Vera Lengsfeld / 30.08.2020 / 06:27 / 24 / Seite ausdrucken

Eine Lanze für Artur Lanz

Eigentlich kenne ich das nur aus der DDR, dass vor einem Buch so intensiv gewarnt wird. Die allermeisten Rezensionen, die erschienen, sind Verrisse. Das hat den alten Reflex bei mir ausgelöst, das Buch unbedingt lesen zu wollen. Ich habe keinen Cent der 24 Euro teuren Ausgabe bereut, denn ich habe interessante, vergnügliche, lehrreiche Stunden mit der Lektüre verbracht.

Dieser Roman ist alles andere als verunglückt, wie der Berliner „Tagesspiegel“ meint. Seine Personen sind das Gegenteil von blass. Monika Maron ist auf der Höhe ihrer Kunst.

Charlotte Winter, die Heldin dieser Geschichte ist so deutlich gezeichnet, dass man sie förmlich vor sich sieht, wie sie über den verlotterten Platz an einer viel befahrenen Hauptstraße geht und den für diese Gegend zu gut angezogenen Mann auf der Bank sitzen sieht. Wie Maron die erste Begegnung zeichnet oder später das zweite Zusammentreffen in einem Café ist einfach meisterhaft. Was kann Literatur mehr bewirken, als lebendige Bilder vor den Augen der Leser entstehen lassen?

Es kann nicht nur daran liegen, dass ich dem Alter der Charlotte ziemlich nahe bin, dass es ihr gelingt, mich ganz in ihre Welt zu ziehen. Nein, sie ist eine Person, die in ihrer Neugier auf das Leben keine Zeit hat, sich über ihr Alter zu grämen, sie scheint es nicht einmal zu bemerken. Ihre Neugier ist ansteckend. Ich hatte sofort das Bedürfnis, zu den Büchern zu greifen, die Charlotte liest. Oder Rinderbouillon zu kochen, die Charlotte auf ihrem Herd vergessen hat. Sie ist eine, die sich nicht mit Suppenwürfelextrakt begnügt, sondern die weiß, dass im echten Genuss Arbeit steckt.

Auch die Nebenfiguren sind höchst lebendig, ob es sich um den emeritierten Professor Adam handelt, der sein Alter mit einer 25 Jahre jüngeren ayurvedasüchtigen Frau bekämpft, die ihm im Grunde fremd ist, die notorische Kultursenatorin Penelope, die stellvertretend für den stromlinienförmigen, phrasendreschenden Politikertypus steht, der mittlerweile beherrschend ist, die denunziatorische Kollegin von Lanz, die nicht ruht, bis es ein Tribunal gegen einen Andersdenkenden gibt, oder den duckmäuserischen Institutsleiter, der kein Tribunal will, aber zu feige ist, es zu untersagen und sich stattdessen aus dem Raum stiehlt.

Gute Schriftsteller sind Seismographen

Nein, es ist nicht die literarische Qualität, sondern der Inhalt, der die Rezensenten zum Schäumen bringt. Gute Schriftsteller sind Seismographen der gesellschaftlichen Zustände und ihrer Veränderungen. Die anderen sind Seismographen des Zeitgeistes. Gute Schriftsteller mischen sich ein. Mit ihrer Unabhängigkeit, Einfühlsamkeit und ihrer Intuition gelingt es ihnen zu beschreiben, was mancher vielleicht spürt, aber nicht formulieren kann. Beim Lesen kommt es dann, dass es einem wie Schuppen von den Augen fällt.

Maron, die sich selbst in Interviews als „freiheitssüchtig“ bezeichnet, hat einen unverstellten Blick auf alle Entwicklungen, die Freiheit in der einen oder anderen Weise einschränken. Drei ihrer Figuren kommen aus der DDR, neben Charlotte sind das ihre alte Freundin Lady und im letzten Drittel Gerald, der mit dem Fahrrad die Skipiste herunterfuhr, weil das verboten war und dabei Knochenbrüche riskierte. Sie haben für Genderismus oder Klimawahn wenig übrig.

Das ist es, was die Rezensenten aufregt. Die vierte Figur, Artur Lanz, nach dem der Roman benannt ist, stammt aus der süddeutschen Provinz und hat sein Leben bis zum 50. Jahr als angepasstes "role model" für das postheroische Zeitalter verbracht. Dabei hatte ihm seine Mutter den Namen Artur verpasst, weil sie mit der Verbindung von Artur und Lanz die Geschichte vom Heiligen Gral beschwören wollte. Mit 50 Jahren stellt sich Lanz die Frage, warum er so wenig Heldisches an sich hat, obwohl es offenbar gut tut, wie er feststellte, als er seinen Hund aus einer lebensgefährlichen Situation rettete.

Über Heldentum nachzudenken, ist im posttheroischen Zeitalter offenbar ein Sakrileg, obwohl wir alle uns noch daran erinnern können sollten, wie sehr wir Helden in unserer Kindheit mochten und brauchten. Kinder wissen instinktiv, dass man Mut zum Leben haben muss, Erwachsene sind allzu oft bereit, diesen Mut für vermeintliche Sicherheit aufzugeben. Es gibt, wie Maron feststellt, sogar ein Ersatzwort für Mut: Zivilcourage. Zivilcourage ist, wenn man, wie eine BVG-Werbung suggeriert, auf einen roten Knopf drückt, sobald einem etwas auf dem Bahnsteig spanisch vorkommt. Oder wenn man als hochbezahlte Fernsehmoderatorin eine flammende Rede gegen rechts hält. Mut ist, wenn man einem Schläger in die Arme fällt, der dabei ist, auf einen am Boden Liegenden einzutreten. Es kommt vor, dass Mut mit der Gesundheit oder gar dem Leben bezahlt wird.

„Macht doch euren Dreck alleine“

Artur Lanz möchte so gern Mut haben. Er meldet sich sogar für einen Kurs in israelischer Kampfsportart an, besorgt sich aber dann lieber Pfefferspray, um für den Mut-Fall gewappnet zu sein. Der kommt dann viel unspektakulärer, als Lanz es sich vorgestellt hat. Sein Kollege Gerald wird wegen eines Facebook-Posts erst von seinem Institutsleiter ermahnt, als er keine Einsicht zeigt und seinen Facebook-Eintrag wiederholt, diesmal sogar mit englischer Übersetzung, vor ein Kollegen-Tribunal gestellt.

Wer einmal ein SED-Parteiausschlussverfahren mitgemacht hat, fühlt sich an dieser Stelle an überwunden geglaubte Zeiten erinnert, wem diese Erfahrung erspart geblieben ist, der kann bei Maron nachlesen, dass sich die Choreografie solcher Veranstaltungen kaum geändert hat.

Maron hält der aktuellen Gesellschaft den Spiegel vors Gesicht und denen, die dafür gesorgt haben, wie dieses Antlitz beschaffen ist, gefällt die Deutlichkeit der Zeichnung nicht. Dabei verurteilen Marons Figuren gar nicht. Besonders Charlotte Winter ist sich bewusst, dass sie Teil dieses Prozesses war und ist, der ihr immer mehr missfällt.

Artur Lanz jedenfalls findet mitten im Tribunal den Mut, der versammelten Kollegenschaft vor Augen zu führen, was sie da veranstalten und empfindet Befreiung. Statt das Urteil der Versammlung abzuwarten, schmeißen der Angeklagte und sein Verteidiger die Brocken hin, gemäß dem Motto des sächsischen Königs: Macht doch euren Dreck alleine. Es gibt so etwas wie ein Happy-End. Lanz und sein Kollege Gerald gehen in die Schweiz und heuern im Kernforschungszentrum CERN an. Charlotte wird aufgefordert, sie zu besuchen, wenn sie will. Ob sie es tut, bleibt offen.

Alle Rezensenten, auch Thomas Schmid von der „Welt“, der keinen glatten Verriss geschrieben hat, bescheinigen Maron mehr oder weniger deutlich ein „eingetrübtes Gemüt“, weil der bundesdeutsche Staat wider Erwarten kein idealer Staat sei. Deshalb habe sie sich, wie Schmid noch einigermaßen elegant formuliert, „die phrygische Mütze des Widerstands überziehen“ lassen.

Dabei gehört Maron ganz sicher zu den Personen, die sich nie Illusionen gemacht haben, dass es so etwas wie einen idealen Staat gebe oder anzustreben sei. Sie weiß, wie viele Diktatur-Erfahrene, dass die Demokratie nur so gut ist wie die Demokraten, die bereit sind, sie jeden Tag zu verteidigen. Maron ist weder Jacobinerin noch gallisch, sondern erfrischend realistisch. Was ihren neuesten Roman betrifft, so ist der ganz sicher in jeder Hinsicht eine Krönung ihres Lebenswerkes.

 

Monika Maron: Arthur Lanz, Verlag S.Fischer, 224 Seiten, Roman

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Volker Kleinophorst / 30.08.2020

Toller Besprechung und man spürt, werte @ Frau Lengsfeld, Sie haben das Buch doch glatt gelesen. Postheroisch? Das sehe ich allerdings anders. Der Held kommt zurück und zwar im ganz großen Stil. Wir leben längst in präheroischen Zeiten.

A. Damberg / 30.08.2020

Ich habe das Buch in einem durch gelesen und kann Frau Lengsfeld nur bestätigen. Eine bessere Beschreibung des momentanen Zustand des Landes gibt es in Buchform nicht. Über Monika Marons schriftstellerische Qualitäten kann läßt sich sowieso nicht streiten und Rezensionen haben mich noch nie interessiert. Denn anders als Charlotte Winter im Roman habe ich dem ’ Blätterwald’ schon längst den Rücken gekehrt.

Sissi Herborn / 30.08.2020

2018: A. Henry, Das Ende der Klassik. Schon damals zeigte sich, dass es Autoren gibt, die den Durchblick haben und es in ihrem Buch zu Papier bringen. Literatur bringt uns dazu in den Spiegel zu sehen, ist niemals “nur” Unterhaltung. Deshalb: hinschauen, nachdenken und handeln. Vielen Dank Frau Lengsfeld.

Wilfried Cremer / 30.08.2020

Lieber frei und krank als unfrei und gesund. Die Glotzen dieser Welt sind momentan dabei, die Werte Freiheit und Gesundheit zu vertauschen. Weil ihre Macht vom Internet bedroht wird.

Rolf Lindner / 30.08.2020

Jeden Tag u.a. auch im Zusammenhang mit der gestrigen Demo in Berlin kristallisiert sich mehr heraus, wer in diesem Land die Hasser und Hetzer sind. Jedenfalls nicht die, welche von der Nomenklatura als solche bezeichnet werden. Leider haben nach meiner Erfahrung nur ca. 10 % das Renitenzgen geerbt. Aber allein diese 10 % können eine ganze Menge bewirken. Bleiben wir renitent!

Ronald Bergfeldt / 30.08.2020

Ach, die phrygische Mütze… Sehe ich sie vor Augen, so sehe ich das Bild des deutschen Michels, der den Zipfel der Schlafmütze des Biedermeiers einrollte und 1848 ein wenig Revolution spielte. Sie hatte so etwas heroisches, die Mütze, dessen ursprüngliche Machart der abgeschnittene und gegerbte Stierhodensack war, den man sich auf das Haupt stülpte um die Stierkraft auf sich zu übertragen. Revoluzzer trugen sie 1789, als aus Ludwig XVI.  Ludwig der Kopflose wurde, irrig in der Annahme, die Mütze sei einstmals die Mütze der Unterdrückten und Sklaven gewesen. Sichtbares Zeichen derer die glauben, eine Kopfbedeckung verändert etwas, nicht das Wollen, Denken und Handeln. Ähnlich den Parolen Skandierenden, die am Freitag hüpfen und durch Reduzierung ihres Bildungsangebotes die Sonnenstürme beeinflussen wollen um das Wetter, das Klima und sonstwas zu revolutionieren. Ohne phrygische Mütze, hinterherlaufend den “höheren Töchtern” deren romantisierenden Bilder das Bewustsein manipulierend prägen. So wie einst der Revoluzzer Engels, der sklavisch geerntete Baumwolle von Kindern in Manchester verspinnen ließ und von der Befreiung der Arbeiterklasse schwadronierte, derweil Marx an der Börse spekulierte, die eigenen Kinder darben ließ und von der Freiheit der Arbeiterklasse (im Kapital u. a. anhand des Schusters dargestellt, also passend für die Jetztzeit….) fabulierte. Weltbeglücker beim Fünf-Uhr-Tee, das Kaschmirkostümchen glatt streichend- ohne phrygische Bedeckung, aber gelegentlich mit einer grauen Pudelmütze bekleidet. Wetterunabhängig. Zeitpassend. Aus der Kraft des Stieres sollte die eigene Kraft werden. Aus der Pudelmütze? Nun, wie sagt es uns Goethe, als der, ihn begleitende Pudel sich als Mephisto entpuppt? “Das also war des Pudels Kern..” Oh, oh.—Doch zurück zum Anfang. 1848. Die Obrigkeit ließ  mit Kartätschkugeln auf das Volk schiessen. Michel rollte die phrygische Mütze wieder aus und zog sich Maske vor das Maul: Schweige und schlafe Michel, Gute Nacht.

Dirk Mätschke / 30.08.2020

Sehr geehrte Frau Lengsfeld, Ihr Beitrag heute morgen passte sehr gut. Gerade gestern Abend habe ich dieses Buch zu Ende gelesen. Begonnen habe ich es am Freitag zuvor. Gekauft habe ich es ebenfalls als Reaktion auf einen Verriss. Nein, die Macht liebt den intelligenten, subtilen und herausfordernden Umgang mit ihren Fehlern, Lügen und Missetaten nicht. Man kann das eben nicht als exzentrisch, dumm und primitiv der allgemeinen Lächerlichkeit preisgeben. Intelligente und ruhig vorgetragene Kritik schreit nach einer Antwort auf Augenhöhe. Können die Herrschenden das (noch), emotional und intellektuell?

Hartmut Laun / 30.08.2020

##Zivilcourage ist, wenn man, (...)  Oder wenn man als hochbezahlte Fernsehmoderatorin eine flammende Rede gegen rechts hält.## Verstehe ich nicht. Was soll daran mutig sein? Im Gegenteil, das ist die perfekte Anbiederung wozu es keinen Mut braucht, was ich als Feigheit bezeichne, als Untertanengeist. Oder habe ich das Zitat von oben gründlich missverstanden?

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