Roger Letsch / 14.07.2023 / 14:00 / Foto: Pixabay / 46 / Seite ausdrucken

Erster Platz für alle!

Wohin man auch schaut, springen einem gleichzeitig Mittelmaß und eine unerklärliche Anspruchshaltung entgegen, die sich aus nichts speist als der eigenen Existenz selbst. Leistungen erbringt man nicht, man erhält sie. Anerkennung wird nicht verdient, sondern „gerecht“ verteilt.

Am ersten Mai wird bei uns gewandert. Immerhin zehn Kilometer. Entlang der Strecke knipst man mittels an Wegmarken hängender Zangen Löcher in ein kleines Kärtchen, und hat man alle beisammen, ist also ohne Abkürzung ans Ziel gelangt, gibt’s ein goldenes Stück Blech zum Umhängen. Die Kinder sind meist stolz wie Oskar, wenn sie behängt mit ihren Medaillen über den Platz laufen, wo die Erwachsenen längst zu Bier, Bratwurst und Maibowle übergegangen sind. Wir nehmen beim Laufen nicht die Zeit, auch wenn die sarkastischen Sprüche beim Überholen langsamer Wanderer natürlich dazugehören. Die Scherze sind die verblasste Erinnerung daran, dass es bei solchen Gelegenheiten meist darum geht, wer schneller, stärker oder geschickter ist. Wettkampf nennt man das im Sport, Meritokratie heißt das Konzept, und wir sind als Gesellschaft gut damit gefahren, den Leistungsgedanken, wenn nicht in allen, so doch in vielen Bereichen nicht ganz aus dem Blick zu verlieren. Beim Maiwandern heißt das: Wir laufen nicht sieben, nicht acht, sondern zehn Kilometer. Sonst keine Medaille.

Warum ich Ihnen das erzähle, liebe Leser? Weil sich unsere Gesellschaft anschickt, den Leistungsgedanken selbst noch in seiner selbstverständlichsten Form aus dem Alltag zu verbannen, immer darauf bedacht, „alle mitzunehmen“ und „niemanden zurückzulassen“, kurz, keine Verlierer zuzulassen. Gewinner gibt es dann aber auch nicht mehr. Das ist die Kehrseite der „Equity“-Medaille.

Leistungsdruck vermeiden

Vor einigen Tagen erfuhr man, dass es Regeländerungen bei den nicht wenig gehassten Bundesjugendspielen geben werde, um den Schülern die Demütigung zu ersparen, sich mit anderen Gleichaltrigen im Sport messen zu müssen. Die taz titelt in Post-Klassenkampf-Manier „Die Bundesjugendspiele gehören abgeschafft!“

„Beim Wettbewerb wird nicht das einzelne Ergebnis gemessen, sondern – am Beispiel Weitsprung – in welchem vorher fest gelegten Bereich ein Kind gelandet ist. […] Am Grundsatz ändert sich damit wenig, denn es geht weiter darum herauszufinden, wie „gut“ ein Kind ist. Daran wäre wenig auszusetzen, wenn das nicht damit einhergehen würde, dass einigen schwarz auf weiß bescheinigt würde, wie 'schlecht' sie sind.“ 

Das sei „schwarze Pädagogik“ meint die taz, und von da ist es nur noch ein Katzensprung bis zum induktiven Schluss, Wettbewerb sei an sich schon irgendwie ein bisschen „nazi“.

„Dabei gewinnen bei den Randsportarten nicht selten die Kinder, die sonst immer als Letztes ins Ziel kommen, weil sie sich langsamer und bedächtiger bewegen und nicht vor lauter Ehrgeiz und Bewegungsdrang im Hüpfsack über ihre eigenen Füße stolpern. Nur Letzteres gilt als 'sportlich'. Ob jemand gerne auf einen Baum klettert, im Wasser planscht, sich zu Musik bewegt, alleine oder mit anderen: Das spielt keine Rolle, wir sind hier schließlich im Kapitalismus. Höher! Schneller! Weiter! Ganz schlaue Leute wenden ein, die Bundesjugendspiele seien gut für diejenigen, die in allen anderen Fächern mit schlechten Noten gedemütigt werden. Als würde die Unterschrift des Bundespräsidenten diese Verletzungen ausradieren! Und als wären Zahlen und Vergleiche in irgendeiner Weise geeignet, Menschen für etwas zu begeistern.“

Dabei sein ist alles, so sagt man, und Begeisterung möge doch bitte durch Teilnahme entstehen, nicht durch Siege. Die Vorstellung, einem Bundesligaclub beim Fußball zuzusehen, dessen Spieler einfach nur gern gegen Bälle treten und die sich nie an irgendwelchen Leistungsparametern messen lassen mussten, amüsiert mich. taz-Autoren würden wohl einwenden, dass dies ja nun etwas gänzlich anderes sei, als bei Bundesjugendspielen in eine Sandgrube zu hüpfen. Das ist richtig, doch wie kommt man von hier nach da ohne Wettbewerb und die bitteren Pillen für viele, denen es an Ausdauer und Talent zum Profi mangelt?

Wie wird man besser in einer Sportdisziplin, einem Handwerk oder einer Wissenschaft, wenn man sich nie ehrlich mit Anderen messen will? Wie süß schmeckt ein Sieg, wenn man nie gelernt hat, mit der Bitterkeit einer Niederlage fertig zu werden? „Equity“, dieser politisch korrekte Popanz der Gleichmacherei, erzeugt Mittelmaß und bestraft den, der die Extrameile geht, härter trainiert, talentierter oder einfach nur fleißiger ist. Doch selbst wenn man Noten weglässt und im Sport „Zielkorridore“ weit fasst: Die Beteiligten wissen dennoch, wer weiter springt, schneller läuft und der Beste in Mathe ist. Man schafft ja nicht die Unterschiede ab, sondern ignoriert sie oder erklärt sie für irrelevant.

Scheißegal und gute Laune

In der angestrebten post-kompetitiven Gesellschaft genügt es nicht, keinen Ehrgeiz zu entwickeln, man muss auch die Erwartungen senken. Am Mittwoch war Schuljahresende in Berlin, der Tag also, an dem die „Giftblätter“ verteilt werden, wie wir früher unsere Zeugnisse nannten. Die Schüler wissen natürlich auch ohne Noten, wer in ihrer Klasse der oder die beste in Mathe, Physik oder Englisch ist. Die Frage, welche Ergebnisse den Fähigkeiten und dem Fleiß des Schülers angemessen sind, obliegt der Einschätzung von Lehrern, Eltern und nicht zuletzt den Schülern selbst. Wir lebten jedoch nicht im besten Deutschland aller Zeiten, wenn sich nicht ein williger Akteur fände, der selbst Unterschiede bei Schulnoten mit Wohlfühlrhetorik glattziehen will. Nur keine Vergleiche, nur kein Wettbewerb, nur keine Verlierer! Ganz vorn dabei in dieser Bewegung und ganz dem Zeitgeist der Unterschiedslosigkeit verschrieben: die evangelische Kirche!

Die lud im besten Berliner Stadtbezirk Neukölln für den 11. Juli zum „Platz 1 für dich – Dein Scheiß-auf-Noten-Segen“ in die Genezarethkirche. Mal abgesehen von der etwas deftigen Formulierung wäre nichts einzuwenden gegen die Botschaft „Noten sind nicht alles“. Aber durch „Platz 1 für dich“ wird es schon für Grundschüler ziemlich eng auf dem Siegertreppchen, auf dem alle unterschiedslos stehen dürfen.

„Jedes Kind erhält ein Erinnerungsfoto und eine Gute-Laune-Medaille.“

Vielleicht bilde ich mir das nur ein, aber wohin man auch schaut, springen einem gleichzeitig Mittelmaß und eine unerklärliche Anspruchshaltung entgegen, die sich aus nichts speist als der eigenen Existenz selbst. Leistungen erbringt man nicht, man erhält sie. Anerkennung wird nicht verdient, sondern „gerecht“ verteilt. Du bist Erster und Bester, egal was du kannst und zu leisten vermagst. Das mag in einer Religion ein Ideal in Bezug auf Gott praktisch und tröstliches Heilsversprechen sein, eine Gesellschaft, ganz gleich wie egalitär sie ist, lässt sich so nicht organisieren.

Für unsere zukünftigen Chirurgen, Architekten, Piloten und Bundesliga-Fußballer wird hoffentlich nie ein leistungsunabhängiges „Platz 1 für dich“ gelten, verbindet sich doch mit dem Vertrauen, dass man in sie setzen muss, der berechtigte Erwartungsdruck, der gestellten Aufgabe gerecht zu werden. Den muss man aushalten können, sowohl als Kapitän bei der Lufthansa wie als Mannschaftskapitän beim BVB. Wer das nicht kann, muss nach wie vor in die Politik gehen, wo Quote, Proporz und Listenplatz ihre verheerende Wirkung tun.

Irgendwie müssen solche Bedenken auch den Segensverteilern der Genezarethkirche gekommen sein, denn die Seite mit der flapsigen Einladung zum „Ihr-seid-alle-gleich-Fest“ wurde offenbar noch vor Beginn der Veranstaltung vom Netz genommen.

Und nun alle, husch husch, zurück ans Projekt „fehlende Fachkräfte ersetzen durch bedingungslose Masseneinwanderung“, um die Folgen der Projekte „ihr seid alle gleich“ und „Leistung darf sich nicht mehr lohnen“ zu bekämpfen.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Roger Letschs Blog Unbesorgt.

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Leserpost

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Karsten Dörre / 14.07.2023

Wundert man sich, dass man Fachkräfte sucht? Es gibt immer weniger Menschen mit ausgebildeten Fähigkeiten, kaum wer kann sich entwickeln, weil Fähigkeiten nicht gesucht, geschweige gefördert werden sollen. Diese Gesellschaft ist sowas von ungebildet, dass diese nicht mehr zu retten ist. Viele Branchen nehmen mittlerweile jeden und suggerieren, das werden Fachkräfte. Die Qualität nimmt ab.

F.Bothmann / 14.07.2023

Letztens beim Markteinkauf war ich zutiefst schockiert: Beim Käsehändler war ein junger Mann wohl erstmalig zum Ausprobieren als Verkäufer beschäftigt. Als ich ihm auf die Rechnung von Euro 11,76,- einen 20 Euro Schein und eine zwei Euro Münze auf die Theke legte, lehnte er das ganz energisch ab. Nur den 20 Euro Schein wollte er haben. Das andere ginge nicht, weil „wegen seines Kopfes“, das würde wehtun, das könne er jetzt nicht rechnen. Diese realexistierende Dummheit fühlte sich wie ein Schlag ins Gesicht aber auch wie eine Niederlage an.

Torsten Hopp / 14.07.2023

Natürlich wird es immer den Besten/die Beste geben. Es darf nicht darum gehen Leistung abzusenken, sondern einzuordnen. Das ist Können guter Pädagogen und die Aufgabe von Eltern. Das motiviert Kinder und Jugendliche zu Leistung und zum Wollen nach Verbesserung und Suche nach den eigenen Stärken. Festgefahrene Lehrpläne ohne Kreativität von Lehrern (wenn es die je gab) und Noten für auswendig Lernen sind Motivationskiller. Es gibt nur noch wenige Kinder und Deutschland kann sich das nicht leisten. Aber bei diesem Führungspersonal ist alles zu spät.

Ulrich Viebahn / 14.07.2023

Leute, die sich nicht anstrengen können und nirgendwo Besonderes leisten, sind furchtbar langweilig. Selbst, wenn sie es mit lustigen Katzenvideos kompensieren wollen. Wir wissen alle, wie quälend Langweile oder Langweiler sind.

Ottmar Zittlau / 14.07.2023

Meine Analyse hält sich recht kurz, beschreibt aber das Geschriebene in einem Wort: Bürgergeld!!

Else Schrammen / 14.07.2023

In der Untertertia bezeichnete mich meine Mathelehrerin als “mathematische Niete”. Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen. “Faules Stück” hätte ich noch gelten lassen, das war ich nämlich. Danach habe ich mich - wie man so schön sagt - auf die Hinterbeine gestellt und meinem erwachten Ehrgeiz freien Lauf gelassen. Ergebnis war eine 1 in der Abi-Arbeit und eine 2 insgesamt. Hätte die Mathelehrerin damals was von “ist ja nicht so wichtig, Hauptsache, du bist irgendwie dabei” gefaselt, wäre das bei mir nie etwas geworden. Im Sport war es genau so. Ich bin ziemlich klein, und von daher war Leichtathletik nicht so mein Ding. Das habe ich in Schule und Verein mit Turnen mehr als wettgemacht. Ehrgeiz und Wettbewerb gehören in allen Lebenslagen nunmal dazu.

T. Schneegaß / 14.07.2023

@Herbert Priess: “Wer allen alles ohne Anstrengung schenkt dann hat für den Beschenkten das Geschenk keinen Wert und wird nicht geachtet.” Man fragte den Gründer von Dubai, Sheikh Rashid bin Said, wie er die Zukunft seines Landes sehe, und er antwortete: „Mein Großvater ritt auf einem Kamel, mein Vater tat dasselbe, ich fahre einen Mercedes, mein Sohn fährt einen Land Raver, mein Enkel wird auch einen Land Rover fahren, aber mein Urenkel wird wahrscheinlich wieder auf einem Kamel reiten…“ „Warum sagen Sie das?” „Es gibt ein paar Prinzipien, die seit jeher alles im Leben bestimmen. Um genau zu sein: Harte Zeiten formen starke Menschen, starke Männer schaffen gute Zeiten, gute Zeiten gebären schwache Männer, und schwache Männer schaffen harte Zeiten. Viele werden es nicht verstehen, aber der Wohlstand in unserem Land produziert Parasiten, keine Überlebenskämpfer.“ Gilt nicht nur bei Scheichs.

M. Buchholz / 14.07.2023

Ich finde auch richtig dass in der Fußballbundesliga jeder gegen jeden spielt. Geschossene Tore müssen aber am Ende des Spiels auf Null gesetzt werden. Am Ende der Saison sind alle deutscher Fußballmeister. Und Schalke könnte nie wieder absteigen. Echt spannend. Und in Industrie und Wirtschaft muss es genauso sein. Sollen doch die anderen mein Geld verdienen.

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