Naturgemäß – und das ist ja auch richtig so – schauen Presse und Medien an den Wahlabenden auf die etablierten Parteien. Das sind die, die es auf jeden Fall über die 5%-Hürde geschafft oder diese nur knapp gerissen haben. Da wandern bunte Balken und Tortengrafiken über den Bildschirm, wichtige Menschen (und solche, die sich dafür halten) geben Statements ab und schließen aus und schließen nichts aus, haben ihr Primärziel zwar nicht erreicht, aber ihr Sekundärziel und bla und „man muss das alles ja auch unter den erschwerten Bedingungen betrachten“ oder „hat Rückenwind gegeben“. Man trifft sich zu Wahlpartys, isst Häppchen, fiebert jedem Prozentpunkt entgegen, plaudert und ist charmant, selbst, wenn man den eigenen Kandidaten aus tiefstem Herzen hasst.
Als Mitglied einer Mini-Winz Partei wie der LKR sieht das naturgemäß völlig anders aus. Wir zählen keine Prozente, sondern Stimmen. Bei der Wahl in Sachsen-Anhalt hat mein zeit- und kostenintensives Hobby – Obacht! – 473 (in Worten: ein paar) Stimmen erhalten. Kurzfristig war mir danach, doch alle unsere Wähler einmal zum Abendessen einzuladen. Das wäre bestimmt nett und der eine oder andere würde vielleicht zugeben, sich einfach in der Zeile vertan zu haben und lieber die „Gartenpartei“ (grandiose 8.577 Stimmen – hier „neidvollen Blick“ denken) gewählt haben zu wollen. Die kriegen trotzdem eine Cola.
Es gibt Wahlergebnisse, die sind für eine Partei „eine Katastrophe“ oder eine „veritable Klatsche“. Da tritt dann ein Kandidat oder Vorsitzender vor die Kamera und sagt solche Sätze wie „es ist uns nicht gelungen, unsere Inhalte dem Wähler (der Sau) zu vermitteln“ oder „Ich übernehme für dieses Ergebnis die volle Verantwortung“ und „Wir werden dieses Ergebnis morgen in den Gremien ausführlich analysieren“ und „unsere Schlüsse daraus ziehen“. Im Fall der Grünen bleibt das Baerbock-Fahrrad trotzdem am Radeln. Was sollen sie auch anderes machen?
Da bekommt das Wort „Depression“ eine ganz neue Bedeutung!
473 Stimmen sind keine Katastrophe. Sie sind schlimmer. Sie sind nichts. Sie sind demotivierend, traurig, und eine Parteiführung kann sich nicht einmal hinstellen und sagen: „Der Wähler hat uns mit der Aufgabe der außerparlamentarischen Opposition betraut“. Allein in Bayern müssen wir mit den Vor-Corona-Regeln 2.000 Unterstützerunterschriften (eventuell unter Corona-Bedingungen auch nur 500 Unterstützerunterschriften, man weiß es noch nicht) sammeln, um überhaupt zur Bundestagswahl antreten zu dürfen.
(Einschub: Wenn Sie heute beschließen, die ökologisch-sozialistisch-nationalistisch-konservativ-progressive Schäferhundehalter*Innenpartei zu gründen, dann können Sie nicht einfach zum Bundeswahlleiter marschieren und „Tach, ich habe hier eine neue Partei. Bitte fügen Sie dem Wahlzettel noch eine Spalte hinzu, danke!“ sagen, sondern der Wahlleiter will die Unterschriften von 2.000 wahlberechtigten Bürgern haben, die der Meinung sind, dass hier noch eine Zusatzspalte auf den Wahlzettel kommen soll.)
Ich weiß nicht, wie es in Sachsen-Anhalt war, aber wenn die auch nur 500 Unterstützerunterschriften gesammelt haben, dann wollten nicht einmal die uns alle wählen… Das Wort „niederschmetternd“ trifft es da nicht einmal annähernd…
Interessant sind dann die Reaktionen der Mitglieder. Zuerst einmal von den knapp 10 Leuten, die hier ohne Geld, Plakate und Manpower einen Wahlkampf in einem Bundesland von 20.400 Quadratkilometern bestreiten sollten. Deren Stimmen (und die ihrer Verwandten) können wir mutmaßlich von den 473 Stimmen abziehen, sodass hier netto rund 400 Stimmen verbleiben. Da bekommt das Wort „Depression“ eine ganz neue Bedeutung!
„In dieser schweren Stunde sind meine Gedanken bei den Angehörigen der Wahlabgekämpften..."
Dann gibt es natürlich die, die „es gleich gesagt haben“. Das sind die freiwilligen, unbezahlten und ungebetenen internen und externen Berater, die zwar alles besser wissen, aber nichts besser machen. Die haben seit der Erfindung des Rades schon gewusst, wie man einen ordentlichen Wahlkampf ohne Geld und Personal führt und wissen auch, wie man Mitglieder gewinnt, führt, eine ordentliche Wahlwerbung macht, ein Programm schreibt, um Stimmen wirbt und quasi „aus der Lameng heraus“ Kanzler wird. Der kleine Schönheitsfehler: Um direkt vor Ort am Stand um Wählerstimmen zu werben, fehlte leider die Zeit. Es fehlte auch die Zeit, Pressemitteilungen zu formulieren, Flyer zu entwerfen, Wahlslogans zu kreieren oder programmatische Anträge zu stellen. Gut, Rasenmähen und Haarewaschen sind ja auch wichtig. Aber hätte man sie machen lassen, „dann wären sie aber sowas von, aber hallo, das wäre ein echter Traum, sie wollen ja nicht sagen, sie hätten es gleich gesagt, aber sie haben es ja gleich gesagt!“ Die geben dann den Tipp, die Partei solle lieber Selbstmord begehen und man könne ja immer noch der Kleinbusfahrerpartei oder den Wilden Campern beitreten.
Naja, und dann gibt es noch die Typen wie mich. Die stur behaupten, es handele sich nicht um ein totes Pferd, sondern ein frisch geborenes Fohlen, dem man erst den aufrechten Gang beibringen und die Mähne striegeln muss. Und „jetzt erst recht(s)“ weitermachen, weil sie von ihrer Sache überzeugt sind.
Daher lassen Sie mich, bevor ich mit meiner Rede beginne, ein paar kurze Sätze an Sie richten: „In dieser schweren Stunde sind meine Gedanken bei den Angehörigen der Wahlabgekämpften, deren Leid und Schmerz wir nur annähernd nachvollziehen können, und blicken auf dieses Ergebnis in tiefer Sorge und mit Abscheu und Empörung herab. Immerhin haben wir aber unser sekundäres Wahlziel, die Grünen als stärkste Kraft in Sachsen-Anhalt zu verhindern, erreicht!“
Positiv: Es geht ab jetzt nur noch aufwärts. Abwärts geht ja nicht mehr. Und jeder, der uns jetzt in die kommende Wahlschlacht führt, wird mit prozentualen Stimmzuwächsen wuchern können. Ab „5 Stimmen mehr“ legen wir um über 10% zu. Also, „Klimaliste Sachsen-Anhalt“ (827 Stimmen – Was ist los? War Euch der „Freundeskreis Annalena“ zu rechtsradikal?) – zieht Euch warm an: Wir kommen. Vielleicht. Irgendwann. Bestimmt. Versprochen.
(Weitere Verzweiflungstaten des Autors unter www.politticker.de)
Von Thilo Schneider ist in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.