Gestern Abend hielt Jordan B. Peterson einen Vortrag in Berlin und gab damit zum ersten Mal eine seiner „Shows“ auf deutschem Boden. Es war ein fantastischer Abend.
Gestern Abend hielt Jordan B. Peterson einen Vortrag in Berlin und gab damit zum ersten Mal eine seiner „Shows“ auf deutschem Boden. Als ich vor ein paar Wochen erfuhr, dass er nach Deutschland kommen werde, stand für mich sofort fest, dass ich hingehen würde. Ich lernte seine Thesen und Theorien durch meine Arbeit für Achgut kennen, weil ich seit geraumer Zeit unsere allwöchentliche „112-Peterson“-Kolumne betreue. Es ist mir stets eine Freude, mich durch das YouTube-Konvolut seiner vielen Vorträge, Interviews, Gespräche und Video-Ansprachen zu klicken, um einen Auszug seiner Reden in die schriftliche Form zu bringen. Im Grunde ist es jedoch unmöglich, auf diese Weise seinen Esprit und sein rhetorisches Talent zu transportieren. Bei ihm handelt es sich um einen Philosophen, dessen eigentliches Œuvre aus Aufnahmen seiner freien Rede besteht.
Jordan B. Peterson ist klinischer Psychologe, ehemaliger Universitätsprofessor, lehrte unter anderem in Harvard und bis vor Kurzem an der Universität Toronto. Bekannt wurde er im Jahr 2016, als er sich dem kanadischen Gesetz Bill C-16 widersetzte, das die Bürger unter anderem dazu zwingen will, genderneutrale Pronomen zu verwenden. Peterson befand, dies verletze die Redefreiheit und wurde für diese Einstellung öffentlich angefeindet. Als er begann, seine Vorlesungen auf YouTube hochzuladen, erzielte er damit eine enorme Resonanz. Seine Kunst, psychologisches Wissen mit Mythologie, Philosophie, Pop-Kultur, Politik und unterhaltsamen Anekdoten zu verknüpfen, begeisterte die YouTube-Community genauso wie zuvor seine Studenten. Er begann, gezielt Videos für seinen Kanal zu produzieren. Neben Solo-Videos, in denen er vor allem versuchte, seinen jungen und zumeist männlichen Zuhörern die Augen für das eigene Potenzial zu öffnen, führte er zahlreiche Gespräche mit anderen Intellektuellen und prominenten YouTubern.
Der wohl bekannteste Kritiker der Cancel-Culture
Auf seinem Hauptkanal hat er mittlerweile über 5,6 Mio. Abonnenten. Seine Bücher „12 Rules for Life. Ordnung und Struktur in einer chaotischen Welt.“ (2018) und „Beyond Order – Jenseits der Ordnung“ (2021) wurden zu Bestsellern in der englischsprachigen Welt. Seine Kernthemen sind wohl am ehesten mit den Schlagworten Redefreiheit als Grundlage für freies Denken, Eigenverantwortlichkeit, Persönlichkeitsentwicklung, Selbstoptimierung sowie Strukturierung der Wirklichkeit zu beschreiben. Er warnt vor Opfer-Narrativen, wie sie die Linken zuhauf anbieten – etwa in Gestalt der „Black-Lives-Matter“-Bewegung, weil diese Steilvorlagen gerade junge Menschen leicht davon abhalten können, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.
Einer seiner Schwerpunkte sind zudem die psychologischen Mechanismen hinter totalitären Regimen wie Hitlers Nazideutschland und Stalins Sowjetunion. Vor diesem Hintergrund kritisiert er jedwede kollektiven Tendenzen, die oft in ideologisches Denken münden – und in diesem Zuge auch den Feminismus, die Gender-Theorie und die Trans-Ideologie. Außerdem ist er der wohl prominenteste Kritiker der Cancel-Culture, der er selbst schon öfter zum Opfer fiel. Seit Juni ist sein Twitter-Account dauerhaft gesperrt, also faktisch gelöscht.
Während Peterson einerseits ein Weltstar ist, wird er vom deutschen Feuilleton äußerst stiefmütterlich behandelt, sofern er überhaupt darin vorkommt. Erwartungsgemäß dominieren skeptische Berichte, eine ernsthafte Auseinandersetzung mit seiner Arbeit bleibt meistens aus. Und überhaupt fällt die Zuschreibung „rechts“ oder „misogyn“ reflexartig und unreflektiert. Dies geschieht in der englischsprachigen Welt genauso selbstverständlich – doch dort wird er wenigstens regelmäßig besprochen und von großen Medien interviewt. Hierzulande bleibt Peterson außerhalb einer eher kleinen Fanbase größtenteils unbekannt. Dabei würde ein Intellektueller von Petersons Format gerade den vom Mittelmaß bestimmten deutschen Debatten mehr als guttun.
„Denk’ ich an Deutschland in der Nacht…“
Als ich gestern Abend auf dem Weg zu seinem Auftritt in die S-Bahn steige, bin ich verwirrt. Denn mir gegenüber sitzen drei attraktive Männer Mitte oder Ende Dreißig in perfekt sitzenden Dreiteilern. Ihr Aufzug wirkt geradezu dandyhaft. Gut gekleidete Männer kommen im Berliner Stadtbild so gut wie gar nicht vor, und ich brauche einige Augenblicke, um zu begreifen: Sie sind natürlich wie ich auf dem Weg zu Jordan B. Peterson. Und da ist es Sitte, dass das größtenteils männliche Publikum in eleganter Kleidung erscheint, wie zu einem festlichen Anlass. Als ich am Anhalter Bahnhof aussteige und zum Tempodrom laufe, wartet eine weitere Überraschung: der im Vorfeld angekündigte Antifa-Protest. Laut offiziellen Presseberichten haben sich gestern wohl 300 Personen zu einer Demonstration vor dem Tempodrom eingefunden, durch eine Polizeisperre von der eigentlichen Veranstaltung abgeschirmt. Als ich zum Eingang laufe, höre ich gerade, wie eine Aktivistin mit einer jungenhaften Stimme skandiert, dass die erschienenen jungen Männer lieber die Wichs-Flecken in ihrem Zimmer beseitigen sollten, als an den Lippen von Jordan B. Peterson zu hängen. Er sei ein Frauenfeind und Rechter und so weiter und so fort.
Ich muss innerlich den Kopf schütteln und gleichzeitig grinsen. „Denk’ ich an Deutschland in der Nacht …“, schießt es mir durch den Kopf. Wenige Stunden zuvor hatte ich das Glück gehabt, in kleiner Runde Jordan B. Peterson zum Mittagessen treffen zu können. Im persönlichen Gespräch ist er genauso geistreich und eloquent wie in seinen Videos. Und obwohl er vor Ideen sprüht, interessiert ihn genauso, was seine Gesprächspartner von diesem oder jenem halten. Vor allem die Kopfschmerzen verursachende deutsche Politik schien ihn stark umzutreiben. Seine Frau Tammy begleitete ihn, die offenbar ein stabiler geistiger Ruhepol und wichtiger intellektueller Bezugspunkt für ihn ist. Später assistierte sie ihm auch auf der Bühne. Ich fragte Peterson, worin er eigentlich den Hauptgrund für den „Hass auf Kompetenz“ sieht, wie er es formuliert und immer wieder in seinen Videos thematisiert. „Neid und Missgunst“, antwortete er. Es sei einfach viel leichter, kompetente und erfolgreiche Menschen durch moralische Eigenüberhöhung zu bekämpfen, als sich selber anzustrengen und an sich zu arbeiten. Das sei schon immer so gewesen. Dass es in der heutigen Zeit so kulminiere, läge an der allgemeinen Informations- und Kommunikationsverdichtung, die vor allem von den sozialen Medien vorangetrieben werde.
Als ich angesichts des Geschreis der Aktivistin an dieses kultivierte Treffen denke, erscheint mir die Diskrepanz geradezu lächerlich. Ob diese Empörte auch nur eine Zeile Petersons gelesen oder auch nur ein paar Minuten eines seiner Videos verfolgt hat? Würde sie überhaupt in der Lage sein, wirklich zuzuhören und zu versuchen, zu verstehen?
Der Krise der Männlichkeit etwas entgegensetzen
In der Tat besteht das Publikum größtenteils aus Männern jungen und mittleren Alters, vermutlich sind ungefähr 80 Prozent der Zuhörer männlich. Es scheint zu stimmen, dass Peterson vor allem die Herren der Schöpfung anspricht. Nicht zuletzt thematisiert er regelmäßig das Verhältnis zwischen Männern und Frauen, gibt Beziehungsratschläge und beschreibt anhand von Untersuchungen und Studien sowie aufgrund seiner Erfahrung als Therapeut, was Frauen von Männern wollen und warum sie sich mehrheitlich starke und entwickelte Partner wünschen. Nicht zuletzt seien Männer und Frauen im Durchschnitt hinsichtlich ihres Temperaments und ihrer Interessen unterschiedlich veranlagt und daher sollte die Gesellschaft nicht versuchen, die Geschlechter künstlich in eine andere Richtung zu formen. Hinter all dem steht immer die individuelle Persönlichkeitsentwicklung als zentrales Thema, sodass ich als Frau von Petersons Betrachtungen ebenso profitiere. Aber es ist wohl kein Zufall, dass mich zum Vortrag ein Freund in meinem Alter begleitet. Peterson scheint also der nicht zu leugnenden Krise der Männlichkeit etwas entgegenzusetzen zu haben.
Seine Show wird von einem klassischen Gitarristen eröffnet – beruhigend und geistesschärfend. Währenddessen lasse ich meinen Blick durchs Publikum schweifen. Ich blicke auf ein Meer aus elegant gekleideten und aufgeweckt blickenden Menschen, auch die anwesenden Frauen sind für Berliner Verhältnisse überdurchschnittlich gut gekleidet, manche sind sogar im Abendkleid erschienen. Per QR-Code kann man Fragen einreichen, von denen Peterson „zwei oder drei“ beantwortet, wie uns Tammy Peterson erklärt, als sie die Bühne betritt und die Show eröffnet. Sie bleibt während der gesamten Veranstaltung auf der Bühne sitzen und stellt Peterson später von ihr ausgewählte Zuschauerfragen. Nun betritt der Star des Abends unter großem Applaus selbst die Bühne.
Er beginnt mit einem ungefähr 20-minütigen freien Vortragsblock zum Thema „Jenseits der Ordnung“, dem Titel der Show und seines aktuellen Buches. Es klingt schnell lächerlich, wenn man versucht, seine Gedanken akkurat wiederzugeben, ohne ihn direkt zu zitieren. Aber festhalten lässt sich, dass seiner Ansicht nach Geschichten und Mythen oft wahrer sind als die Wirklichkeit, weil sie in ihrer Allgemeingültigkeit unbestechlich seien. Ein gelungenes Leben sei demnach von einem gelungenen Narrativ, von der in Ordnung gebrachten eigenen Geschichte abhängig. Jeder Mensch sollte sich also mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen, die Geschichte seines Lebens begreifen und davon ausgehend die Geschichte seiner Zukunft schreiben.
Ein Philosoph im besten Sinne
Im Folgenden beantwortet Peterson besagte ausgewählte Zuschauerfragen, und schnell wird klar, warum es nur zwei oder drei sein werden. Denn hier geht er zu seiner Kernkompetenz über: dem Ausbreiten einer ganzen Philosophie angesichts einer scheinbar einfachen Frage, dem beständigen Mäandern zwischen Hochgrad-Intellektualität und Alltags-Anekdote. Dem gekonnten Verbinden scheinbar nicht miteinander Verbundenem im Plauderton. Theodor Fontane hätte ihn wohl einen Causeur genannt.
Nachdem er eine Frage angehört hat, geht er oft einen Moment in sich, bevor er antwortet. Als er gefragt wird, welchen psychologischen Rat er einem Soldaten geben würde, der im Zuge des Ukrainekriegs eingezogen wird, sagt er, dass er darauf keine Antwort geben könne. Ein Denker, der sich scheinbar tatsächlich im Klaren darüber ist, was er nicht weiß. Und so ist das Beeindruckendste an Peterson möglicherweise, dass er trotz allen Ruhmes eine unglaubliche Demut ausstrahlt und keine Spur von Eitelkeit zeigt.
Die Stimmung im Publikum ist von gelassener Aufmerksamkeit. Die meisten scheinen großes Vergnügen dabei zu empfinden, einem der wohl größten Denker unserer Zeit bei der Arbeit zuzusehen. Jordan B. Peterson ist ein Philosoph im besten Sinne. Schade, dass es so wenige davon gibt. Schade, dass so wenige an das individuelle Potenzial im Menschen appellieren und ihren Zuhörern glaubwürdig vermitteln, wie sie wirkungsvoll ihr Leben verbessern können. Wie sie lernen können zu denken, ohne, dass man ihnen vorschreibt, was sie zu denken haben, wie Peterson betont. Es ist schade, dass so wenige Menschen ihre Eigenverantwortung und persönliche Freiheit lieben.