Thilo Schneider / 11.06.2021 / 12:00 / Foto: Martin Bock/Pixabay / 55 / Seite ausdrucken

Die Wahl von ganz unten

Naturgemäß – und das ist ja auch richtig so – schauen Presse und Medien an den Wahlabenden auf die etablierten Parteien. Das sind die, die es auf jeden Fall über die 5%-Hürde geschafft oder diese nur knapp gerissen haben. Da wandern bunte Balken und Tortengrafiken über den Bildschirm, wichtige Menschen (und solche, die sich dafür halten) geben Statements ab und schließen aus und schließen nichts aus, haben ihr Primärziel zwar nicht erreicht, aber ihr Sekundärziel und bla und „man muss das alles ja auch unter den erschwerten Bedingungen betrachten“ oder „hat Rückenwind gegeben“. Man trifft sich zu Wahlpartys, isst Häppchen, fiebert jedem Prozentpunkt entgegen, plaudert und ist charmant, selbst, wenn man den eigenen Kandidaten aus tiefstem Herzen hasst.

Als Mitglied einer Mini-Winz Partei wie der LKR sieht das naturgemäß völlig anders aus. Wir zählen keine Prozente, sondern Stimmen. Bei der Wahl in Sachsen-Anhalt hat mein zeit- und kostenintensives Hobby – Obacht! – 473 (in Worten: ein paar) Stimmen erhalten. Kurzfristig war mir danach, doch alle unsere Wähler einmal zum Abendessen einzuladen. Das wäre bestimmt nett und der eine oder andere würde vielleicht zugeben, sich einfach in der Zeile vertan zu haben und lieber die „Gartenpartei“ (grandiose 8.577 Stimmen – hier „neidvollen Blick“ denken) gewählt haben zu wollen. Die kriegen trotzdem eine Cola.

Es gibt Wahlergebnisse, die sind für eine Partei „eine Katastrophe“ oder eine „veritable Klatsche“. Da tritt dann ein Kandidat oder Vorsitzender vor die Kamera und sagt solche Sätze wie „es ist uns nicht gelungen, unsere Inhalte dem Wähler (der Sau) zu vermitteln“ oder „Ich übernehme für dieses Ergebnis die volle Verantwortung“ und „Wir werden dieses Ergebnis morgen in den Gremien ausführlich analysieren“ und „unsere Schlüsse daraus ziehen“. Im Fall der Grünen bleibt das Baerbock-Fahrrad trotzdem am Radeln. Was sollen sie auch anderes machen?

Da bekommt das Wort „Depression“ eine ganz neue Bedeutung!

473 Stimmen sind keine Katastrophe. Sie sind schlimmer. Sie sind nichts. Sie sind demotivierend, traurig, und eine Parteiführung kann sich nicht einmal hinstellen und sagen: „Der Wähler hat uns mit der Aufgabe der außerparlamentarischen Opposition betraut“. Allein in Bayern müssen wir mit den Vor-Corona-Regeln 2.000 Unterstützerunterschriften (eventuell unter Corona-Bedingungen auch nur 500 Unterstützerunterschriften, man weiß es noch nicht) sammeln, um überhaupt zur Bundestagswahl antreten zu dürfen.

(Einschub: Wenn Sie heute beschließen, die ökologisch-sozialistisch-nationalistisch-konservativ-progressive Schäferhundehalter*Innenpartei zu gründen, dann können Sie nicht einfach zum Bundeswahlleiter marschieren und „Tach, ich habe hier eine neue Partei. Bitte fügen Sie dem Wahlzettel noch eine Spalte hinzu, danke!“ sagen, sondern der Wahlleiter will die Unterschriften von 2.000 wahlberechtigten Bürgern haben, die der Meinung sind, dass hier noch eine Zusatzspalte auf den Wahlzettel kommen soll.)

Ich weiß nicht, wie es in Sachsen-Anhalt war, aber wenn die auch nur 500 Unterstützerunterschriften gesammelt haben, dann wollten nicht einmal die uns alle wählen… Das Wort „niederschmetternd“ trifft es da nicht einmal annähernd…

Interessant sind dann die Reaktionen der Mitglieder. Zuerst einmal von den knapp 10 Leuten, die hier ohne Geld, Plakate und Manpower einen Wahlkampf in einem Bundesland von 20.400 Quadratkilometern bestreiten sollten. Deren Stimmen (und die ihrer Verwandten) können wir mutmaßlich von den 473 Stimmen abziehen, sodass hier netto rund 400 Stimmen verbleiben. Da bekommt das Wort „Depression“ eine ganz neue Bedeutung!

„In dieser schweren Stunde sind meine Gedanken bei den Angehörigen der Wahlabgekämpften..."

Dann gibt es natürlich die, die „es gleich gesagt haben“. Das sind die freiwilligen, unbezahlten und ungebetenen internen und externen Berater, die zwar alles besser wissen, aber nichts besser machen. Die haben seit der Erfindung des Rades schon gewusst, wie man einen ordentlichen Wahlkampf ohne Geld und Personal führt und wissen auch, wie man Mitglieder gewinnt, führt, eine ordentliche Wahlwerbung macht, ein Programm schreibt, um Stimmen wirbt und quasi „aus der Lameng heraus“ Kanzler wird. Der kleine Schönheitsfehler: Um direkt vor Ort am Stand um Wählerstimmen zu werben, fehlte leider die Zeit. Es fehlte auch die Zeit, Pressemitteilungen zu formulieren, Flyer zu entwerfen, Wahlslogans zu kreieren oder programmatische Anträge zu stellen. Gut, Rasenmähen und Haarewaschen sind ja auch wichtig. Aber hätte man sie machen lassen, „dann wären sie aber sowas von, aber hallo, das wäre ein echter Traum, sie wollen ja nicht sagen, sie hätten es gleich gesagt, aber sie haben es ja gleich gesagt!“ Die geben dann den Tipp, die Partei solle lieber Selbstmord begehen und man könne ja immer noch der Kleinbusfahrerpartei oder den Wilden Campern beitreten.

Naja, und dann gibt es noch die Typen wie mich. Die stur behaupten, es handele sich nicht um ein totes Pferd, sondern ein frisch geborenes Fohlen, dem man erst den aufrechten Gang beibringen und die Mähne striegeln muss. Und „jetzt erst recht(s)“ weitermachen, weil sie von ihrer Sache überzeugt sind.

Daher lassen Sie mich, bevor ich mit meiner Rede beginne, ein paar kurze Sätze an Sie richten: „In dieser schweren Stunde sind meine Gedanken bei den Angehörigen der Wahlabgekämpften, deren Leid und Schmerz wir nur annähernd nachvollziehen können, und blicken auf dieses Ergebnis in tiefer Sorge und mit Abscheu und Empörung herab. Immerhin haben wir aber unser sekundäres Wahlziel, die Grünen als stärkste Kraft in Sachsen-Anhalt zu verhindern, erreicht!“

Positiv: Es geht ab jetzt nur noch aufwärts. Abwärts geht ja nicht mehr. Und jeder, der uns jetzt in die kommende Wahlschlacht führt, wird mit prozentualen Stimmzuwächsen wuchern können. Ab „5 Stimmen mehr“ legen wir um über 10% zu. Also, „Klimaliste Sachsen-Anhalt“ (827 Stimmen – Was ist los? War Euch der „Freundeskreis Annalena“ zu rechtsradikal?)  – zieht Euch warm an: Wir kommen. Vielleicht. Irgendwann. Bestimmt. Versprochen.

(Weitere Verzweiflungstaten des Autors unter www.politticker.de)  

 

Von Thilo Schneider ist in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.

Foto: Martin Bock/Pixabay Creative Commons CC0 Pixabay

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Claudius Pappe / 11.06.2021

Schneider bleib bei deinen Leisten: Humorvolle Artikel auf Achgut schreiben. Wir vermissen sie. Geben sie ihre Stimme der AfD. Als langjähriger FDP Wähler mache ich das schon seit 2017. Habe bisher bei 4 Wahlen die AfD gewählt, tat gar nicht weh, hat noch nicht mal gepiekst. Hinterher fühlt man sich saugut.

Rainer Mewes / 11.06.2021

Jaaaa, die Demokratie macht’s möglich, da kann wirklich jeder auf Stimmenfang gehen. Der Rattenfänger von Hameln war gestern, also out. We like to entertain you ...

Peter Holschke / 11.06.2021

Sie hätten sich lieber Volksfront zur Befreiung Deutschland, statt deutsche Volksbefreiungsfront nennen sollen. Oder gab es eine Spaltung der Bewegung? Rechts- und Linksabweichler? Die einzige Partei die ich wählen würde, wäre die Reformpartei, man könnte sie auch als Abrechnungs- und Vergeltungspartei bezeichnen. Oder Neustartpartei. Oder die Partei zur Zerschlagung Deutschlands (Zwecks Wiederherstellung der Kleinstaaterei, minus Preußen). Im übrigen bin ich gegen ein Parteiensystem, allenfalls Wahlvereine ohne eigenes Vermögen sollten erlaubt sein. Listenplätze? Was soll der Unfug? Das ist ein Vehikel zur Züchtung von fristlosen Apparatschiks.

Peter Thomas / 11.06.2021

Lieber Thilo Schneider, warum gründen Sie nicht einfach eine Partei namens F.D.P. ?

Armin Reichert / 11.06.2021

LKR. Als ob diese ganze Spalterei im liberal-konservativen Spektrum irgend jemanden etwas gebracht hätte. Egomanen wie Lucke, Glücksritter wie Pretzel & Petry haben doch unserem gemeinsamen Anliegen nur geschadet. Löst euch auf und lasst uns gemeinsam gegen die Globalisten und Hochverräter kämpfen!

Jana Hensel / 11.06.2021

Lieber Herr Schneider, würde “Ihre” Partei es einmal tatsächlich dank wundersamer Umstände in Umfragen in die Nähe der 5 Prozent schaffen, und würde sie ihr liberal-konservatives Programm nicht verraten, würden sämtliche Regierungsmedien diese Partei innerhalb kürzester Zeit in die gleiche Ecke stellen, so wie sie es ja mit der einzig erfolgreichen Vorgängerversion taten. Dann springen die furchtsamen in der LKR wieder ab, ein paar spinnerte Radikalinskis schleusen sich dazu, und voila, gleiches Bild wie bei der AfD. Wem ist damit geholfen, außer den Machthabenden? Es wäre sinnvoller man brächte sich als demokratiestabilisierendes Element in die Volksfront für Judäa ein, als immer neue judäische Volksfrontsplitterparteien zu gründen.

M. Stelzer / 11.06.2021

Trösten Sie sich, Herr Schneider. Ihre Partei konnte es mit dem Wahlergebnis von Sachsen-Anhalt immerhin verhindern, zur rechts(extremen) Partei zu werden. Das blüht nämlich jeder nicht-linksextremen neuen Partei in diesem schönen Land, die es über die 5-Prozent-Hürde schafft. Oder haben Sie vergessen, was für einen rechts(extremen) Teufel die Medien aus dem unbescholtenen Herrn Lucke gemacht haben, als er noch Chef der AfD war?

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Thilo Schneider / 30.01.2024 / 16:00 / 20

Jahrestag: Die Schlacht von Stalingrad geht zu Ende

Heute vor 81 Jahren ernannte Hitler General Paulus, der mit seiner 6. Armee in Stalingrad dem Ende entgegensah, zum Generalfeldmarschall. Denn deutsche Generalfeldmarschälle ergaben sich…/ mehr

Thilo Schneider / 26.01.2024 / 16:00 / 20

Anleitung zum Systemwechsel

Ein echter demokratischer Systemwechsel müsste her. Aber wie könnte der aussehen? Bei den Ampel-Parteien herrscht mittlerweile echte Panik angesichts der Umfragewerte der AfD. Sollte diese…/ mehr

Thilo Schneider / 18.01.2024 / 16:00 / 25

Neuer Pass für einen schon länger hier Lebenden

Ich will einen neuen Reisepass beantragen. Doch um ihn zu bekommen, soll ich den abgelaufenen mitbringen, ebenso meine Heiratsurkunde und Geburtsurkunde. Warum muss ich mich…/ mehr

Thilo Schneider / 16.01.2024 / 15:00 / 73

Zastrow-FDP-Austritt: „Ich will den Leuten noch in die Augen schauen können“

Holger Zastrow, Ex-Bundesvize der FDP, kündigt. In seiner Austrittserklärung schreibt er: „Als jemand, der in der Öffentlichkeit steht und durch seinen Beruf mit sehr vielen…/ mehr

Thilo Schneider / 11.01.2024 / 14:00 / 64

Was würden Neuwahlen bringen?

Kein Zweifel, die Ampel hat fertig. „Neuwahlen!“ schallt es durchs Land, aber was würden die angesichts der aktuellen Umfrageergebnisse bringen, so lange die „Brandmauer“ steht…/ mehr

Thilo Schneider / 10.01.2024 / 14:00 / 35

Das rot-grüne Herz ist verletzt

Die Leute begehren auf, vorneweg die Bauern. Es wird viel geweint. In Berlin, Hamburg, München und Stuttgart. Aus Angst. Aus Angst, von den Futtertrögen des…/ mehr

Thilo Schneider / 24.12.2023 / 12:00 / 25

Meine Agnostiker-Weihnacht

Herrgottnochmal, ich feiere tatsächlich Weihnachten. Wenn es doch aber für mich als Agnostiker eigentlich „nichts zu feiern gibt“ – warum feiere ich dann? Die Geschichte…/ mehr

Thilo Schneider / 02.12.2023 / 12:00 / 15

Jahrestag: High Noon bei Austerlitz

In der auch „Drei-Kaiser-Schlacht“ genannten Schlacht in Mähren besiegt Napoleon Bonaparte am 2. Dezember 1805, genau ein Jahr nach seiner Kaiserkrönung, eine Allianz aus österreichischen…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com