Ulrike Stockmann / 04.09.2020 / 14:00 / Foto: Achgut.com / 44 / Seite ausdrucken

Du so, ich so, wir so, ihr mich auch

In unserer Gesellschaft herrscht einfach kein Zusammenhalt mehr! Das dachte sich auch der Berliner Senat und gab eine neue Image-Kampagne für die Hauptstadt unter dem Motto „#WirSindEinBerlin“ in Auftrag. Daran sind hohe Erwartungen geknüpft: „Es geht um nicht weniger als das Selbstverständnis der Stadt, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung. Deshalb gesellt sich zum visuellen Neustart auch gleich noch eine Kampagne, die die Hauptstädter zusammenrufen soll“, schreibt der rbb.

Zu diesem Zweck gibt es ein neues Kommunikations-Design für die Hauptstadt und, ach ja, auch neue Inhalte. Daran beteiligt waren Moritz van Dülmen, der Geschäftsführer der Kulturprojekte Berlin GmbH sowie der Geschäftsführer der Tourismusgesellschaft visitBerlin, Burkhard Kieker, und der Chef der Wirtschaftsfördergesellschaft Berlin Partner, Stefan Franzke.

Allen Eingefleischten dürfte die auslaufende „Be Berlin“-Kampagne ein Begriff sein, mit der die Stadt seit 2008 visuell bespielt wurde. Vielleicht haben auch Sie schon die „sei xyz, sei abc, sei berlin“-Sprüche wahrgenommen. Zum Beispiel:

Sei unikat
Sei delikat
Sei berlin

Oder:

Sei Straße
Sei Laufsteg
Sei berlin

Oder:

Sei jung
Sei forsch
Sei berlin

Weg vom Ego-Trip, hin zum Wir-Gefühl

Sie merken schon: Das Prinzip „Komm nach Berlin und verwirkliche Dich selbst“ sollte im Stadtbild kommuniziert werden. Manche Eingeborene – so wie ich – argwöhnten jedoch schon damals, dass dies eine schriftliche Einladung an die ganze Welt (namentlich die deutsche Provinz) sein sollte, nach Berlin zu kommen und das zu tun, was man sich nirgendwo sonst trauen würde – im Guten wie im Schlechten.

Tatsächlich manifestierte sich in den 2010ern bei mir der Eindruck, dass neben all den unbestreitbaren Talenten, die meine Heimatstadt bereicherten auch viele „gescheiterte Existenzen“ den Weg nach Berlin fanden, um sich hier gehen zu lassen. Durch die verstärkte Migration aus dem Nahen Osten und Nordafrika seit 2015 wurde dieser Effekt noch verschärft.

Im Jahr 2020 haben wir nun den Salat und die Heterogenität Berlins stellt bisweilen ein Problem dar. Die „Arm, aber sexy“-Attitüde der vermeintlichen Stadt für Aussteiger und solche, die es werden wollen, hat nach wie vor eine unglaubliche Anziehungskraft, bei der jedoch so langsam der Lack ab ist. Beispielsweise klettern die Mieten immer weiter in die Höhe und der Wohnungsmarkt bereitet längst nicht mehr nur den Mittellosen Kopfzerbrechen. Arm ist Berlin wohl nach wie vor, ob meine Stadt noch sexy ist, weiß ich nicht. Manchmal denke ich, dass sich Berlin wie ein in die Jahre gekommener Dauerstudent verhält, der einfach nicht erwachsen werden möchte. Vor einer Weile sagte mir ein in Berlin ansässiger Modedesigner: „Die Berliner leben immer noch in den 90ern. Aber die Zeiten, in denen man alles zum Spottpreis hinterhergeworfen bekam, sind einfach vorbei. Berlin sollte sich dem Kapital öffnen, anstatt seine Bewohner weiterhin künstlich arm zu halten.“

Die neue Image-Kampagne der Stadt möchte nun weg vom Ego-Trip der Individualisten und hin zu einem Wir-Gefühl der Soldarischen. Umgesetzt wurde das Ganze von der Agentur Jung von Matt/Spree. Kreativ-Geschäftsführer Jan Harbeck erklärt es folgendermaßen:

„Berlin hat über Jahre von einer besonderen Erzählung gelebt: Komm nach Berlin, hier kann jede und jeder den Freiraum finden, um seine individuellen Lebensentwürfe zu verwirklichen. Diese Attraktivität führt allerdings mittlerweile zu Herausforderungen: Je mehr unterschiedliche Lebensentwürfe sich hier begegnen, desto häufiger treten auch Konflikte zu Tage.“

Lustige Dialoge zwischen Berlinern

Der neue Markenauftritt soll daher „deutlich partizipativer“ sein, denn: „Die Berliner wünschen sich mehr Zusammenhalt und ein stärkeres Wir-Gefühl, heißt es aus der Berliner Senatskanzlei“, schreibt Horizont. Die Stadt hat also eine Stange Geld in die Hand genommen, damit die Hauptstädter ab dem 12. September dank eines neuen Designs ihre Identitätskrise überwinden können.

Dazu gehören auch „digitale und analoge Plakatflächen“, auf denen lustige Dialoge zwischen Berlinern dargeboten werden. Auf der Internetseite der Berliner Senatskanzlei heißt es: „Die von der Agentur Jung von Matt SPREE entwickelte Image-Kampagne zielt daher auf das zwischenmenschliche Selbstverständnis und die gelebte Vielfalt in Berlin. Sie spricht die Menschen in der Stadt in alltäglichen Situationen mit einem Augenzwinkern an.“ Das klingt dann zum Beispiel so:

Du so: Familie in Heilbronn.
Ich so: Familie in Damaskus.
Wir beide so: Familie gegründet in Berlin.

Oder: 

Du so: 41 Jahre lang im Westen.
Ich so: 41 Jahre lang im Osten.
Wir beide so: Was sind schon 1,50 Meter?

Am besten gefällt mir jedoch:

Du so: Berliner Schnauze.
Ich so: Berliner Schnauze.
Wir so: Maske auf, du Flitzpiepe.

Kitsch und eine gehörige Portion Corona-Propaganda

Hier hat jemand Kitsch produziert und gleich noch eine gehörige Portion Corona-Propaganda beigemischt. Begreift der Senat nicht, dass man ein echtes Zusammengehörigkeitsgefühl nicht kaufen kann?

Warum wurde beispielsweise die Demo gegen die Corona-Maßnahmen am vergangenen Samstag so arg verteufelt? Trafen sich da etwa nicht Menschen zu einer gemeinsamen Sache, die sich sonst vermutlich eher nicht zusammen tun würden? Um gemeinsam ihrem Unmut gegen als überzogen empfundene Schutzmaßnahmen Luft zu machen?

Die Sorge um die Durchsetzung geltenden Rechtes hatte jedenfalls die Kraft, Menschen aus verschiedenen (politischen) Spektren zusammenzuführen. War dies etwa nicht jener Schulterschluss zwischen Menschen unterschiedlicher Couleur, der von öffentlicher Seite permanent gepredigt wird? Oder gibt es ein richtiges und ein falsches "Wir"?

Foto: Achgut.com

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Erich Gennat / 04.09.2020

In welchen Sprachen und Schriften wird denn diese Idee noch in Berlin unter die “Menschen” gebracht? Hebräisch, Japanisch?

Hans Reinhardt / 04.09.2020

Du so: Ich bin dick. Ich so: Ich bin doof. Wir so: Wir sind Dick und Doof.

Günter H. Probst / 04.09.2020

Am Besten gefiel mir immer: Sei schwul, sei arm, sei Berlin. Die neue Kampagne erinnert an die Mediation im Scheidungsverfahren.

J.G.R. Benthien / 04.09.2020

Das »falsche« WIR besteht darin, dass es kein Geld kostet und sich die Senatoren und Parteigenossen nicht mit einem tollen Werbekonzept zeigen können. Das »richtige« WIR besteht darin, dass es wieder mal viel Geld (des Steuerzahlers) kostet und wie gehabt nichts bringt.

Rainer Berg / 04.09.2020

Guter Artikel mit einem Schluss mit völlig richtigen Schlüssen. Nur werden diese Schlüsse von den Mächtigen nicht gern gehört und schon gar nicht in der Praxis gesehen.

Andreas Rühl / 04.09.2020

Es wäre mal interessant zu erfahren, wieviele Berliner noch den stadtdialekt sprechen und deren Durchschnittsalter. Alle Berlinklischees gehen den Bach runter, als es noch Oper gab wurden wir von einem extrem freundlichen Taxifahrer zurueck gefahren. So was laesst einen zweifeln, ob es Berlin ueberhaupt noch gibt. Berlin nähert sich, das klingt jetzt hart, Bielefeld an. Ich komme regelmäßig nach Berlin, weil dort ein Teil der Familie lebt, und muss von Jahr zu Jahr feststellen, dass Berlin kaum mehr noch berlinerisch ist. Wer trinkt noch weisse mit Schuss? Wo sind die eck Kneipen hin? Was ist Berlin? Die Antwort darauf scheint man selbst in Berlin nicht mehr zu kennen, geschweige bei den bekloppten, die dort regieren. Berlin wird, wenn es so weitergeht, nur noch ein Wort sein. Aber da geht es Paris oder Madrid ähnlich. Ich weiß nur eines… Imagekampangnen aendern daran nichts.

Gertraude Wenz / 04.09.2020

Liebe Frau Stockmann, so ist es: Ein Zusammengehörigkeitsgefühl lässt sich nicht erzwingen, schon gar nicht von oben! Im Gegenteil! Und schon gar nicht mit derart blöden Sprüchen, die jeden Volldeppen noch in seiner Intelligenz beleidigen müssten. Für wie dämlich hält die Regierung ihr Volk? Ich für meinen Teil werde durch solche “Erziehungsversuche”, die in ihrer Dummheit und Primitivität ihresgleichen suchen, nur immer widerborstiger! Wer auf sowas hereinfällt, hat nicht alle Tassen im Schrank, wer sich sowas ausdenkt, auch nicht. Das Zusammengehörigkeitsgefühl muss aus dem Volk erwachsen. Und auch die Parolen müssen aus dem Herzen des Volkes kommen. Die Demo am 29. August hat all dies verkörpert. Und es ist total in Ordnung, dass ganz viele unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Überzeugungen zusammenkamen. Wichtig war zunächst nur der kleinste gemeinsame Nenner: Ein Warnruf an die Politik, nicht nur die überzogenen Coronamaßnahmen betreffend, sondern der Aufstand gegen eine zunehmend diktatorischer werdende Regierung!

Thomas Taterka / 04.09.2020

Ja, ja. Berlin ist schlimm : Lauter Leute, die glücklich und ums Verrecken nicht da sein wollen , wo sie eigentlich herkommen.( Warum wohl ? )  - Da muß sich doch ne Menge Kohle rausholen können, aus diesem “Puff” . - YouTube, Eingabe : Happy End , Der Song von Mandelay, Weill / Lenya. Viel Spaß!

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