Ich persönlich habe es ja ganz gut. In meinem Hauptberuf (also dem, den ich ausübe, wenn ich nicht gerade Kaspereien zusammenschreibe) ist es mir durchaus möglich, durch die Errungenschaften des Internet trotz der derzeitigen Lage auf 80 Prozent Auslastung zu arbeiten, und mein Büro ist von meinem Wohnsitz schneller zu Fuß als mit dem Fahrrad zu erreichen. Ich komme also trotz Quarantäne und Ausgangsbeschränkung wenigstens zweimal täglich raus, durch die Fußgängerzone des Schtetls. Einmal ins Büro und wieder zurück. Strategisch raffiniert und taktisch angenehm. Ich kann, wenn ich will, immer noch einmal „kurz ins Büro“.
Nun wollten es Gott und das Gewerbeaufsichtsamt, dass sich auf jenem kurzen Wege eine Eisdiele befindet, die in diesen schweren Zeiten voll bitterer Not und Klopapiermangel immerhin noch ein „Eis auf die Faust“ über den Tresen in die gummibehandschuhten Hände reicht, was in etwa so sinnvoll ist, wie öffentliche Toilettenbrillen mit Handschuhen abzuwischen und sich dann die Lippen einzucremen. Ich zog also meine Handkondome aus, nahm meine beiden Kugeln Amaretto und Mango in Empfang, zahlte und nahm auf einem nicht unweit der Eisdiele befindlichen Mäuerchen Platz, das einen einsamen Baum nebst Kinderwippe und Rollstuhlfahrerrampe vom Rest der Fußgängerzone trennt. Ein kleines Mädchen in einem rosa Gummimantel und mit einem weißen Sturzhelm schaukelte lachend auf der Stahlwippe hin und her, während schätzungsweise ihr Vater, mit einem Fuß auf dem Sattel lässig das rosa Kinderfahrrad balancierend, an jenem Baum lehnte und auf sein Handy starrte. Ich war gerade zweimal mit der Zunge über Amaretto gefahren, als mich ein älterer Herr ansprach, der in einer blauen Jacke, auf der rechts das Stadtwappen prangte, einen wunderbaren Seehundschnauzbart spazieren trug.
„Was machen Sie da?“, wollte der Navy-Seal des Ordnungsamts das Offensichtliche wissen. „Ich genieße ein Feinkostprodukt der italienischen Küche in den ersten zarten und kitzeligen Sonnenstrahlen des fröhlichen Frühlings des Jahres Zweitausendzwanzig“, erklärte ich dem Herrn sehr langsam und betont. „Amaretto und Mango“, führte ich weiter aus und streckte ihm meine Eiswaffel einladend entgegen, damit er sich von der Richtigkeit meiner Geschmacksangabe eigenäugig oder -leckend überzeugen konnte. „Sie wissen schon, dass das verboten ist?“, stellte er mir die zweite Frage unserer kurzen Bekanntschaft. „Nein“, antwortete ich, „ich habe mich hier auf das „Eis-Vatikanstadt“ verlassen. Hätte ich das gewusst, dann hätte ich Schokolade-Karamell genommen. Oder sind die auch verboten?“ Der Scherge der Stadt schnaufte.
„Der verarscht uns“
„Ich meine nicht Ihr Eis“, erklärte er, „Sie dürfen hier nicht sitzen.“ „Warum darf ich hier nicht sitzen?“, wollte ich wissen. „Wegen der Krankheit“, führte er weiter aus und zückte ein graues Lesegerät in Form und Umfang einer Nahkampfkeule. „Sind Sie mit einer Verwarnung von Zwanzig Euro einverstanden?“, fragte er nach. „Wegen Falschsitzens? Selbstverständlich nicht!“, gab ich korrekt zurück und beschloss, ihn ein wenig zu necken: „Um welche Krankheit geht es denn? Dass ich mir die Nieren verkühle, mir einen Abszess oder Hämorrhoiden hole, oder geht es um was anderes?“ Der Blaujackenmann sah mich abschätzig an. Ich vermutete, er überlegte, ob er mich niederstrecken soll oder ich irgendwelche unliebsamen Überraschungen wie einen Schraubenzieher, eine Machete oder eine UZI einstecken hatte. Sein Befund fiel offenbar positiv zu seinen Gunsten aus. „Lesen Sie keine Zeitung oder nehmen Sie mich auf den Arm?“, fragte er, nun etwas grober, nach. „Ich lese tatsächlich keine Zeitung und ich nehme Sie nicht auf den Arm …“, log ich frei heraus.
Ein zweiter Herr in einer blauen Stadtwappenjacke mit etwas schütterem Haupthaar, aber rasiert, näherte sich. „Gibt’s ein Problem?“, fragte er den Seehundschnäuzer. „Der sitzt da und will nicht aufstehen“, resümierte dieser. „Weil da kein Schild steht, dass das verboten ist“, fügte ich hinzu. „Da muss kein Schild stehen“, erläuterte der schüttere Haupthaarträger, „das ergibt sich aus dem Vollzug des IfSG des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 20.03.2020. Da steht das!“ „Moment“, sprach ich und hob den Finger der linken Hand, „da steht wortwörtlich: ‚Das Sitzen in der Öffentlichkeit auf einer nicht offiziell gekennzeichneten Sitzfläche unter Verwendung einer Amaretto-Mango-Eiswaffel ist eine Ordnungswidrigkeit und wird mit einem Ordnungsgeld von zwanzig Euro geahndet'? Sicher? Soll ich nachgoogeln?“
„Der verarscht uns“, sagte der Seehundbart. „Tut er nicht“, sagte ich Eisesser. „Klugscheißer können wir zur Zeit gerade gut genug gebrauchen“, lobte mich der Schütthaarträger. „Sie stehen jetzt sofort auf, sonst …“, drohte mir der Seehundschnauzbart. „Sonst was?“, wollte ich wissen. „Sonst nehmen wir Ihre Personalien auf und melden Sie der Polizei!“, ergänzte das schüttere Haupthaar. „Wegen Sitzens in der Öffentlichkeit?“, fragte ich nach. „Nein, wegen des Verstoßes gegen den Vollzug des IfSG des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 20.03.2020. Sie erhöhen die Seuchengefahr!“, half er mir unter beifälligem Nicken des Seehundbarts. „Wir tun ja auch nur unsere Pflicht“, brummte der.
Aufrechter Kampf um einen Sitzplatz in der Öffentlichkeit
„Okay, ich weiche der Gewalt“, sagte ich, erhob mich und schob mir den Rest Eiswaffel in den Mund, „aber nachdem Sie beide mir doch sehr nahe stehen, zeige ich Sie beide und mich wegen Verstoßes gegen den Vollzug des IfSG des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 20.03.2020 an, insbesondere hier gegen §28 IfSG betreffend der 'Ansammlung einer größeren Anzahl von Menschen' sowie Punkt 46, Artikel 2, Absatz 1 der Zuständigkeitsverordnung (kurz ZustV) vom 16. Juni 2015, zuletzt geändert durch Artikel 9a, Absatz 3 des Gesetzes vom 25. März 2020 (GVBI.S. 174)! Das kann bis zu schmalen 25.000 Euros für jeden von uns kosten. Na, wie siehts aus? Sie sind wieder dran!“
Der Seehundbart blickte mich verwundert und ein wenig seehündisch-mitleidig an. Der Herr mit der Wohntrailerfrisur grinste mich an: „Machen Sie das. Auch, wenn es hier nicht um die 'Befreiung öffentlicher Urkunden von der Legalisation vom 25. Juni 1980 zwischen der Bundesrepublik und dem Königreich Belgien' geht. Alternativ gehen Sie jetzt heim und wir verzichten wegen Ihres aufrechten Kampfes um einen Sitzplatz in der Öffentlichkeit unter Benutzung einer landesuntypischen Kaltspeise auf ein Ordnungsgeld!“
Das, fand ich, war ein annehmbarer Vorschlag. Außerdem war ich ja mit dem Eis fertig. Ich wünschte den beiden Schergen des Sheriffs noch einen schönen und gesunden Tag und trollte mich wieder in meine selbst auferlegte Quarantäne, während sich die beiden Ordnungskräfte dem handyvertieften Vater und dessen mit lustigen roten Punkten im Gesicht gespickten Töchterchen näherten. Immerhin aß sie aber kein Eis.
(Weitere Krankheiten des Autors auch unter www.politticker.de)