Henryk M. Broder / 12.02.2009 / 21:54 / 0 / Seite ausdrucken

Die Nackten und die Kinderreichen

Es ist an der Zeit, auch mal etwas Gutes über die Deutschen zu sagen. In der großen Mehrzahl sind sie weder Antisemiten noch Rassisten, sie wählen weder links- noch rechtsradikal, und auch in der Krise verhalten sie sich vernünftig: sie kaufen ein und sorgen damit für Umsatz und Geldschöpfung. Wenn sie demonstrieren, tun sie es auf eine zivilisierte Art, von den Anarchos im Schwarzen Block einmal abgesehen. Sie lassen sich vom Finanzamt ausrauben und von „Bürgern mit Migrationshintergrund“ als „Schweinefleischfresser“ beschimpfen, ohne böse zu werden. Wenn irgendwo ein Kind entführt oder ein Busschaffner zusammengeschlagen wird, dann fragen sie nicht, wie es dem Opfer geht, sondern ob der Täter vielleicht eine schwierige Kindheit hatte, die ihn auf die schiefe Bahn geraten ließ. Sie freuen sich, wenn in den Städten Moscheen und auf dem Lande Windkraftwerke gebaut werden. Sie trennen ihren Müll, und wenn sie übers Wochenende auf die Malediven fliegen, dann zahlen sie zum Ausgleich freiwillig einen Obolus an einen Umweltfond. Im Großen und Ganzen sind sie hilfsbereit, friedlich und gutmütig. Während sie ab und zu ihre Regierung abwählen, käme die Regierung nie auf die Idee, sich ein anderes Volk zu wählen.
Wie gutmütig die Deutschen sind, was sie sich alles bieten lassen, ohne auszurasten, kann man immer wieder an konkreten Fällen erleben.
Letzte Woche gab es bei RTL eine Reportage über Exhibitionisten und Nudisten. Unter anderem Ehepaare, die sich bei Sexspielen filmen und die Videos ins Netz stellen. Das mag ein wenig exzentrisch sein, aber sie tun es wenigstens auf eigene Rechnung. Ganz anders ein praktizierender Nudist, der mit 28 Jahren beschloss, alle Kleider abzulegen und nackt durchs Leben zu gehen. Heute ist er 44 und läuft nur mit Sandalen an den Füßen und einer Plastiktüte in der Hand durch Frankfurt-Sachsenhausen. Weil er sich beharrlich weigert, auch nur ein Nachthemd anzuziehen, darf er keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen und in keinem Supermarkt einkaufen. Alles, was er zum leben braucht, bekommt er an einer Tankstelle. Der Mann ist nicht dumm, er ist gesund, eloquent und auf seine Weise witzig. „Schwule dürfen heiraten, und ich darf nicht nackt herumlaufen?“ Auch sonst wird er schwer diskriminiert, z.B. wenn er einen Arzt besuchen möchte.
Irgendwann wird das Geheimnis seiner Existenz enthüllt: Er lebt von Sozialhilfe, denn natürlich gibt es keinen Job, den er nackt verrichten könnte. Das heißt, seine Lebensart, sein Hobby wird von denjenigen finanziert, die sich angezogen den Strapazen einer täglichen Beschäftigung unterziehen, als Busfahrer, Müllmänner, Kellner, Verkäuferinnen und Krankenschwestern. Offenbar hat im Laufe von 16 Jahren kein Betreuer im Sozialamt es für nötig gehalten, dem passionierten Nudisten zu sagen: Wir kaufen dir ein Hemd und eine Hose, für alles Übrige musst du selber sorgen.
Nur einen Tag später ging das Drama „Menschen in Not“ weiter, diesmal in einer Talkshow der ARD. Eingeladen war eine neunköpfige Familie – Mutter, Vater und sieben Kinder -, die von etwa 2.800.- Euro im Monat leben musste und sich darüber beklagte, dass sie von der Gesellschaft im Stich gelassen wurde. Die Eltern, beide Mitte 30,  hatten keine Berufsausbildung, die Mutter hatte offenbar daheim die Hosen an, die Kinder wirkten nicht verwahrlost, nur der mundfaule Vater machte den Eindruck, als wäre er gegen seinen Willen aus einer Kneipe in das TV-Studio verschleppt worden.
Die Moderatorin gab sich alle Mühe, die dunklen Seiten im Leben der Familie herauszuarbeiten, die sich nicht einmal einen gemeinsamen Urlaub leisten konnte, sie verzichtete allerdings darauf, die Frage zu stellen, warum zwei Menschen, die kaum für sich selber sorgen können, sieben Kinder in die Welt setzen müssen. Die Begriffe „Familienplanung“ und „Verantwortung“ fielen nicht, so dass man annehmen musste, sieben Kinder gezeugt und geboren zu haben, wäre bereits ein angemessener Beitrag zum Bruttosozialprodukt, der entsprechend entlohnt werden sollte.
So sieht es also derzeit in Deutschland aus. Soziale Kälte, wohin man schaut; nackte Menschen trotzen dem Wetter, junge Paare suchen Trost in der primären Begegnung. Im Norden baut sich ein Islandtief auf und vom Süden weht ein rauer Wind.

Erschienen in DIE WELTWOCHE Nr.7/2009

Und hier kommt Jörg:
http://www.youtube.com/watch?v=UCroG7bH5nI

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