Ich hatte früher, so in den Dreißigern, mal die Idee, ab 67 am Fenster zu hängen, Falschparker aufzuschreiben und jeden anzupöbeln, der sein Radl in den Hausflur stellt. Wenn und sofern ich nicht gerade mit Batschkappe und Fahrrad lecker Baguette vom Wochenmarkt hole und meine hinter mir fahrenden, jüngeren Zeitgenossen durch demonstratives „die volle Breite der Fahrbahn nutzen“ in den Wahnsinn treibe. Mit der Zeit wurde ich aber ruhiger, außerdem habe ich die komplette Assassins-Creed-Reihe durchgezockt und würde gerne irgendwas in der napoleonischen Zeit spielen. Wenn sie das irgendwann herausbringen.
Und dann kommt dieser Tag. Der eine oder andere kennt das vielleicht: Der Tag fängt schon blöde an. Morgens hatte ich mir den linken kleinen Zeh am Bett angehauen, danach mich beim Rasieren geschnitten, dann war das Klopapier alle und statt dass ich Depp wieder ins Bett gehe und beschließe, dass die Welt heute leider ohne mich sehen muss, wie sie zurechtkommt, gehe ich ins Büro. Um festzustellen, dass das Internet heute nicht funktioniert. Und als es doch funktioniert, bekomme ich zwei unfreiwillige Windows-Updates. Danke für nichts.
So gut gelaunt wie ein Eisbär auf einer Eisscholle im Mittelmeer geht’s um die Mittagszeit „´raus uff die Gass“, in meinem Falle die Aschaffenburger Fußgängerzone. Ich muss zugeben – es gab für die auf Krawall und Misanthropie gebürsteten Mitmenschen nie bessere Tage als diese, um glücklich zu sein. Heute ist meiner.
Ich habe einen guten Lauf
Schon kurz vor der Einmündung der ersten Seitengasse kommt mir ein Fahrzeug entgegen. Ich lüfte kurz meine sehr vorschriftsmäßig angelegte und in Pingpong von liebevollen Kinderhänden gefertigte FFP2-Maske und brülle den Fahrer an: „DAS IST EINE FUSSGÄNGERZONE!“ Das stimmt zwar nicht so ganz, aber der Fahrer hat ein Offenbacher Kennzeichen und dürfte das nicht wissen. Er zeigt mir den Mittelfinger. Sehr gut!
Ein paar Meter weiter, Höhe Konzertsaal „Rock me“, kommt mir ein sehr offensichtlicher Neubürger ohne den derzeit trendigen Mund-Nasen-Augen-Ohren-Schutz entgegen. Eigentlich wäre der jetzt mein nächstes Opfer, aber weil er jünger und agiler als ich ist und sicher auch weniger zu verlieren hat, lasse ich ihm das durchgehen. Dieses Mal. Außerdem ist da ja eh die Sprachbarriere. Also sinnlos.
Dafür sehe ich jetzt eine ältere Frau, die einen Rollator vor sich herschiebt und sich offensichtlich auf dem Weg in ihr Parkhaus neben dem Stadtpark befindet. Sie hat nur den Mund, nicht jedoch die Nase bedeckt. „MASKE RICHTIG AUFZIEHEN!“, pflaume ich sie an. Sie schaut irritiert. Vielleicht ist sie ja taub? „SO! GUCKEN SIE HIN!“, belehre ich die alte Dame und zeige ihr an meinem Beispiel, wie das geht. Sie nickt freundlich und legt die Maske richtig an. Na also. Geht doch!
Ich habe einen guten Lauf. Wenigstens schon zwei Sünder zurechtgewiesen, und das auf nur knapp 100 Metern! Ich tu das ja auch nicht für mich, sondern für unser aller Gesundheit. Einer muss den verdammten Job ja machen, und wenn nicht ich, wer dann? Wofür gibt es denn engagierte Bürger, denen das soziale Wohlergehen aller am Herzen liegt, wenn nicht dafür? Ich merke, ich fühle mich langsam besser. Endlich auch einmal Blockwart sein. Endlich ungestraft auf andere losgehen dürfen. Und das auch noch mit einer wirklich guten und fadenscheinigen Begründung. „Arschloch und auf der richtigen Seite“ – kann es da jemandem schlecht gehen? Also!
Und dann ist die Omma tot!
Mein nächstes Ziel ist der Brezelstand an der ehemaligen Kaufhalle. Zugegeben, das ist billig, da stehen sie ja immer falsch. Aber es nutzt ja nichts. Ich bin heute die selbsternannte Gesundheitspolizei Aschaffenburgs. Zwei junge Görls, ich schätze sie so auf 15/16, stehen kichernd und brezellutschend vor der Drogerie. „Hier ist essen verboten – Maskenpflicht! Wenn Ihr essen wollt: Da ist der Stadtpark!“, erkläre ich die Mikrolage. Die etwas Größere der beiden schaut mich etwas verwundert an. „Was geht Sie das an?“, will sie, etwas renitent, wissen. Aaaber nicht mit mir! „Meine Mutter ist in den 80ern. Wenn Ihr hier ohne Maske futtert, wird sie sterben!“, erläutere ich meine Wahrnehmung der Aufsichtspflicht über meine Mitmenschen. „Mir doch egal“, sagt die Größere trotzig.
Okay, ich merke schon, da ist in der Erziehung etwas falsch gelaufen. Wir korrigieren das! „Haben Euch Eure Eltern so egoistisch, so menschenverachtend und niederträchtig erzogen, dass Euch das Leben anderer scheißegal ist, ja? Ihr geht jetzt SOFORT ins Schöntal oder ich rufe die Polizei! Das gibt EIN FETTES Ordnungsgeld, Ihr beiden Grazien!“, trage ich vor und zücke drohend mein Mobiltelefon. Die Größere quetscht ein „mach doch“ heraus, aber die Kleinere schnappt sie vernünftigerweise wortlos am Arm und sie verziehen sich Richtung Einkaufszentrum am Stadtpark. Gut so! Wieder ein Menschenleben gerettet. Regeln sind nun einmal Regeln und gelten für alle! Auch für junge Damen! So isses eben.
Eigentlich ist meine Mittagspause vorbei und es wäre Zeit, mich wieder an meine Arbeit zu machen. Aber wenn ich mich so umsehe, dann gibt es hier noch jede Menge gesellschaftlich wichtige Tätigkeit. Vom Ordnungsamt ist ja keiner zu sehen. Wo sind die, wenn man sie braucht? Hier gibt es jede Menge Verstöße gegen die Maskenpflicht. Geht gar nicht. Da muss man sich nicht wundern, wenn die Inzidenzzahlen nicht runtergehen. Wir müssen da alle auf uns achten. Vielmehr: Ich persönlich muss das tun! Das nehmen viel zu viele Leute viel zu locker und dann ist die Omma tot!
Aufsicht und Dienst am/n Bürger*In machen hungrig. Ich hole mir am Brezelstand eine leckere Salami-Brezel mit extra-fett Knoblauch, stelle mich, ganz vorschriftsmäßig, VOR das Maskenpflichtschild vor dem Stadt-Juwelier und drücke mir das Gebäck rein. Dann schlage ich den Rückweg ein, nicht ohne sofort wieder meine FFP2-Schutz- und Trutzmaske, die uns alle so herrlich anonym zaubert, anzulegen.
Karma is a bitch. Durch die Brezel und den Knoblauch und die paar Zwiebelstückchen hat die Maske ein Innenklima wie eine Schulturnhalle nach einem Basketballspiel. Ich atme schwere Dämpfe von Kohlendioxid, Gerüchen aus fernen Ländern, Fett und Methan aus. Als würde ich mich durch eine Leichenhalle nach einem Schwelbrand schnuppern. Ekelhaft! Ich reiße mir, grün vor Gestank, die Maske vom Gesicht. „MASKE AUF!“, brüllt mich instant ein Passant in den 50ern an und ich gehorche sofort. Ich weiß, er ist heute mit dem linken kleinen Zeh ans Bett geknallt. Und er tut das ja nur für uns alle! Damit wir gesund bleiben. Wenn wir nicht gerade Brezel mit Salami und Knoblauch und Zwiebeln gegessen haben.
(Weitere Bürgerpflichtbeschreibungen des Autors unter www.politticker.de)
Von Thilo Schneider ist soeben in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.