Totzeiten sind die zwischen Handlung und Wirkung. Besonders in der Politik sind sie ein großes Problem, weil zwischen beiden oft viele Jahre liegen. Die den Knopf gedrückt haben sind dann längst raus. So fällt es schwer, den Irrtum einzugestehen, und ein Umsteuern ist erst recht problematisch. Womit wir bei Deutschland wären.
„Als Totzeit wird in der Regelungstechnik die Zeitspanne zwischen der Signaländerung am Systemeingang und der Signalantwort am Systemausgang einer Regelstrecke bezeichnet. Jede Änderung des Eingangssignals ruft eine um die Totzeit verzögerte Änderung des Ausgangssignals hervor.“, so definiert Wikipedia den Zeitraum sozusagen zwischen – verkürzt gesagt – Ursache und Wirkung in einem System.
Totzeiten sind besonders in der Politik ein schwerwiegendes Problem, denn zwischen den Handlungen und ihren Wirkungen liegen oft viele Jahre. Dieses macht das Lernen so schwer: Der Politiker, der die Wirkung ausbaden muss, ist oft nicht der, der sie eingebrockt hat. Dennoch wird er dafür verantwortlich gemacht. Generell ist es dadurch erschwert, die Wirkung auf die Ursache zurückzuführen, weil manchmal schlicht zu viel Zeit dazwischenliegt. Hinzu kommt, dass in der Zwischenzeit im Vertrauen auf das Gelingen der vermeintlich funktionierenden Weichenstellung Investitionen getätigt wurden. Wenn dann die Wirkung nach der Totzeit deutlich wird, ist es angesichts möglicher Verluste nicht nur schwierig, sich den Irrtum einzugestehen, sondern ein Umsteuern ist dann auch tatsächlich sehr problematisch. Auch eine gewisse Trägheit oder das Gefühl falscher Sicherheit, ausgedrückt in dem Satz: „Et hätt noch emmer joot jejange.“, spielen eine Rolle. Ist es in Deutschland und für Deutschland wirklich immer gutgegangen?
Der Tag der Abrechnung kommt immer. Die Wirklichkeit lässt nicht dauerhaft mit sich spaßen. Dann ist es entscheidend, wie schnell ein Irrtum erkannt und entsprechend agiert wird. Nur derjenige, der sich schnell und konsequent auf eine neue Lage einstellt, überlebt. Nachhaltig ist nämlich nichts, auch Sonne und Erde werden vergehen. Hat das eigentlich schon einmal jemand den Nachhaltigkeitsaposteln gesagt? Wer die Zukunft der Menschheit sichern möchte, sollte sich außerhalb unseres Sonnensystems umschauen.
Unter Merkel Deutschlands Wohlstand verfrühstückt
Nicht nachhaltig, aber konstant ist einzig der Wandel. Die Fähigkeit, sich schnell anzupassen, sicherte immer schon das Überleben. Umgekehrt sorgte (oft durch Wohlstand hervorgerufene) Trägheit dafür, dass sich Systeme nicht schnell genug umgestellt haben und deshalb untergingen. Man kennt den Kreislauf der Generationen: Die eine baut auf, die nächste erhält und die dritte verspielt alles.
Obgleich es immer warnende Stimmen gibt – der Mythos von Kassandra kommt nicht von ungefähr –, will niemand hören. Wenn Probleme offenkundig werden, sind die Verursacher jedoch oft zur Lösung nicht fähig. Wie ein Zug ans Gleis gebunden ist, sind viele in ihrer Denkweise festgefahren.
In einer solchen Situation befinden sich Deutschland und der Westen. Der Westen ist weit, aber für Deutschland ist jeder von uns verantwortlich. Es ist unser Land. Dass während der Kanzlerschaft Merkels Deutschlands Wohlstand verfrühstückt wurde, weiß mittlerweile wirklich fast jeder. Nichts von dem, was sie tat, löste irgendein Problem, im Gegenteil, sie schuf reichlich neue. Dabei war sie nicht allein, ihr standen nahezu alle politischen Parteien hilfreich zur Seite. Sogar die AfD, die ihr als Gegenpol Mehrheiten sicherte und ihr einen wunderbaren Vorwand lieferte, sich immer weiter rot-grün zu orientieren. Schließlich gab es woanders keine Mehrheiten und man musste ja regieren. Dass man auch als Minderheitsregierung regieren kann, ist zwar richtig, aber unseren Parteien viel zu anstrengend.
Nötig wäre ein schnelles und konsequentes politisches Gegensteuern – aber da ist nichts
Man kann das Problem der Totzeiten an einer Vielzahl von Politikfeldern durchdeklinieren. (Zu) viele Entscheidungen wurden getroffen, deren fatale Auswirkungen erst nach und nach sichtbar werden. Anders gesagt, es gibt eigentlich keinen Bereich, in dem nicht dringender Bedarf des Gegensteuerns erforderlich wäre. Die Denkfabrik Republik 21, eine „Ideenschmiede, die neue bürgerliche Politik nachhaltig begründen will“, hat unter dem Titel „Deutschland nach Merkel“ eine kritische Bestandsaufnahme vorgenommen und Lösungsansätze aufgezeigt.
Das ist ein sehr positiver Anfang. Was jedoch fehlt, ist sowohl die Umsetzung als auch eine systematische Aufarbeitung der grundsätzlichen „Systementgleisung“. Unser politisches System ist uns evident entglitten, nahezu nichts funktioniert, wie es sollte. Was ist da warum schiefgelaufen? Wie geht es besser?
Viele „Normalbürger“ fühlen sich politisch in keiner Weise vertreten, was der Demokratie die Grundlage entzieht. Die Diskussionen der Berliner Blase entfernen sich immer weiter von der Wirklichkeit und damit auch von der Welt, in der nun einmal „Normalos“ leben müssen. Anders gesagt: Wir verschrotten gerade die Demokratie. Ist das wirklich klug? Wie war das in der Vergangenheit? „Mind the gap“ ist ein sehr guter Rat, den die Londoner U-Bahn gratis liefert. Wer in einer Demokratie ohne oder gegen die Mehrheit der Bürger meint regieren zu können, schafft entweder einen totalitären Staat durch die Hintertür – oder gerät selbst schnell ins Abseits.
Hier und jetzt wäre ein schnelles und konsequentes politisches Gegensteuern gefragt. Da wiederum sieht es schlecht aus. In Kernbereichen wird die bisherige Politik fortgeführt und noch ein Zahn zugelegt. Dabei wird gleich die FDP miterledigt, die sich zum Deppen vom Dienst machen lässt.
Zeit, mit den Luxusdebatten verwöhnter Kinder aufzuhören
Ein wichtiger Politikbereich wird traditionell übersehen oder untergewichtet, was angesichts der derzeitigen Situation äußerst gefährlich ist: Es ist die geostrategische Lage. Geostrategisches Denken war stets ein Stiefkind der Deutschen. Es mag sein, dass dies daran liegt, dass Deutschland eine verspätete Nation ist. Es mag auch dem Umstand geschuldet sein, dass die Deutschen nach zwei verlorenen Kriegen, Tod, Zerstörung, Verlust der Heimat und der Ehre meinten, sich besser aus diesen Angelegenheiten heraushalten zu sollen. Nur funktioniert das Leben so nicht, diese Wahl gibt es nicht. Schon gar nicht einem großen Land in der Mitte des europäischen Kontinents.
Von Sicherheitspolitik hielt man in Deutschland nicht viel; Waffen sind böse und vor Gefahren läuft man besser weg. Hauptsache, Geld verdienen – so lässt sich die Einstellung zusammenfassen. „Wandel durch Handel“ war da eine bequeme Devise. In letzter Zeit wurde klar, dass es eine dumme war. Mittlerweile wurde sogar deutlich, dass sie kontraproduktiv war: Statt Systemgegner dem (einstmals) freien Westen anzunähern, wurden autoritär-totalitäre Staaten gestärkt. Der „böse Wolf“ wurde sozusagen gefüttert und stark gemacht.
Man könnte meinen, dass nun alle aufgewacht seien, Luxusdebatten verwöhnter Kinder aufhören würden und die westlichen Staaten, allen voran Deutschland, sich auf die neue, tatsächlich existentiell bedrohliche Lage einstellen würden – weit gefehlt. Unsere Debatten drehen sich um uns, ums Klima und um die politischen Katastrophen, welche die derzeitige Regierung anrichtet. So eine Regierung könnte sich Deutschland nicht einmal leisten, wenn es wunderbar ruhige Zeiten wären und Deutschland ein reiches Land. Aber das ist nicht die reale Lage.
Vergleiche mit dem Kalten Krieg führen in die Irre
Thomas Jäger, Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln, stellte fest:
„Die Gestaltung der Beziehungen Deutschlands und anderer EU-Staaten zu den USA und China wird die nächsten Jahrzehnte das herausragende Thema der Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik sein… Die anhaltende Selbsttäuschung europäischer Regierungen, dass die zukünftige internationale Ordnung multipolar werde, also drei, vier oder fünf solcher Weltmächte entstehen, hat bisher eine ernste Diskussion über die Rolle der EU in den nächsten zwanzig Jahren verhindert. Man sah sich selbst als eine dieser Mächte. Andere identifizierten daneben Russland, Indien, Brasilien und weitere Staaten. Dazu wird es nicht kommen, China und die USA werden alle anderen Staaten überragen.“
Er wies darauf hin, dass Vergleiche mit dem Kalten Krieg in die Irre führen, weil eine derart hermetische Abriegelung der Wirtschaften, wie einst im Kalten Krieg, nicht mehr möglich sei. Zudem sei eine verstärkte Instabilität der Weltlage zu befürchten, weil Mittelmächte wie die Türkei, Indien, Saudi-Arabien und Brasilien je nach Lage mit China oder den USA ins Geschäft kommen können.
Jäger fragt: „Wird die EU eine dieser Mittelmächte sein?“ Und beantwortet die Frage mit einem klaren „Nein“. Sie sei zwar in Handelsfragen relevant, aber technologisch abgehängt. Ob sich das ändert, ist offen.
„Militärisch ist die EU stark unterentwickelt. Kein Land kann sich selbst verteidigen und für Sicherheit und Stabilität in der Nachbarschaft sorgen. Gemeinsam können sie es auch nicht. Die EU ist ein militärischer Wurm. Diplomatisch kann die EU deshalb keinen bestimmenden autonomen Einfluss in internationalen Konflikten ausüben. Sie ist ein Nilpferd, weil sie kurz auftaucht, den Mund aufreißt und wieder abtaucht. Seit 1991 haben die Regierungen der EU-Staaten an diesem Zustand nichts geändert. Im Gegenteil, sie haben ihn verschlimmert.“
Wir können nichts mehr, nur eine dicke Lippe riskieren
Und Deutschland? Hier steht eine kohärente Strategie zur Außen-, Sicherheits- und Wirtschafspolitik noch aus. Die Unionsfraktion im Bundestag hat ein Positionspapier vorgelegt, welches viel Richtiges enthielt:
„Nur eine Frage wird ausgelassen: Was kann Deutschland denn an Fähigkeiten beitragen? Strategisch handeln bedeutet den koordinierten Einsatz unterschiedlicher Fähigkeiten auf ein bestimmtes Ziel hin. Ohne Fähigkeiten keine Strategie. Deshalb beginnt die Debatte über die zukünftige Rolle Deutschlands und der EU in den internationalen Beziehungen mit der Frage: Was können wir? Bisher beschränken sich die Regierungen zu sehr auf das: Was wollen wir?“
Genau darin zeigt sich aber ein mittlerweile zur Gewohnheit gewordenes infantiles Denken. Nicht das, was sein muss, sondern das, was man sich wünscht, steht im Vordergrund. Derzeit steht nicht nur die Bundeswehr, sondern auch Deutschland „mehr oder weniger blank da“. Wir können nichts mehr, weder militärisch, noch diplomatisch oder wirtschaftlich. Technologisch erst recht nicht. Alles, was wir können, ist eine dicke Lippe riskieren. Ansonsten ist Deutschland fix und fertig, lebt aber immer noch in einer Illusion von Größe und Bedeutung. Eigentlich nur noch lächerlich.
Allerdings sind die Folgen dieser Illusion alles andere als lächerlich. Deutschland ist nicht nur für sich selbst wichtig, es ist als großer Staat in der Mitte Europas auch für die Zukunft des Kontinents von entscheidender Bedeutung. Wenn wir uns nicht bald zusammenreißen und erwachsen werden, reißen wir alle mit. Das wäre, gelinde gesagt, bedauerlich. Deutschland hat also nicht nur nach innen ein Problem, es versagt in einer kritischen Phase auch international.
Deutlich wird, dass uns echte Eliten fehlen. Wer Führungspositionen mit dem Personal vom heutigen Schlage besetzt, muss sich nicht wundern, wie der Laden läuft. Wirkliche Eliten hingegen wollen mit der Politik nichts (mehr) zu tun haben. Ohne Persönlichkeiten, die charakterlich und intellektuell zur Führung geeignet sind, wird das jedoch nicht gut ausgehen.