las ihn, weil es Spaß machte. Nicht, weil ich damals anwendbare Wahrheit darin suchte. Heute aber ahne ich, dass mir – und uns – einige wesentliche Voraussetzungen fehlten, um die Bedeutung des Buches zu begreifen. Sehr wichtige Voraussetzungen, mit sehr weitreichenden Auswirkungen.
Nur verirrt?
Dieser Tage hörten wir vom Ballon, der von China aus über Kanada und USA geflogen war. Ein Ballon, der über Kernkraftwerke und geheime Einrichtungen flog, mit digitalen Geräten an Bord. „Luftschiff“ wäre präziser als „Ballon“, denn das Fluggerät verfügte über Steuerung und Energieversorgung – und seine Flugbahn sah recht „unzufällig“ aus.
Das Gerät wurde von der US-Armee abgeschossen (nach einem Flug über Kanada und die USA – und seine Daten sind wahrscheinlich bereits auf chinesischen Servern). Die Chinesen tun pro forma minimal empört, es sei doch nur ein verirrter ziviler Ballon gewesen. Ach ja.
Was aber wollte China tatsächlich mit dem so sichtbaren Ballon erreichen? Im Essay vom 5.2.2023 vermutete ich, dass China damit die Welt allgemein und Auslandschinesen daran erinnern wollte, dass es sie im Blick hat, rund um die Uhr, wo sie auch sein mögen.
Die andere Deutung
Mittlerweile kursiert eine ziemlich erschreckende und erschreckend simple Theorie für die wahre Absicht hinter dem China-Ballon. (Darf man „China-Ballon“ sagen, oder hat die WHO bereits einen Kunst-Namen vergeben, um die Kommunistische Partei Chinas nicht zu verärgern?)
Der US-Blogger Brandon Smith hat eine Reihe möglicher Nutzen eines militärisch genutzten Ballons gelistet. Neben einigen Arten von Spionage und Überwachung, etwa von Satelliten koordiniert, können Ballons dieser Art zur Auslieferung von Waffen eingesetzt werden – zum Beispiel „EMP-Waffen“. „EMP“ steht für „Electromagnetic Pulse“: In ausreichender Höhe wird eine „kleine“ Atombombe gezündet, welche die Menschen darunter nicht mal nennenswert verstrahlt oder gar tötet, aber sämtliche Elektronik ausschaltet.
Ein EMP-Angriff ist zwar nicht direkt tödlich – aber bald indirekt. Stellen wir uns vor, dass alle Ampeln, alle Telefone, die meisten Autos, das Internet, elektrische Türen, Kühlgeräte, alle Geräte in Krankenhäusern et cetera, zum Erliegen kommen. Eine Gesellschaft fällt in die Steinzeit zurück – ohne die Kenntnisse der Steinzeitmenschen. (Und ohne die Möglichkeit, sich die kaputte Elektronik einfach neu zu kaufen, denn wo wird die zum guten Teil hergestellt?)
Hatte dieser Ballon eine solche Waffe an Bord? Nein. Nicht, dass wir wüssten. (Nachtrag: Kurz nachdem ich diesen Essay veröffentlicht hatte, lese ich, dass nun doch gefragt wird, ob der Ballon womöglich Sprengstoff an Bord hatte. Und doch hatte er theoretisch mit einem solchen Angriff zu tun.
Warum und wie also?
Eine Theorie zur wahren Absicht hinter dem China-Ballon lautet etwa so: „Der Ballon war ein Testballon. Es war ein psychologischer Test, wie die amerikanische Bevölkerung auf eben einen solchen Ballon reagieren würde.“ (Man hört diese These von verschiedenen Experten, siehe etwa hier.)
Wir werden nie wissen, ob ein hohes Mitglied der kommunistischen Partei Chinas zum anderen sagte: „Lass uns einen Testballon senden, um zu sehen, wie die Amerikaner darauf reagieren, wenn wir ein Fluggerät über ihr Land fliegen lassen, das uns nicht nur Überwachungsdaten besorgt, sondern auch Waffen ausliefern könnte, welche die USA auf Knopfdruck ausschalten könnten, wenn wir nur genug dieser Ballons senden.“
Ob die Chinesen es so planten oder nicht, wir dürfen davon ausgehen, dass sie die Reaktionen der Amerikaner sehr genau erfassen und auswerten. Wie reagierten also die Amerikaner?
Stroh und Steine
Ob der Ballon ein aktiv geplanter „Testballon“ war oder nur ein „versehentlicher“, realistisch bewertet, sind die Ergebnisse dieses „Tests“ für China durchaus positiv verlaufen. US-Mainstream-Medien reagierten auf gewisse Weise ähnlich, wie sie auf Fragen nach dem Ursprung des Virus reagierten: im Sinne der Kommunistischen Partei Chinas.
Late-Night-Einpeitscher mühten sich, das Gerät niedlich erscheinen zu lassen. BuzzFeed sammelte Witze. Glaubt man dem Mainstream, war nicht der Ballon das Problem, sondern dass man bei Fox News darüber besorgt war. Das nächste Mal, wenn China ein paar Ballons lossendet, wird man wohl wieder lachen. Beim dritten Mal wird es langweilen. Man wird die Ballons zu ignorieren lernen, und wer sie nicht ignoriert, wird als „Rassist“ et cetera gelten.
Und wenn dann hunderte oder tausende Ballons an ihre Positionen fliegen, wird es „normal“ sein, und dann könnten die EMP-Bomben gezündet werden, und dann lernen die Amerikaner, wie man Feuer mit Steinen und trockenem Stroh entfacht.
Immer nur Phasen
Wir kennen ja „unser“ Zitat von Carl von Clausewitz (1780–1831), der Krieg sei die Fortsetzung mit anderen Mitteln. Weniger bewusst ist uns, dass Mao Zedong im Jahr 1938 sagte, Krieg sei Politik mit Blutvergießen, und Politik sei eben Krieg ohne Blutvergießen.
Man könnte auch sagen, dass alles Krieg ist. So wie der lebende Mensch ein bewusstes Lebewesen ist, das im Schlaf oder im Rausch nur vorübergehend sein Bewusstsein verliert, und es dann doch wiedergewinnt, so ließen sich die Beziehungen der Nationen als dauernder Krieg beschreiben (ja, ähnlich wie in „1984“), und was wir „Frieden“ nennen, sind vorübergehende Phasen des Waffenstillstands, in welchen man die Truppen ausruht, neue Ressourcen beschafft und sich neue Taktiken ausdenkt – das große Ziel bleibt nach einer solchen Deutung immer das eine: „Macht der eigenen Nation, Unterwerfung allen übrigen Nationen, und wer das anders sieht, dessen Rolle ist damit schon geklärt.“
Wenn wir hier aber von „Krieg“ hören, denken wir an Waffen und Panzer. Die gibt es auch in China, doch der chinesische Begriff von „Krieg“ greift weiter. Zusätzlich zum Krieg mit Waffen kennt man in China noch weitere, von Sun Tzu inspirierte „Drei Kriegsarten“: Öffentliche Meinung, Psychologie und die „juristische Kriegsführung“.
Nicht zu unterscheiden
Das Ziel des Krieges ist nicht der Einsatz von Waffen, sondern die Unterwerfung des Gegners. In diesem Essay beschrieb ich, wie die Handlungen unserer Politiker nicht grundsätzlich andere wären, wenn man sich aktiv bemühen würde, Europa und Deutschland zur Kolonie Chinas zu machen. In Texten wie „Chinesen im Hafen“ beschreibe ich den Ausverkauf deutscher Werte nach China. Diese „Verkäufe“ bauen wohlgemerkt auf unser Recht – ähnlich Käufe in China wären nach chinesischem Recht kaum auf die gleiche Weise möglich.
Als Trump es wagte, TikTok verbieten lassen zu wollen, klagte TikTok vor US-Gerichten. In Deutschland klagte TikTok dagegen, seine User denunzieren zu müssen, was natürlich dreifach ironisch ist: Erstens kämpft damit eine Firma in chinesischem Besitz dagegen, dass Deutschland mehr wie China wird. Zweitens würden solche Daten in China ganz selbstverständlich an die Behörden weitergeleitet und eine solche Klage wäre lächerlich.
Und drittens sind die großen westlichen Social-Media-Netzwerke in China ohnehin verboten. TikTok allein bespielt also alle drei Arten der „Dreifachen Kriegsführung“: Man beeinflusst die öffentliche Meinung (unter Jugendlichen), man manipuliert die Psychologie, und man nutzt das Rechtssystem des Kriegsgegners gegen ebendiesen.
Nicht nur Metaphern
Ich weiß nicht, wieso Merkel sich so „naiv“ gegenüber China verhielt. Ich kann nicht belegen, dass einige „Journalisten“, die wie Chinas Propaganda-Personal wirken, auch von China gesponsert sind. Ich bin nicht genau sicher, warum Herr Schwab ausgerechnet in China ein „Vorbild“ für viele Länder sieht. Ich bin mehr so Philosoph, und als Philosoph wage ich Sun Tzus Ideen von der Kriegsführung zu ergänzen: Natürlich ist der Krieg, den du gar nicht erst beginnen musst, der günstigste – doch gleich danach kommt der Krieg, von welchem der Gegner gar nicht merkt, dass du ihn führst (und wenn er es merkt, hat er längst verloren).
Ja, vielleicht sind einige Politiker und Journalisten ja der Meinung, dass wir uns bereits im „unsichtbaren Krieg“ befinden, doch man deutet es sich schön, und man benutzt Begriffe wie „Handelskrieg“, als wären sie wirklich nur Metaphern. Oder man ist sich aus privaten Gründen sicher, zumindest privat und persönlich doch zuletzt auf Gewinnerseite zu stehen.
Das Ziel des Krieges ist, dass eine Nation die andere unterwirft. Und wenn Politik ein Krieg ohne Blutvergießen ist, wie man in China glaubt, dann ist auch das Ziel der Politik, die andere Nation zu unterwerfen, nur dass die Waffen dann moralische NGOs, politische Korrektheit, Wokeness, „zuverlässige“ Politiker und Journalisten, verblödende Social-Media-Apps und zu all dem noch Klagen sind, für die man im Land des Klägers ausgelacht würde, mit denen man aber das Rechtssystem eines Gegners gegen ebendiesen wenden kann.
Was sie ist
Vor Jahrzehnten las ich Sun Tzu zum ersten Mal. Heute hat mein Sohn ihn selbst für sich entdeckt, auch wenn er ihn „auf YouTube hört“, während er Schach spielt. Und mir wird bewusst, dass mir damals einige Einsichten zu diesem Buch fehlten – fehlen müssten. Ich hielt „Die Kunst des Krieges“ damals mehr für ein geschichtliches Werk, eine weitere Philosophie eben, nur eben eine rund um Krieg und Schlachten.
Erst heute setzt sich bei mir die Einsicht durch, dass es Nationen geben könnte, die Sun Tzu sehr ernst nehmen, und sich dazu immerzu im Krieg wähnen, und die also alle anderen unterwerfen wollen, und für die Politik wie auch Frieden nur eben Krieg mit zeitweiliger Waffenpause ist. Ich begreife auch erst heute, dass zum „Krieg ohne Krieg“ gehört, dass es durchaus sein kann, dass du dich längst im Krieg befindest, es aber nicht weißt – was natürlich deine Gewinnchancen stark beeinträchtigt.
Vielleicht war der Ballon wirklich nur ein verirrter Ballon. Kann einem ja mal passieren. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass am Ende immer die Realität gewinnt. Und wenn man auch nur eine Chance haben will, sich auf der Seite der Gewinner wiederzufinden – oder zumindest nicht als Verlierer zermalmt zu werden – sollte man wissen, was die Realität auch wirklich ist.
Dushan Wegner (Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht. Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com.