Die Jahresbilanz einer politischen Gefangenen

Die türkische Filmemacherin Cigdem Mater wurde zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie die Gezi-Demos gegen Erdogan unterstützt hatte. Zu den Haftbedingungen gehört, dass Frauen dort keine Tampons erhalten, weil Türkinnen diese nicht benutzen sollten.

Diese Stille der Medien hier wie dort macht mich wütend, wenn Unrecht geschieht und Menschen leiden müssen, physisch wie mental. Çiğdem Mater ist eine türkische Filmemacherin und Journalistin. Sie ist vor einem Jahr zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt worden, wegen Unterstützung der Gezi-Demos. Ohne irgendwelche Beweise für irgendetwas.

Vor zehn Jahren, im Jahr 2013, begannen die Gezi-Park-Proteste auf dem zentralen Taksim-Platz in Istanbul, der letzte heftige Protest gegen die Regierung Recep Tayyip Erdogans. Für mich keimte Hoffnung auf, zumal es anfänglich danach aussah, dass Erdogan seine letzten Tage im Amt hatte. Damals noch Ministerpräsident, aber dennoch der Alleinherrscher über das Ganze. Die Bilder gingen damals um die Welt. Jahre später verurteilte ein Gericht angebliche Drahtzieher zu langen bis lebenslangen Haftstrafen. Darunter auch die erwähnte Çiğdem Mater.

Am 14. Mai dieses Jahres und dann am 28. Mai, bei der nötig gewordenen Stichwahl aber, ließ die Türkei ihre wahrscheinlich letzte Chance, sich vom politischen Islam zu lösen, vorbeistreichen. Derzeit schmoren zehntausende politischen Häftlinge in türkischen Gefängnissen und indirekt auch ihre Familien, die wie Geächtete angesehen und behandelt werden. Keine Chance, irgendwo eine Anstellung zu finden und selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Wer diese Menschen, die Angehörigen und sogar Freunde von diesen Inhaftierten einstellt, riskiert, selbst in den Sog des Unrechts gezogen zu werden. Die Zahl „zehntausende“ kommt durch die vielen angebliche oder tatsächliche Gülen-Anhänger (Bewegung des früher einflussreichen Geistlichen Fethullah Gülen, der erst ein enger Verbündeter Erdogans war, bevor er bei ihm in Ungnade fiel, Anm. d. Red.).

In Freiheit zu sein, bedeutet somit nicht, frei zu sein

Wie schnell so etwas geht, musste auch ein Freund von mir, ein Oberstaatsanwalt einer Stadt in der Türkei, am eigenen Leibe erfahren. Drei Jahre nach dem putschähnlichen Irgendwas – bei dem knapp 500 Soldaten, angeführt von Gülenistischen Befehlshabern, am 15. Juli 2016 zu putschen versuchten –, ist er unter dem Verdacht, ein Gülenist zu sein, verhaftet worden. Damit war es um ihn und seine Großfamilie und Freunde geschehen. Wenn sie eine Beschäftigung hatten, wurden sie auf Nimmerwiedersehen entlassen. Mein Freund saß ein, ohne zu wissen, wer die Behauptung in die Luft gesetzt hatte, dass er ein Gülenist sei.

Zwei Jahre später fand die erste und letzte Gerichtsverhandlung statt, nach der er unter Auflagen freikam. Sein Pass wurde ihm weggenommen. Außerdem wurde er mit Berufsverbot belegt, warum auch immer. In Freiheit zu sein, bedeutete somit nicht, frei zu sein. Er und der gesamte Anhang, Familie und Freunde waren und sind immer noch auf dem Abstellgleis des Lebens. Bei der Gerichtsverhandlung erfuhr er den Grund seiner Verhaftung: Ein anonymer Zeuge, angeblich ein Kollege von ihm, hatte im Jahr 1998 jemandem gesagt, dass mein Freund ein Gülenist sein könnte. Sensationell ist, dass inklusive Erdogan damals alle noch bekennende Gülenisten waren, bis Erdogan mit ihm brach und alle, die so waren wie er, vom Staatsdienst suspendierte oder verhaften ließ. Heute, nach den letzten Wahlen, gibt es Anzeichen dafür, dass er sich doch nicht mehr so krass von Gülen abgrenzt.

Die zwei Kinder und die Ehefrau meines Freundes nahmen vor einem Jahr einen Flug nach Skandinavien und leben jetzt dort. Ein Versuch, sich abzusetzen, misslang und mein Freund musste abermals fünf Monate einsitzen. Jetzt arbeitet er bei einem Freund, inkognito, ohne Anmeldung, unter falschem Namen, als Sekretariatsangestellter eines Rechtsanwalts.

Durchhalten, Çiğdem!

Zurück zu Çiğdem Mate. Sie hat über ihre Rechtsanwälte aus dem Gefängnis über die Situation der Inhaftierten geschrieben und berichtet, dass der Gefängnis-Kiosk nur Binden anbietet, aber keine Tampons, die sie viel lieber benutzen würde. 70 Prozent der Frauen im Gefängnis hätten ihre Regelblutungen. Sie stellte einen Antrag, dass man auch Tampons ins Sortiment nehmen solle. Der Antrag ist abgelehnt worden, weil diese nicht ins System eingepflegt wären, sie solle sich welche vom Frauenarzt verschreiben lassen.

Der Arzt, der alle zwei Wochen zum Gefängnis käme (ein Mann), hätte ihr kein Rezept ausgestellt, mit der Feststellung: „Eine türkische Frau benutzt keinen Tampon!“ In ihrer humoristischen Art schreibt sie: „Ich dachte nicht, dass ein Tampon von nationalistischer Bedeutung sei. Sogar im Gefängnis sind es die Frauen, die härter bestraft werden in einer Männerwelt.“

Ich verstehe die türkischen Frauen in Freiheit nicht, die Erdogan wählen. Es gibt sogar eine nicht besonders kleine Gruppe der Frauen, die Schläge durch die Männer zu ihrer Züchtigung für richtig hält. Ja, das gibt es tatsächlich. Sie hätten den politischen Islam abwählen können am 28. Mai 2023, taten es aber nicht. Dann wäre Mater noch in diesem Monat freigekommen, statt 18 Jahre unschuldig einzusitzen. Ich verstehe die Frauen nicht, dass sie nach dem Bekanntwerden dieser Situation nicht sofort aktiv wurden. Vielleicht hätte man über das Gefängnis Tampons regnen lassen können, oder, oder …

Es geht nicht, wenn wir hier wie dort alles so hinnehmen. Diese unschuldigen Menschen sollen merken, dass sie uns nicht gleichgültig sind. Çiğdem Mater ist eine profilierte Journalistin, die zwischen 1997 und 2005 für ABC News, Sky News, Boston Globe, ARTE, Le Nouvel Observateur, Radio France Internationale und die Los Angeles Times gearbeitet hat.

Durchhalten, Çiğdem!

 

Ahmet Refii Dener, geb. 1958, ist deutsch-türkischer Unternehmensberater, Blogger und Internet-Aktivist aus Unterfranken. Mehr von ihm finden Sie auf seiner Facebookseite.

Foto: Privat/Instagram

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Leserpost

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Johannes Schuster / 30.06.2023

Züchtigung von Frauen ? Henryk Broders ehrliche Haltung nach der ersten Flasche Wein zu Sawsan Chebli würde mich diesbezüglich sehr interessieren. Oder Jörg Kachelmanns Wahrheit über seine Phantasien zu Alice Schwarzer.  Und mal ehrlich, wer hat, wenn er nicht lügt, nicht schon irgendwann mal die Phantasie gehabt, irgendeiner Dummpute mal links und rechts eine zu latschen um den Masochismus der Duldung von hysterischer Dummheit etwas abzukürzen ? Frauen bei Schlägereien, kneifen sich auch unter der Gürtellinie, das ist statistisch, daß Zicken keine Grenzen kennen.  Wer es weniger handwerklich mag, der kann auch Kübelspritzen und Feuerwehrutensilien nehmen um der geschnapptatmeten Dumm- Insistenz ein Ende zu ersinnen. Aber wer sagt schon ehrlich, was sich so wohlfeil bestreiten läßt für ein Bild, das niemals stimmt.

Lutz Liebezeit / 30.06.2023

Despoten leiden an Paratasie, das ist eine emotionale Fehlanpassung vorwiegend im sozialen Bereich. Also, die Despoten leiden daran, aber die Wahrheit ist wohl, daß die Umwelt an der Fehlanpassung der Despoten leidet. Diese Leute erkennt man ziemlich leicht, die verursachen schon bei ihrem ersten Auftritt Gezänk und Streit. Ohne diese Fehlanpassung kommt niemand in unser Parlament, in die Kirche, die Institute, Hochulen, Stiftungen, Beamtenlaufbahn, NGOs, etc.pp. Ich weiß nicht, ob es nicht vielleicht besser ist, die Psychologie zu Hilfe zu nehmen? Das “merkt” man selber, wenn mit jemandem was nicht stimmt, vorausgesetzt, man ist nicht sein eigener Konfliktherd.

Wilfried Cremer / 30.06.2023

Lieber Herr Dener, guter Beitrag. Erdogan liest mit. Besonders wenn Sie jede Woche sowas schreiben, wird er davon krank.

esther braun / 30.06.2023

Herr Dener, was an dem Wahlverhalten der Frauen ist nicht zu verstehen? Indoktrination von Geburt an, Gehirnwäsche, Stockholmsyndrom und in einem der wenigen lichten Augenblicke entwickelt sich dann noch der Neid beim verstohlenen Blick auf die freie Frau. Und Angst. Freiheit bedeutet auch immer Unsicherheit.

Hans Bendix / 30.06.2023

Nun, Herr Dener, ich will Ihnen nicht zu nahe treten, mir aber gleichwohl zwei Anmerkungen erlauben: 1) Aus Ihren Publikationen habe ich den Eindruck gewonnen, daß Sie, obzwar türkischer Abstammung, “türkischen Verhältnissen” indes kritisch gegenüberstehen. Ich persönlich habe nicht das mindeste Vorurteil gegen die Türken in meinem Bekanntenkreis; dabei handelt es sich ausnahmslos um fleißige Menschen und “aufrechte Israeliten”, deren Hauptbestreben dem Fortkommen ihrer Familie in Deutschland gilt; mein Gemüsehändler hat seine vier Töchter (deren älteste mittlerweile als Kinderärztin praktiziert) an die katholische Mädchenschule geschickt, weil sie dort die beste Bildung erwerben konnte unabhängig von ihrer Herkunft. In die “Moschee-Angebote” mag der Vater nicht mehr gehen (er betet lieber privat), weil dort nur “gegen Deutschland Stimmung gemacht” werde.—Wer Religion (egal welche) als politisches Mobilisierungsinstrument mißbraucht, zeigt damit nur, daß er keine mehrheitsfähigen politischen Ziele verfolgt - und wird scheitern,  wie die Imperatoren von Nero über Decius bis Diokletian, wie die Hohe Pforte und Kara Mustafa gescheitert sind, wie auch Erdogan scheitern wird - wenn er es noch erlebt. Seien Sie zuversichtlich, sehr geehrter Herr Dener, noch niemandes Kastanien sind grenzenlos in den Himmel gewachsen. - Aber, wie Qohelet im Alten Testament sagt: “Alles hat [bzw. braucht] seine Zeit” - sogar der Widerstand.

B. Gersfeldt / 30.06.2023

“Es gibt sogar eine nicht besonders kleine Gruppe der Frauen, die Schläge durch die Männer zu ihrer Züchtigung für richtig hält. Ja, das gibt es tatsächlich.”—> übrigens auch in Schland. Habe schon mehr von der Sorte treffen müssen, als ich treffen wollte…

Ralf Pöhling / 30.06.2023

Ein wenig Fachexpertise dazu: Die Türken müssen begreifen, dass sie seit Jahrzehnten professionell ausgetrickst werden, damit da jemand an die Macht kommt und dort bleibt, der das Land gegen seine ursprünglich laizistische Ausrichtung durch Atatürk wieder umpolen soll. Der Putschversuch 2016 war eine Inszenierung des Sicherheitsapparates unter Führung der AKP. Mit dem Ziel, Säuberungen im Apparat zu rechtfertigen. Das Feindbild “Gülen Bewegung” ist ein ebenso künstlich erschaffenes Feindbild, was die juristische Begründung für die Säuberung liefern soll. Weder der Putsch noch das Feindbild “Gülen” ist echt. Das war ein Trick, um das durch Atatürk geprägte Militär auf Linie zu bringen. Um den Zusammenhang hier in Deutschland zu begreifen, muss man wissen, dass das Militär in der Türkei der Garant dafür war, dass Atatürks laizistisches Modell des türkischen Nationalstaates weiter erhalten blieb. Mit der Säuberung hat man das Militär politisch mit der islamischen AKP Führung des Landes gleichgeschaltet und damit den Schutz des Landes vor einer radikalislamischen Übernahme abgestellt. Das hat alles System. Und dieses System läuft derweil immer noch weiter. Getroffen hat es auch die Justiz und natürlich mehr und mehr die Zivilgesellschaft. Wie sagt man so schön? Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Schlachter selbst. In der Türkei ist das leider vollends durchgeschlagen. Und diejenigen, die nicht dumme Kälber sind, bringt man dann hinter Gitter, wo man sie entweder gedenkt umzuerziehen, oder einfach aus der Gesellschaft fernzuhalten. Die AKP geht eins zu eins nach Lehrbuch vor. Nach einem Lehrbuch, was sie von uns bekommen hat. Es war ein gigantischer Fehler, die Muslimbrüder gegen die Sowjets ins Spiel zu bringen. Die NATO Mitgliedschaft der Türkei hat dann den Rest erledigt. Die Geister die ich rief, werde ich nun nicht mehr los…

Franz Klar / 30.06.2023

Der Autor kommt mit seinen westlichen Werten hier im Kommentariat bestimmt nicht gut an ...

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