In Zeiten von Corona, in denen eh niemand wenigstens auch nur nach Mecklenburg-Vorpommern fährt, lohnt sich gelegentlich der Blick in die virtuellen Museen dieses Landes. Eine Ausstellung der besonderen Art ist beispielsweise die von der Bundesregierung und dem ZDJ initiierte Website www.wir-juden.com.
Fernab von den in Deutschland bräsigen und institutionalisierten Gedenkfeiern (und der verzweifelten Suche nach Holocaust-Überlebenden als Key-Speaker im Bundestag) ist diese Website ein Fest von 1.700 Jahren jüdischem Leben und Erleben in Deutschland und der Welt. Und birgt, Ostern nähert sich, eine pralle Überraschung an Informationen. Mir selbst war zwar bekannt, dass Leonard Nimoy aka Mr. Spock Jude ist – von William Shatner aka James T. Kirk wusste ich es nicht. Da bekommt die Star-Trek-Folge „Patterns of force“ (die seinerzeit in Deutschland nicht ausgestrahlt werden durfte) noch einmal einen ganz anderen Drall.
Vom Aufbau her rollt die Ausstellung durch die Historie hin zur Gegenwart und füttert den Besucher auf charmante und tatsächlich begeisternde Weise mit Fakten: Welche wichtigen Schlachten schlugen Juden? Für welche technischen Innovationen sorgten sie? Wo waren (und sind auch heute noch) Juden tätig im Sport, in der Mode, in der Gesellschaft? Wenigstens mir ging es bei der virtuellen Wanderung durch die jüdische Historie immer wieder so, dass ich mir dachte: „Was? Der/die war Jude? Sieh an! Wusste ich gar nicht!“ Oder hätten Sie gewusst, dass Sigmund Loewe, Edmund Rumpler und Raymond Kurzweil Juden waren? Ohne Juden gäbe es keine Kugelschreiber, Fernbedienungen, USB-Sticks und die Automarke Citroën (die von André Gustave Citroën gegründet wurde).
Hadern mit den Feinden – und vermeintlichen Freunden
Oder in der Unterhaltung: Wussten Sie, dass Goldie Hawn, Daniel Radcliffe oder Sean Penn Juden sind? Hat Sie das bisher überhaupt interessiert? Wahrscheinlich nicht – und das ist auch sehr gut so. Es geht nämlich nicht darum, ob ein Schauspieler oder eine Sängerin „jüdisch“ ist, sondern wie banal, wie wenig dies auf Leistung oder Beliebtheit der Künstler einen Einfluss hat (oder, besser: haben sollte). Ein guter Schauspieler ist ein guter Schauspieler. Punkt, keine weiteren Fragen.
Egal wohin mich die Ausstellung führte – ob in die Militärabteilung oder in den Boxsport: Die Liste jüdischer Akteure war immer wieder faszinierend lang. Und bis Ende des Ersten Weltkriegs konnte, wenn man nicht gerade beinharter Antisemit oder Nationalsozialist war und ist, niemand den jüdischen Bürgern Deutschlands mangelnden Patriotismus unterstellen. Ganz im Gegenteil zeigt die Geschichte: Wenn es „hart auf hart“ kam, bildeten Juden die patriotische Speerspitze, am Fortkommen eher von neidischen Kollegen und einem dümmlichen Klassendenken behindert als vom Feind. Einstecken konnten und mussten Juden augenscheinlich schon immer. Wenn nicht vom Gegner, dann vom vermeintlichen und leider immer wieder bornierten „Freund“ (Israel kann da bei den Vereinten Nationen von seinen deutschen „Freunden“ mehr als nur ein Lied singen).
Auch innovativ: Die Seite verzichtet (bewusst?) auf erhobene Zeigefinger oder die grauenhaften Bilder aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern. Stattdessen gibt es eine Bildergalerie der Dumpfen, die Verantwortliche, Handlanger und Trittbrettfahrer der Shoah waren. Die einen erfinden die Fernbedienung, die anderen dressieren Schäferhunde.
Als habe sich ein Volk sein Gehirn amputiert
Abgerundet wird die Ausstellung durch Selbstironie, und tatsächlich sind jüdische Witze (Obacht: keine „Judenwitze“) auf der Seite zu finden. Und sogar gute. Die Ausstellung macht auf humorvolle und wirklich freundliche Weise bewusst, wie groß der Verlust Deutschlands an Kultur, Wissen, Wissenschaft und Gesellschaft durch den Holocaust tatsächlich war und immer noch ist. Ich glaube, in der Geschichte der Menschheit ist nur schwer ein grausameres und dümmeres Verbrechen eines ganzen Volkes und seiner Regierung zu finden. Nicht nur an denen, die es nicht als Teil seiner Gesellschaft akzeptieren wollte, sondern auch an sich selbst. Als habe sich ein ganzes Volk im wahrsten Sinne des Wortes sein Gehirn amputiert. Was hätten wir heute für ein herrliches (und mutmaßlich durchgeimpftes) Deutschland… Wie dumm und borniert muss man im Jahr 2021 sein, um dies abzustreiten oder relativieren zu wollen? Der Pharao hatte einen Grund, warum er die Israeliten nicht ziehen lassen wollte.
Wir Nichtjuden sollten den Juden – und speziell den deutschen Juden – dankbar sein, dass sie nach 1945 wieder ein Teil dieser Gesellschaft sein wollten und „unsere“ Juden hegen und pflegen. Sonst sähe es hier wie in einer x-beliebigen Wüstenrepublik aus. Außerdem beschützen die Juden die Menschheit: Eine jüdische Bekannte erklärte mir einst, dass, wenn sich alle Juden an die Vorschriften ihres Glaubens halten, der Messias wiederkommt und das Jüngste Gericht auf uns alle niederhagelt. Deswegen hält sie sich an keine Vorschriften. „Ich will nicht auch noch daran schuld sein“, sagt sie.
Zusammengedampft fasse ich die Ausstellung so für mich zusammen: Es gab und gibt vielleicht deutsche Juden. Es gab aber immer (und gibt gottlob wieder) jede Menge jüdische Deutsche. Dessen sollten wir uns bewusst sein und bleiben. Antisemitismus darf nie wieder Platz in dieser Gesellschaft haben, egal von welcher Seite. Man schießt sich schließlich auch nicht in die Kniescheibe, um besser laufen zu können.
Neugierig geworden? Ich will nicht zu viel verraten: Nehmen Sie sich ein Heißgetränk und eine Tüte Popcorn und machen Sie sich auf den Rundgang unter www.wir-juden.com.