Rainer Grell / 05.03.2020 / 16:00 / Foto: Tomaschoff / 10 / Seite ausdrucken

„Die Welt ist aus den Fugen.“ So schnell?

„The time is out of joint“ („Die Zeit ist aus den Fugen“), lässt Shakespeare den Prinzen von Dänemark in Hamlet sagen (I./V.). Kurz zuvor hatte schon der Offizier Marcellus festgestellt (I./IV.): „Something is rotten in the state of Denmark.“ („Etwas ist faul im Staate Dänemark“). Und das ist jetzt gut 400 Jahre her. Doch war das beileibe nicht das erste Mal, dass die Welt aus den Fugen geraten war – und das letzte Mal auch nicht.

„Die aus den Fugen geratene Welt der Angela Merkel“ überschrieb „Die Welt“ vom 7. Dezember 2016 einen Artikel. Sein Verfasser, Lucas Wiegelmann, macht darauf aufmerksam, dass bei Shakespeare nicht die „Welt“, sondern die „Zeit“ aus den Fugen geraten ist, und zieht anschließend eine süffisante Parallele zwischen der Führungsschwäche Hamlets und Merkels. Ich möchte diese Spur an dieser Stelle nicht weiter verfolgen, weil sie sowohl der damaligen CDU-Vorsitzenden als auch deren Redenschreiber zu viel intellektuelle Tiefe unterstellt.

Mir kommt es vielmehr darauf an, wie leichtfertig mit einer so schwerwiegenden Wendung umgegangen wird. Wir kennen das leider auch von anderen Begriffen, wo aus jeder Geiselnahme unweigerlich ein „Geiseldrama“ und aus jedem Flugzeugabsturz eine „Flugzeugkatastrophe“ wird. Wenn dann wirklich eine Katastrophe passiert, ist dieses Wort verbraucht und eine stärkere Dosis muss her. Und dann ist die Welt eben aus den Fugen.

So gab Peter Scholl-Latour seinen „Betrachtungen zu den Wirren der Gegenwart“ den Titel „Die Welt aus den Fugen“ (Ullstein, 2013). Und der Historiker Philipp Blom schrieb „Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart“ und betitelte das Ganze mit „Die Welt aus den Angeln“ (Carl Hanser Verlag München, 2017).

Nicht nur Sex sells, sondern auch Angst und Schrecken

In Anlehnung an den islamischen Aufklärer Ibn Chaldun (1332–1406) überschreibt Scholl-Latour das erste Kapitel seines Buches mit dem Begriff „El Muqaddima“. Während „die Einleitung“ von Ibn Chaldun zu seiner siebenbändigen Weltgeschichte (Kitab al-ibar) drei Bände oder 1.475 Seiten umfasst, beschränkt sich Scholl-Latour in seiner „Einführung“ auf 130 Seiten. Allerdings klärt er den unbefangenen Leser erst auf Seite 80 über diesen Zusammenhang auf: „Man möge es nicht als Anmaßung betrachten, wenn ich für den ersten Teil dieses Buches auf den Ausdruck ‚El Muqaddima‘ zurückgegriffen habe.“

Lassen wir dahinstehen, als was dieser Rückgriff auf einen Gelehrten dann betrachtet werden kann, den Scholl-Latour in einem Atemzug mit Ibn Rushd (Averroes), Ibn Sina (Avicenna) und natürlich mit Aristoteles zitiert. Denn an späterer Stelle (Seite 113f.) macht uns der damals (2012) 88-jährige Autor, der über eine robuste Physis und ein ebensolches Selbstbewusstsein verfügte, mit einem Gedanken Ibn Chalduns bekannt, der ihm (Scholl-Latour) in meinen Augen auf jeden Fall Absolution garantiert:

„Aufgrund des ihnen angeborenen wilden Temperaments sind die Araber weniger als die meisten anderen Völker geneigt, eine höhere Autorität anzuerkennen. Ihren politischen Bestrebungen fehlt es meist an einer deutlichen Zielsetzung. Sie bedürfen des Einflusses einer religiösen Gesetzgebung und der Autorität eines geistlichen Führers, um sich einzuordnen und zu disziplinieren. Wenn eine solche charismatische Gestalt auftritt, dann erst überwinden sie die bei ihnen verbreitete Mißgunst und Anmaßung. Erst in Befolgung der göttlichen Gesetze finden sie zu einer Einheit, zu Überlegenheit, zur Macht.“

Nur gut, dass das einer der ihren geschrieben hat – jeder andere würde sich dafür unweigerlich den Rassismus-Vorwurf einfangen. Stellen Sie sich mal vor, Sarrazin hätte derartiges von sich gegeben.

Und dann passierte Erfurt. Ein demokratischer Vorgang, der in einem traditionell demokratischen Land keinen Hund hinter dem Ofen hervorgelockt hätte. In der Merkel'schen Demokratur löste er jedoch ein mittleres politisches Erdbeben aus, dessen Nachbeben noch nicht abzusehen sind. Bis jetzt ist allerdings noch niemand auf die Idee gekommen, „die Welt aus den Fugen“-Formel aus der Klamottenkiste zu holen. Das kann man unter den obwaltenden Umständen schon als Fortschritt ansehen.

Foto: Tomaschoff

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Stephan Bender / 05.03.2020

„The time is out of joint“ - Mit Joint ist hier von Shakespeare die Fuge des Zahnrads in Zusammenhang mit einem Unruhependel einer Uhr gemeint. Trifft der “Schwinghammer” nicht exakt den Zwischenraum, bewegt sich das zu steuernde Zahnrad unkontrolliert.—“Die Welt ist aus den Fugen” ist eine dichterische Verballhornung des Hamletschen Originalzitats, bei der (meist in Liebesangelegenheiten) unterstellt wird, die Welt wäre eine Uhr und hätte gefälligst auch genauso funktionieren. Der ironische Satz stammt aus den Siebzigern und war damals ein geflügeltes Wort für ein falsch zitiertes Originalzitat. ( weiteres Beispiele: “Mir fehlen die Wörter!” oder “Wer von Euch ohne Glashaus ist, der werfe den ersten Stein!”)

Donald Adolf Murmelstein von der Böse / 05.03.2020

Es ist ja auch etwas ganz anderes ob ich vom Sinn des Seins oder vom Sinn des Lebens rede. Das sind zwei paar Schuhe Deshalb meint Martin auch, daß der Mensch das DASEIN ist. Man muß es als ganzes betrachten. Man muß raus aus der Illusion der Objektivität. Und alles dreht sich um die Angst und den Tod. Nur wenn wir uns unserer Angst bewust sind leben wir auch authentisch. Das Sein zum Tod sagt der Martin dazu. Übrigens verglich Hanna Arendt (vorsicht Jüdin)  ihren Geliebten Martin Heidegger mit Platon und Dionysios der II. mit Adolf Hitler und. Also alles nur halb-so-schlimm.

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