Thilo Schneider / 07.03.2020 / 15:00 / Foto: Shlomo Cohen / 21 / Seite ausdrucken

Erdogan in Brüssel und die Angst vor der türkischen Diaspora

Stellen Sie sich vor, es gäbe im Nahen oder Mittleren Osten einen Staat, in dem Meinungsfreiheit herrscht, Frauen gleichberechtigt sind und sogar Religionsfreiheit gilt. Stellen Sie sich ferner vor, dieser Staat wäre nicht Israel. Würden Sie sagen, „der Westen“, also wahlweise Deutschland, die EU oder die NATO sollten diesen Staat unterstützen? Speziell gegen islamistische oder russische Intervention? 

Diesen Staat gibt es zwar nicht – aber es könnte ihn geben. Wenn es „der Westen“ wollte. Die autonomen Kurdengebiete um Rojava herum sind nämlich genau so, wie oben geschildert, aufgestellt. Und sie haben die Amerikaner im Kampf gegen den IS unterstützt. Tatsächlich handelt es sich bei den Kurden in den Autonomiegebieten um die treuesten Verbündeten des Westens mit einer modernen westlichen Gesellschaftsstruktur. Ausgerechnet dieser wichtige und wertvolle Verbündete, der durchaus das Potenzial zu einem westlich geprägten Musterstaat in der Region hätte, liegt nun unter dem Feuer türkischer Streitkräfte, weil Erdogan nichts mehr fürchtet als einen Kurdenstaat an seiner Grenze.

Objektiv gesehen müsste ein derart selbstherrlicher Diktator wie Erdogan jeden Kredit bei seinen westlichen Vertragspartnern verspielt haben: Er paktiert mit dem terroristischen IS, greift ungebeten und ungefragt in die Souveränität seiner Nachbarstaaten ein, schert sich einen feuchte Kehricht um geschlossene Verträge und versucht, die NATO in seinen Angriffskrieg hineinzuziehen, seit sich herausgestellt hat, dass auch seine Gegner Flugzeuge und funktionierende Waffen haben. Tatsächlich wäre es sowohl Sache der EU als auch der Amerikaner, dem prächtigen Despoten in Ankara ein herzliches „Auf Wiedersehen“ zu sagen, als zwischen wachsweichen Verurteilungen, halb erhobenen Zeigefingern und lauwarmen Warnungen an Russen und Syrer zu mäandern, während Erdogan selbst versucht, vollendete Tatsachen zu schaffen. Was ihm bis jetzt nicht gelungen ist.

Es fehlen dem Westen sowohl der Wille als auch die einheitliche Stimme, mit der er Russen, Syrer und Türken an den Verhandlungstisch rufen könnte, um den Kurden endlich den eigenen Staat zu schaffen, den sie sich durch ihre Loyalität und ihre Blutopfer mehr als verdient haben. Hinzu kommt, dass die kurdische Verwaltung in Rojava angeboten hat, zuerst 300.000 kurdische und dann bis zu einer Million anderer Flüchtlinge aufzunehmen, was Erdogan ein Druckmittel nehmen würde, das er immer unverschämter gegen die EU einzusetzen versucht. Woran aber liegt diese Feigheit? Dieses Lavieren?

Letztlich eine Frage des Geldes 

Zum einen erfüllt die Türkei neben ihrer Funktion als schlecht gelaunter Kerkermeister von Flüchtlingen die militärische Wächterfunktion über den Bosporus. Hier müsste sich insbesondere die NATO die Frage stellen, ob diese Funktion nach Ende des Kalten Krieges überhaupt noch notwendig und sinnvoll ist. Russland hat längst seine Militärbasen an der syrischen Küste, und es ist kaum vorstellbar, ob und wie die Türkei mit ihrem moralisch flexiblen Führer in einem Ernstfall technisch oder auch nur politisch in der Lage wäre, russischen Schiffen die Durchfahrt des Bosporus zu verweigern. Griechenland und Bulgarien könnten mit etwas Hilfe und gutem Willen durchaus ebenfalls diese Rolle erfüllen. Wo eine potenzielle russische Gefährdung letztlich abgefangen würde, spielt eine eher untergeordnete Rolle. Auch die Funktion der Türkei als amerikanischer Flugzeugträger zum Schutz Israels könnte grundsätzlich beispielsweise durch den Libanon übernommen werden. Das Ganze ist letztlich eine Frage des Geldes. 

Daneben fehlen den Europäern die militärischen und politischen Mittel, einen kurdischen Staat aktiv militärisch zu sichern oder zu unterstützen, seit sich die Amerikaner aus der Region zurückgezogen haben. Wie sollten europäisches Material oder gar Truppen Rojava erreichen? Die einzige Möglichkeit, die die Europäer haben, läge in der politischen und wirtschaftlichen Isolierung Erdogans und dem ganz klaren Aufstellen von politischen Stoppschildern.

Hier könnte tatsächlich Deutschland als Hauptimporteur türkischer Güter und zweitgrößter Warenlieferant der Türkei eine führende Rolle spielen und ein Machtwort sprechen, das auch in Ankara verstanden würde. Knapp die Hälfte des türkischen Außenhandels spielt sich mit der EU ab. EU-Sanktionen würden also die türkische Wirtschaft ziemlich schnell krachend zum Einsturz bringen. Die Möglichkeit wäre also da, und es könnte zumindest nicht schaden, Erdogan einmal die „Folterwerkzeuge zu zeigen“. 

Wenn nun also politische und wirtschaftliche Druckmittel vorhanden sind – warum tut man sich im Westen, in Europa so schwer, Erdogan zu disziplinieren und den Kurden ihren eigenen Staat zu ermöglichen?

Innertürkische Konflikte auf deutschem Boden

Der eigentliche Grund für das halbgare Armwedeln der westlichen Staaten dürfte in der  türkischen Diaspora in Europa liegen: In Österreich leben 159.000 Türken, in Frankreich sind es rund 200.000 Menschen, in den Niederlanden zählt die türkische Gemeinde 397.000 Personen und in Deutschland leben rund 1,5 Millionen Türken. Gelänge es Erdogan, im Rahmen eines entsprechenden Konflikts auch nur ein Prozent dieses enormen Potenzials zu radikalisieren, so hätte Europa plötzlich einen harten Kern von über 20.000 Kämpfern mitten im Lande. Dabei sind Solidarisierungseffekte anderer islamischer Minderheiten oder eingebürgerter Türkischstämmiger noch nicht berücksichtigt. 

Im Klartext: Die Schaffung und Anerkennung eines kurdischen Staates durch den Westen birgt die Gefahr bürgerkriegsähnlicher Zustände und terroristischer Angriffe auf europäischem Territorium. Dies gilt im Besonderen für Deutschland mit seinem hohen türkischen und kurdischen Bevölkerungsanteil, dessen Loyalität – das haben die letzten Türkeiwahlen gezeigt – nicht unbedingt und zwingend der Bundesrepublik und ihrem politischen System gilt. Hier besteht die Gefahr, dass primär innertürkische Konflikte auf deutschem Boden ausgetragen würden, wie dies in kleinem Rahmen in der Vergangenheit schon passiert ist. 

Verkürzt könnte man sagen: Ein souveräner kurdischer Staat, der mehr als überfällig wäre, wird dem inneren Frieden Europas und speziell Deutschlands geopfert. Pech für die Kurden, gut für die Türkei, blamabel für den Westen. Die Kurden werden diesen Verrat nicht vergessen. 

(Zuerst veröffentlicht wurde dieser Beitrag auf www.politticker.de)  

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Sabine Lotus / 07.03.2020

Mensch Schneider, kaum der FDP ent-schämt, schon schreibt er kräftig gute Texte. An Stelle der Kurden würde ich mich ja mal langsam fragen, warum die eigentlich zahlenmäßig selteneren Kurden im Verhältnis zur Türken so überproportional bei den “Naziverbrechen” der letzten Jahre vertreten waren. Diese Stille. Seltsam.

Giovanni Brunner / 07.03.2020

Herr Schneider erlauben Sie mir einige Dinge zurechtzurücken. Bezüglich Syrien - natürlich ist Präsident Assad nach unserem Verständnis ein Diktator. Trotzdem muß festgestellt werden, dass in Syrien religiöse Minderheiten wie z.b. Aramäer weitgehend gleichberechtigt sind und toleriert werden. Ebenso sind Frauen weitgehend im Berufsleben integriert und im Vergleich zu anderen arabischen Staaten gleichberechtigt. Auch einer kurdischen Autonomie in den zu Türkei grenzenden Regionen Syriens steht Assad keineswegs ablehnend gegenüber. Ihr Gschichtl von den bösen Russen ist wohl für schlichte Gemüter gedacht. Präsident Putin und Premier Netanyahu stehen u.A. wegen Syrien in permanenten Austausch. Vergeltungsluftangriffe seitens der Israelis gegen die iranische Hisbollah werden seitens Israel ebenfalls mit Russland koordiniert. Russland und Syrien bekämpfen die so genannten Rebellen, bei denen es sich nahezu ausschließlich um radikalislamische Gruppierungen handelt,  die seit Jahren von der Erdogan Türkei aktiv und passiv unterstützt werden. So weit zur Lage in geraffter Form. Das Thema Iran und Hisbollah in Syrien würde jetzt den Rahmen sprengen. Aber, Herr Schneider, um zum eigentlichen Thema zurückzukommen, die Ursache für die windelweiche Erdoganpolitik liegt nur zum Teil an der Angst vor der “dritten Kolonne” des Despoten vom Bosporus. Die Ursache liegt grundlegend an der EU an sich. Man muss innerhalb der EU mühselige Politgespräche führen um dann einen windelweichen Konsens zu finden. Es würden sich genügend Einzelstaaten in der EU finden, die 1. jegliche Zugeständnisse oder Zahlungen an die Türkei prinzipiell ablehnen, sich 2. nicht von möglichen Ausschreitungen der dritten Kolonne einschüchtern lassen und 3. die trottelhafte Merkelpolitik der EU (Erpressung - Zahlungen an die Türkei) schon damals abgelehnt haben

Gerhard Dickert / 07.03.2020

ich bin seit längerem der Meinung, dass die Kurden einen eigenen Staat bekommen sollten. Dieser Staat sollte sich über Teile des Irak, des Iran, Syriens und der Türkei erstrecken. Warum macht sich nicht die UN und auch kein anderer Politiker für dieses Ziel stark.? Auch die Kurden selbst müssten sich für dieses Ziel leidenschaftlicher engagiereN. Ein solcher Staat wäre westlich orientiert.

Fritz kolb / 07.03.2020

Ich glaube nicht, daß ein Aufwiegeln der in Deutschland lebenden Türken durch den Möchtegern-Sultan, den Frieden in unserem Land ins Wanken bringen würde. Zumal zwischen Wählen und Kämpfen, zwischen Gratismut und Kampfesmut, ein sehr großer Unterschied liegt. Mit einer funktionierenden Bundeswehr und couragierter Polizei wäre das überhaupt kein Thema. Nur müssten sich die regierenden Politiker ihrem Amtseid entsprechend dem Schutz Deutschlands und seiner Bürger verpflichtet fühlen. Der Spuk wäre schnell vorbei und spürbare Sanktionen gegenüber der Türkei würden dort den Diktator sehr schnell zu Fall bringen. Das fällt aber unseligerweise in die Amtszeit eines schon leicht debilen Innenministers und einer zittrigen, nägelkauenden und verbrauchten Kanzlerin. Das weiß der Mann natürlich, und genau der Popanz, zu dem auch Sie, Herr Schneider in Ihrem Artikel den Herrn Erdogan aufbauen, führt zu dem von ihm und seinen Schergen gewünschten Bild. Damit schüchtert er die feminisierten Politdarsteller in Berlin und Brüssel immer wieder ein. Seine schon des öfteren abfällig als weibisch und jämmerlich kommentierten Verhaltensweisen der EU und und vor allem Deutschlands bestätigen das.  Es gibt seiner Annahme,  daß Druck und Härte für ihn und seine Adlaten wie Diyanet, ESI und Konsorten Erfolg bringen, leider recht.

Christian Feider / 07.03.2020

huch,ist da ein FDPler erwacht???? nuja,das ist ja nun eine gaaaanz neue Erkenntniss. Etwa so neu wie die Kurden-Riots in den 80-90ern auf deutschen Autobahnen sowie einmal mitten in Mannheim. Wissen Sie,weshalb es Pegida gibt? diese “Bewegung” gründete sich aufgrund von Strassenschlachten 13/14 zwischen Salafisten/Wahabiten und Kurden/Jesiden,die trugen damals schon Ihre Konflikte auf deutschem Boden aus. DAS ALLES war eigentlich schon in den achzigern klar,als trotz Wattebäuschen klar wurde,das weder die türkische noch die kurdische Integration hier in D funktionierte. Aber hey,wer das ab den achzigern ansprach,war ein Nazi und Auslaenderfeind,gern auch von FDPlern so genannt. Dabei ging und geht es eben nur um das Aufrecht erhalten staatlicher Souveränität,naemlich der deutschen auf deutschem Boden! Das es weit verzweigte kurdische Mafiaclans gibt,scheint auch noch nicht bis zu Ihnen durchgedrungen zu sein, berühmt hier die Mallamiya-Kurden in jeder Grosstadt. Drogen,Waffen,Zuhälterei,alles dabei…und seit Jahrzehnten bekannt. D wie jedes Europaeische Land MUSS es so halten: eine Straftat, Aussetzung der Aufenthaltsverlängerungsautomatik. zwei Straftaten, Verfall aller bisherigen Aufenthaltstitel drei Straftaten,sofort raus und ab nach Hause, DAS würde wirklich wirken…und die Diaspora würde hier nicht Amok laufen,wenn der “Lideri” das mal befehlen sollte,türkische oder kurdische

Thomas Weidner / 07.03.2020

Diese klaren Gedanken und Worte waren mehr als überfällig. Danke für den Mut, sie auszusprechen und zu veröffentlichen.

Manni Meier / 07.03.2020

You took the words right out of my mouth! Danke für die Analyse, Herr Schneider, so ganz allein stehe ich dann ja doch nicht da. Und für die Zukunft kann man nur Daumen drücken und das Beste hoffen - für die Kurden und für uns.

Thomas Holzer, Österreich / 07.03.2020

Im Klartext: In der heutigen “Die Presse” eine interessante Kolumne des Herrn Urschitz, welcher sich frägt, warum die EU nicht ihr wirtschaftliches Potenzial in die Waagschale wirft, sondern sich schlicht und einfach erpressen lässt

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