Titus Gebel / 21.11.2018 / 06:20 / Foto: Bildarchiv Pieterman / 42 / Seite ausdrucken

Die Tage des Sozialstaats sind gezählt (2): Die Alternativen

Wie im ersten Teil gezeigt, führt der Sozialstaat mit seiner verfehlten Anreizstruktur letztlich in den Ruin, entmündigt die Bürger und verursacht unsoziales und unselbstständiges Verhalten. Die gute Nachricht ist: Es gibt funktionierende und erprobte Alternativen zum Sozialstaat. Und damit ist nicht die Verteilung von Almosen durch reiche Gönner gemeint.

Während des 19. und bis ins frühe 20. Jahrhundert waren die meisten Familie stolz darauf, sich selbst unterhalten zu können. Aber wenn der Hauptverdiener krank wurde oder starb, geriet die Familie in schwere Not. Die Antwort der Menschen, also des Marktes, auf diese harte Realität war die Schaffung kollektiver Selbsthilfeeinrichtungen.

In England waren das die „Friendly Societies“, in den USA die „Fraternal Societies“, in Deutschland die Gewerkvereine und Genossenschaften. Ihnen war gemeinsam, dass die Führer dieser Vereinigungen der paternalistische Wohlfahrt (Charity) sehr kritisch gegenüber standen. Sie betrachteten es als Bestandteil ihrer Würde, nicht von solchen Almosen abhängig zu sein, sondern sich untereinander selbst helfen zu können. Ziel war, die Arbeiter zu emanzipieren, anstatt sie in Abhängigkeit von Staat oder Kirche zu bringen.

Diese selbstverwalteten Gesellschaften waren von vielfältiger Erscheinung, funktionierten aber mehr oder weniger nach dem gleichen Muster: Wer regelmäßige Beiträge in einen gemeinsamen Fonds leistete oder Hilfeleistung für andere in Naturalien erbrachte, war berechtigt, im Notfall entsprechende Leistungen zu beziehen. So konnten Unterstützungen bei Bewerbungsreisen, Umzügen, Krankheit, Invalidität, Arbeitslosigkeit, außergewöhnlichen Notfällen und bei Sterbefällen gewährt werden. Die Unterstützungsleistungen waren stets nur als äußerste Nothilfe konzipiert. Jeder Missbrauch wurde aufmerksam verfolgt und in der Regel mit dem Ausschluss geahndet. Darin unterschieden sich übrigens diese Gesellschaften nicht von ihren Kollegen der sozialistischen Gewerkschaften, welche vergleichbare Hilfskassen eingerichtet hatten.

Aus vielen kleinen Kräfte eine Großkraft schaffen

In Deutschland sind vor allem die vom liberalen Amtsrichter Hermann Schulze aus Delitzsch initiierten Gewerkvereine und Genossenschaften zu nennen. Schulze-Delitzsch lehnte staatliche und andere „Hilfe von außen“ ab, weil sie unselbstständig und abhängig mache. Es sei eine deutsche Unsitte, immer nach dem Staat zu rufen, anstatt an Selbsthilfe zu denken. Sein Ansatz war, aus der Vereinigung vieler kleiner Kräfte eine so genannte Großkraft zu schaffen, wenn die persönliche Kraft eines Einzelnen nicht ausreicht. Denn die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Wirtschaft könne man nicht überwinden, darum müsse man sich ihrer zum eigenen Vorteil bedienen.

Er konzipierte unter anderem Vorschuss-, Kredit- und Darlehensvereine, Volksbanken, Rohstoff- und Konsumgenossenschaften, Krankenkosten-, Gesundheitspflege- und Magazinvereine. Volksbanken und Konsumgenossenschaften haben bis heute überlebt. Es ist bemerkenswert, dass Schulze-Delitzsch in den Diskussionen des 19. Jahrhunderts bereits nahezu sämtliche Probleme voraussah, die den heutigen Sozialstaat plagen und die im ersten Teil behandelt wurden. Der Mann hatte einfach recht und die Sozialdemokratie nicht. Bis heute versucht sie erfolglos, ökonomische Gesetzmäßigkeiten zu ändern.

Auch die amerikanischen Fraternal Societies umfassten zu ihren Hochzeiten (um 1920) etwa 18 Millionen Amerikaner, das waren etwa 30 Prozent aller männlichen Erwachsenen. Wie sah die Wirklichkeit der Menschen im Rentenalter damals aus? Einer 1930 durchgeführten Erhebung des Staates New York zufolge waren 43 Prozent der Alten aufgrund eigener Tätigkeiten, Ersparnisse oder Rentenansprüche (Versicherungen, Fraternal Societies) versorgt, während Familie und Freunde weitere 50 Prozent unterstützten. Weniger als 4 Prozent der Alten waren demnach abhängig von öffentlicher oder privater Fürsorge.

Zeitgenössische Erhebungen berichten, dass die Kombination aus Eigenverantwortung, familiärer Unterstützung und kollektiven Selbsthilfeeinrichtungen auch in sehr armen Wohngegenden verantwortliches Verhalten nach sich zog. Besonders populär waren die Fraternal Societies bei der schwarzen Bevölkerung der USA, die häufig im Niedriglohnbereich arbeitete. Sie hielten hergebrachte kulturelle und zivilisatorische Standards aufrecht, übernahmen Verantwortung für ihre eigenes Leben, zeigten Stolz, Unabhängigkeit und Stärke. 1919 ermittelte die Gesundheitskommission von Illinois, dass 93,5 Prozent der afroamerikanischen Familien in Chicago mindestens ein rentenversichertes Mitglied hatten. Sie waren damit die meistversicherte ethnische Gruppe in der Stadt. Für junge Schwarze war es in den 1920er Jahren, im Gegensatz zu heute, ebenso wahrscheinlich wie für Weiße, in Familien mit zwei Elternteilen aufzuwachsen. Auch das spricht dafür, dass der Sozialstaat die Übel, die er zu bekämpfen vorgibt, selbst verursacht hat.

Vom Staat durch seine Zwangsversicherung verdrängt

Bis Anfang des 20. Jahrhunderts waren auch die britischen Friendly Societies feste Bestandteile der Gesellschaft. Als die britische Regierung im Jahre 1911, dem Bismarck’schen Beispiel folgend, eine verpflichtende Sozialversicherung für 12 Millionen Menschen einführte, waren knapp 7 Millionen Mitglieder bereits in etwa 27.000 Friendly Societies versichert (mit stark steigender Tendenz), weitere 2 Millionen waren in unregistrierten Vereinen auf Gegenseitigkeit organisiert. Im Augenblick ihres größten Erfolges wurden diese auf freiwilligem Zusammenschluss beruhenden Gesellschaften also vom Staat durch seine Zwangsversicherung verdrängt. Für die entsprechenden deutschen und amerikanischen Gesellschaften gilt im Prinzip dasselbe. Scheitert der Sozialstaat endgültig, wird diese Idee wiederbelebt werden, erste Ansätze bestehen bereits.

Neben der Mitgliedschaft in kollektiven Selbsthilfeeinrichtungen, die praktisch Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit sind, besteht die Möglichkeit, sich über kommerzielle Versicherungen zu versichern. Das betrifft insbesondere Renten- und Krankenversicherung. Private Unternehmen können immer effizienter und effektiver arbeiten als Staatsbetriebe. Nicht weil sie klüger oder geschickter wären. Sie haben einfach die besseren Anreize: nach oben hin den Gewinn und nach unten hin das Risiko des Verschwindens. Im Ergebnis werden private Anbieter wesentlich mehr für dasselbe Geld leisten, sei es in der Altersversorgung, im Gesundheits- oder dem Bildungssystem.

Auch die Schweiz hat diese Erfahrung machen müssen. Erst 1996 wurde ein Krankenversicherungszwang eingeführt. Zu diesem Zeitpunkt waren aber bereits 97 Prozent aller Schweizer freiwillig privat krankenversichert! Die gesetzlichen Vorgaben und Privilegien des neuen Zwangsversicherungsregimes setzen dieselben Fehlanreize, die an anderer Stelle bereits erörtert wurden. Die logische Folge: Seither haben sich die Gesundheitskosten knapp verdoppelt und sind dreimal schneller gewachsen als die realen Einkommen.

Woanders wurde der umgekehrte Weg beschritten: Chile hat trotz alternder Bevölkerung bereits 1980 geschafft, was in Europa vielerorts als unmöglich gilt. Die Rede ist vom Wechsel der gesetzlichen Rentenversicherung vom Umlagesystem zum Kapitaldeckungsverfahren. Finanziert wurde der Übergang durch Steuern und (vorübergehende) Schuldenaufnahme. Es besteht nur noch eine einzige Verpflichtung, nämlich 10 Prozent des Bruttoeinkommens auf ein Rentensparkonto einzuzahlen. Wer möchte, kann freiwillig mehr bezahlen.

Dafür gibt es zertifizierte private Rentenversicherungsanbieter, welche die entsprechenden Gelder anlegen und unter denen die Einzahler frei wählen können. Das Rentensparkonto ist das persönliche Eigentum des Arbeitnehmers. Ist die Altersrente von 65 Jahren erreicht, kann der Berechtigte seine Leistungen abrufen, aber auf Wunsch daneben trotzdem weiterarbeiten und zusätzlich verdienen. Umgekehrt kann altersunabhängig jeder, der Ansprüche angespart hat, die eine Rente in Höhe von mindestens 50 Prozent des Durchschnittseinkommens der letzten 10 Jahre ermöglichen, in den Ruhestand gehen.

Nach 30 Jahren lautet das Fazit: Die Leistungen des neuen Systems liegen heute bereits um 50 bis 100 Prozent über denen des alten Systems. Durchschnittlich werden Rentenquoten von ca. 80 Prozent des Durchschnittseinkommens der letzten zehn Jahre erreicht. Die Wachstumsrate der chilenischen Wirtschaft hatte sich aufgrund des dadurch neu gewonnenen Anlagekapitals über einen langen Zeitraum nahezu verdoppelt. Die Arbeitnehmer haben ein direktes Interesse an der Wirtschaft entwickelt, sind sie jetzt doch Anteilseigner der größten chilenischen Unternehmen. Demografische Probleme sind irrelevant.

"Kostspielige Ideen des Eurosozialismus"

Das von Chile etablierte System ist zwar immer noch eines, das tendenziell vom unmündigen Bürger ausgeht, der zu dumm ist, für sich selbst vorzusorgen und daher gezwungen werden muss. Es ist aber bereits ein Mischsystem, das weit überwiegend private Anteile und marktkonforme Anreize hat: etwa die Entscheidungsfreiheit zwischen mehreren Anbietern, die Selbstvorsorge und Übernahme von Eigenverantwortung. Die Illusion der Gratisleistung wird vermieden. Mehrere Staaten haben das chilenische Modell bereits übernommen, unter anderen Australien.

Derartige Systeme weisen den Weg ins 21. Jahrhundert. Sie zeigen überdies, dass der europäische Sozialstaat seinen Zenit als weltweit leuchtendes Ideal überschritten hat. Dazu eine Anekdote: Anfang der 1990er, während der letzten Jahre der britischen Herrschaft in Hong Kong, fegte der dortige Vertreter des nominell kommunistischen China den Plan des britischen Gouverneurs, in der Kolonie ein Rentensystem nach dem Umlageverfahren einzuführen, mit der Bemerkung beiseite, es gehe nicht an, dass ein britischer Konservativer die "kostspieligen Ideen des Eurosozialismus" nach Hongkong verpflanzen wolle.

Schließlich bleibt die älteste Form der Hilfe für die Schwachen: die Unterstützung durch Familie, Freunde und Bekannte. Ein guter Bekannter des Autors, ein Anhänger des Sozialstaates, gab sein eigenes Beispiel zu bedenken. Er habe vor einem halben Jahr überraschend die Diagnose Gehirntumor erhalten, und eine sehr teure – zum Glück erfolgreiche – Operation war die Folge. Ohne Sozialstaat, so seine Auffassung, wäre diese Operation nicht möglich gewesen. Aber stimmt das?

Nehmen wir an, ein Sozialstaat sei nicht existent und der Betroffene habe weder eine private Krankenversicherung noch wäre er Mitglied einer kollektiven Selbsthilfeeinrichtung. Was wäre dann geschehen? Zunächst einmal hätte seine Familie versucht, das Geld für diese Operation zusammen zu bringen. Wäre das nicht gelungen, dann hätte sich die Familie an nahestehende Freunde gewandt mit der Bitte zu helfen. Diese hätten die Angelegenheit voraussichtlich im weiteren Bekanntenkreis publik gemacht und um Unterstützung gebeten. Es wäre also eine Anteilnahme einer relativ großen Gruppe von Menschen am Schicksal des Bekannten erfolgt. In Wirklichkeit hat kaum jemand davon erfahren.

In echten existenzbedrohenden Situationen stehen Verwandte und Freunde zusammen, gerade weil sie sich und den Betroffenen kennen. Eine soziale Kontrolle zur Verhinderung von Missbrauch ist möglich und wirksam. Aber entscheidend an dem Beispiel ist, dass der gesamte Vorgang der Anteilnahme, der Suche nach Unterstützung und die echte, weil freiwillige Solidarität tatsächlich nicht stattgefunden haben. Und das liegt am Sozialstaat.

Karitative Einrichtungen

Nun gibt es unbestritten Fälle, in denen Familie oder Freundeskreis die notwendige Hilfe aus finanziellen Gründen nicht aufbringen können. Lediglich für solche Fälle, in denen daneben auch keine Versicherung oder Selbsthilfeeinrichtung eintritt, kommt eine mildtätige oder karitative Zuwendung in Frage. Das schließt etwa familien- und mittellose Alte, Schwerbehinderte oder chronisch Kranke mit sehr teuren Behandlungen ein, für die sich keine bezahlbare Versicherung finden lässt.

Daten hierzu zeigen, wie auch das obige Beispiel aus dem Staat New York, dass die Gruppe dieser Personen in entwickelten Ländern in der Regel nicht mehr als  fünf Prozent der Bevölkerung beträgt. Angesichts der Unsummen, die bereits heute im Bereich freiwilliger Wohltätigkeit aufgewendet werden, scheint es schwer vorstellbar, dass hierzu nicht genügend Mittel aufgebracht werden können. Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, dass in einem solchen Szenario die exorbitanten Ausgaben für den Sozialstaat wegfallen würden, also jeder Beschäftigte erheblich höhere Netto-Einkünfte hätte.

Die beschriebenen Unterstützungsmöglichkeiten über

  • Kollektive Selbsthilfeeinrichtungen
  • Private Versicherungen
  • Familie und Freundeskreis
  • Karitative Einrichtungen              

sollten mithin ausreichend sein, um sämtliche Fälle von echter Bedürftigkeit in einer Gesellschaft aufzufangen. Doch möglicherweise bedarf es darüber hinaus noch einer Art Rückversicherung, um ruhiger schlafen zu können. Insofern könnte ergänzend eine (steuerfinanzierte) staatliche Mindestsicherung von Leib und Leben sozusagen als Überlebensgarantie erfolgen. Voraussetzung wäre der Nachweis der Bedürftigkeit und Nichtbestehen beziehungsweise Nichtleistung der anderen Sicherungssysteme. Prüfung und Leistung erfolgen ausschließlich auf kommunaler Ebene! Denn nur in der noch überschaubaren Struktur einer Gemeinde oder eines Stadtviertels kann eine soziale Kontrolle dergestalt stattfinden, dass Missbrauch vermieden oder doch weitgehend eingedämmt wird.

Die Folgen: Aufschwung und stabile soziale Verhältnisse

Im Ergebnis ist das aufgezeigte mehrstufige Modell wesentlich „sozialer“ als heutige Sozialstaaten. Denn es mobilisiert das Beste im Menschen. Dazu gehört die Übernahme von Verantwortung für sich und Andere, echte Anteilnahme, die Stärkung von Familie und kleinen Gemeinschaften, Ideen- und Erfindungsreichtum zur Überwindung von Schwierigkeiten, freiwillige Solidarität und im Gegenzug Dankbarkeit sowie nicht zuletzt Stolz und Zufriedenheit, sein Leben aus eigener Kraft zu meistern.

Es ist weiter geeignet, Mündigkeit und Selbstständigkeit zu fördern. Denn es trägt zum Verstehen wichtiger Prinzipien bei. Da ist zum einen das Prinzip do ut des, also die Erkenntnis, dass Leistung auf Gegenleistung beruht. Ferner die Goldene Regel: Behandle Andere so, wie Du selbst behandelt werden möchtest. Und schließlich das Nichtaggressionsprinzip, also der Vorrang von freiwilliger Kooperation gegenüber Zwang und Enteignung. Ständige Verteilungskämpfe und das Aufwiegeln gesellschaftlicher Gruppen gegeneinander gehören der Vergangenheit an. Durch die Bildung von echten Kapitalrücklagen steigt die Investitionsquote. Weniger Kosten fallen an, bei gleichzeitig besserer sozialer Sicherung. Wirtschaftlicher Aufschwung und gesellschaftliche Stabilität sind die Folge.

Den ersten Teil dieses Beitrages finden Sie hier.

Literaturempfehlungen (dort auch Nachweise für aufgestellte Tatsachenbehauptungen):

Habermann, Gerd: Der Wohlfahrtsstaat – Ende einer Illusion, München 2013.

Christian Hoffmann, Pierre Bessard (Hrsg.), Sackgasse Sozialstaat – Alternativen zu einem Irrweg, Zürich 2012.

Palmer, Tom (Hrsg.), After the Welfare State, Ottawa 2012. (kostenlos zum Download hier.)

Titus Gebel ist Unternehmer und promovierter Jurist. Er gründete unter anderem die Deutsche Rohstoff AG. Der Beitrag beruht auf seinem Buch Freie Privatstädte – Mehr Wettbewerb im wichtigsten Markt der Welt, in dem er auch gesellschaftliche Grundsatzfragen untersucht.

Foto: Bildarchiv Pieterman

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Thomas Bonin / 21.11.2018

Der entscheidende juristisch-fixierte Knackpunkt scheint die im GG zuoberst stehende Formel “Die Würde des Menschen ist unantastbar” (mit Ewigkeitsanspruch) zu sein, welche eine Umsteuerung im aufgeblähten Block der sozialen Sicherungssysteme schier unmöglich macht. “Würde” besitzt einen edlen Klang, zumal dieser Passus bekanntlich vor dem Hintergrund der NS-Verbrechen im nachfolgenden Rechtsstaat postuliert wurde. Soweit mir bekannt ist, handelt es sich um ein weltweites verfassungsrechtliches Alleinstellungsmerkmal hierzulande. Gleichwohl liesse sich über das, was unter “Würde” zu subsumieren wäre, im konkreten Falle trefflich streiten, was wiederum tunlichst vermieden und deshalb - je nach vorherrschender politisch-ideologischer Großwetterlage - von Oben interpretiert und verkündet wird. Bestes Beispiel ist die regierungsamtliche Handhabe des brisanten Migrations-Komplexes, innerhalb dessen de facto “jedem, der kommt” die gleich (hohe) Portion Würde zuteil wird samt aller daraus resultierenden (rechtlich einklagbaren) Vergünstigungen. Will sagen, dass die Auslegungsbandbreite einen fließenden Charakter in sich trägt und daher gleichsam anfällig gegenüber Missbrauch ist (oder gar dazu einlädt). Diese innewohnende Schwachstelle mögen die Gründungsväter des U.S.-amerikanischen bzw. resp. angelsächsischen Rechtssystems ggf. im Blick gehabt haben, als sie die Redefreiheit als höchstes bürgerlichen Rechtsgut deklamierten. Zugleich damit wurde (trotz großzügigster Gewährung religiöser Gruppierungen) die Trennung zwischen Kirche und Staat dingfest gemacht; nicht so in DE, wo über Ethikkommissionen, Staatsfunk-Beiräte und große kirchliche Hilfsorganisationen sehr wohl Einfluss (ganz im jeweiligen Sinne von “Menschenwürde”) genommen wird. Last but not least hängen Art und Höhe des individuellen Einkommens von Jobs und der Steuerlast zwecks Generierung eigener sozialer Absicherungen ab; bislang hat dies bei jeder Regierung auf Eis gelegen.

toni Keller / 21.11.2018

Wahrscheinlich hat der Autor recht. Nur eine kleine Anmerkung, die Leute die können nichts dafür, die machen nur, was man ihnen seit Jahrzehnten vorkaut, auf allen Kanälen und in allen Formen. Wer, wie ich, schon etwas älter ist, erinnert sich an das so ab Ende der 50er immer stärker einsetzende Gejammer, der damals älteren Generation, das sich in dem Satz zusammenfassen lässt: “Ihr, die Jungen, ihr kennt genau eure Rechte, nur von Pflichten da wisst ihr nichts” das war schon in Zeiten so, die retrospektiv noch gut und vernünftig, bodenständig und hausbacken, von Ausnahmen abgesehen, erscheinen. Seit dieser Zeit ist es aber immer nur schlimmer geworden, ich habe mehrfach erlebt, dass Jugendamtmitarbeiter Kindern von Hartz IV Familien beigebracht haben, dass sie, die Kinder, ein Recht auf Vollversorgung durch die Eltern hätten, und gleichzeitig die Eltern ihnen das KIndergeld auszahlen müssten. (wohlgemerkt bei Kindern, die noch zuhause wohnen, den Weg zur Schule nur seltenst finden und die nichts, außer Ärger, zum Familienleben beitragen)  das sei ihr Recht und das Kindergeld natürlich da um ihnen, den Kindern zu erlauben zu chillen, ein Bier trinken zu gehen, und sich anderweitig zu amüsieren. Weiter, sobald irgendwo in dieser Welt irgendwas schief geht, erscheint ein deutscher Experte im Fernsehen, der erklärt, es läge nur daran, dass dort eben nicht das deutsche Politik- Versorgungssystem etabliert sei. Man tut also so, als sei Hilfe für alle und jede ganz einfach, weil die dafür notwendigen Grundlagen, als da ist Geld, Zeit, Material und know how einfach da seien. Gleichzeitig hat man die innerfamiliäre Solidarität mit dem Wort der bürgerlichen Kleinfamilie und der Verachtung der Frau, die sich nur um Mann, Kinder und die alte Mutter, sowie die alte, kinderlose Tante kümmert, lächerlich gemacht und durch die ökonomischen Zwänge für normale Leute verunmöglicht. Manchmal denke ich der Untergang der sozialen Systeme ist gewollt, weil sie nicht funktionieren,

Klaus-Peter Meyer / 21.11.2018

“Im Ergebnis ist das aufgezeigte mehrstufige Modell wesentlich „sozialer“ als heutige Sozialstaaten. Denn es mobilisiert das Beste im Menschen. Dazu gehört die Übernahme von Verantwortung für sich und Andere, echte Anteilnahme, die Stärkung von Familie und kleinen Gemeinschaften, Ideen- und Erfindungsreichtum zur Überwindung von Schwierigkeiten, freiwillige Solidarität und im Gegenzug Dankbarkeit sowie nicht zuletzt Stolz und Zufriedenheit, sein Leben aus eigener Kraft zu meistern.” Nicht wirklich. Davon könnten Ihnen Hunderttausende schon heute künden, die bereits weitgehend nach ihrem “Modell” leben, d.h. ohne Sozialstaats-Zuwendungen oder auch nur halbwegs hinreichende Kranken- und Rentenversicherung. WEIL sie sich irgendwann mal auf das von Ihnen propagierte Privat-Versicherungs-Modell eingelassen haben.  Realitäts-Check am Rande: Wer Verantwortung für andere übernimmt, z.B. in der Pflege als PKV-Versicherter lebt überwiegend ohne reguläre Krankenversorgung deutlich unterhalb der sog. Armutsgrenze und hat nebenbei bemerkt nicht mal Anspruch auf Almosen der Essen-Tafeln.  Auf diese “private” Weise macht man aus 1 Schwerkranken nicht nur 2, auch die Chancen für beide auf ein deutlich früheres Ableben durch Armut stehen ausgesprochen gut.  Daneben halte ich es für neoliberalen Zynismus, einerseits solidarische Familienhilfe einzufordern, und andererseits auf Arbeitgeberseite immer agressiver Forderungen nach grenzenloser Mobilität von Arbeitnehmern zu erheben.  Der Migrationspakt läßt grüßen.  SO erhält man keine Familienverbände. Man zerschlägt sie! Und entzieht ihrem “Modell” nicht zuletzt damit den Boden.

B.Kröger / 21.11.2018

Man kann einen Sozialstaat auch durch bewusstes Überdehnen zielorientiert sprengen. Dann ist die Bevölkerung scheinbar selber Schuld und nicht diejenigen, die das System bewusst überdreht haben, um das Ganze außer Kraft zu setzen.  Das sollte man auch bedenken. Denken wir mal an das Rentensystem.  Wem hat die Zerstörung des Rentensystems genützt? Cui bono?

marc von aberncron / 21.11.2018

Echt preiswürdige Gedanken, die promovierte Juristen zur Rettung der Gesellschaft elaborieren.  Da empfiehlt sich doch wirklich die Rückkehr zur ruralen Subsistenzwirtschaft, der familiäre Clan unter patriarchalischer Leitung, die Sozialkontrolle der dörflichen Gemeinschaft, der vorrechtliche Zustand der Moral ...

Frank Dieckmann / 21.11.2018

Zitat:“Sie haben einfach die besseren Anreize: nach oben hin den Gewinn und nach unten hin das Risiko des Verschwindens. Im Ergebnis werden private Anbieter wesentlich mehr für dasselbe Geld leisten, sei es in der Altersversorgung, im Gesundheits- oder dem Bildungssystem.” Bemerkt Herr Gebel denn den Logikbruch nicht? Im ERGEBNIS können private Anbieter aber auch alles verlieren! Sie selbst haben sich dabei aber eine goldene Nase verdient. Übrigens, Herr Gebel, Statistiken kann man nicht essen. Waren die Zeiten vor 100 Jahren wiklich so goldig? Ohne Sozialstaat führen schwere und lange Wirtschaftskrisen zwangsläufig zu Diktatur oder Bürgerkrieg. 47 Millionen Menschen in den USA bekommen Essenmarken! Die USA haben sich strukturell nie von der großen Wirtschaftskriese erholt. Sobald man versucht, die Stützen, die der New Deal anbrachte, zu entfernen, sackt die Wirtschaft ab. Die Hyperinflation in Deutschland, hat damals den gesamten Mittelstand enteignet. Die Sozialleistungen waren derart niedrig, daß die Menschen sich an jeden glückverheißenden Strohhalm klammerten. Und der hieß Hitler. Ohne Sozialstaat braucht die wohlhabende Minorität eine Armee zum Einsatz gegen die Majotität der Armen. Herrn Gebel schweben wohl Zustände wie im antiken Sparta vor. Ja, da hat Demokratie noch funktioniert, wenn man das Demos auf eine Minderheit beschränkte.

Daniel Kaiser / 21.11.2018

Der Selbsthilfegedanke wird daran scheitern, dass in der Realität im Wesentlichen eine Gruppe mit geringer wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit von einer Gruppe hoher wirtschaftlicher Lesitungsfähigeit über dem Umweg staatlicher Transferleistungen alimentiert wird. Aus der bedürftigen Gruppe leben viele über ein halbes Leben von Transferleistungen, während aus der Gruppe der Bessersituierten die meisten keinen Tag ihres Lebens auf Transferleistungen angewiesen sind. Das heißt schlicht: die Leistungsbezieher sind nicht im geringsten in der Lage ihren langfristigen Unterstützungsbedarf in den Perioden meist geringsten Einkommens aus eigenen Rücklagen zu decken. Ohne Transfer von den Besserverdienenden zu denjenigen, die im Prekariat leben, wird es nicht funktionieren. Nun führt aber diese Situation im Falle einer Ausweitung des Sozialsektors irgendwann einmal unweigerlich zum gesellschaftlichen Kollaps, wenn die Abgabenlast au Seiten der Leistungsträger eine solche kritische Höhe erreicht hat, dass die Motivation verloren geht. Der Alleinstehende Ingenieur, der merkt, dass er sich angesichts der hohen Abgabenlast nie Wohneigentum wird leisten können, dass er alleine nie eine Familie wird ernähren können, der einzusehen beginnt, dass er im Alter angesichts eines kolabierenden Rentensystems unweigerlich in das wirtschaftliche Prekariat absteigen wird, dem wird die Motivationsgrundlage für seinen Beitrag am Sozialsystem systematisch zerstört. Mit dem Rückzug der Leistungsträger aus dem System, etwa durch Arbeitsminderung oder Abwanderung, werden nun die Sozialleistungen auf Seiten der Bedürftigen unweigerlich sinken. Nun steht eine Gruppe Abgehängter, die zunehmend im sozialen Elend landen, einer Gruppe resignierter Leistungsverweigerer gegenüber, die sich um keinen Preis mehr ohne eigene Wohlstandsperspektive zum Unterhalt der prekären Gruppe melken lassen wollen. Damit ist ein tiefer Bruch in der Gesellschaft vorausprogrammiert.

Okko tom Brok / 21.11.2018

Bismarcks Einführung einer Sozialversicherung galt mir bislang als Großtat, aber ich verstehe, warum man das auch als verhängnisvollen oder wenigstens zweischneidigen Schritt in den Etatismus sehen kann. Hätte die SPD mehr Chuzpe, könnte sie demnach heute für sich beanspruchen,  beinahe „Bismarcks Sozialgesetze verhindert“ zu haben. Das wäre dann aber wirklich ein „Treppenwitz der Geschichte“.

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