Von Klaus D. Leciejewski
Es gibt Ereignisse, die im Nachhinein als Bruch historischer Entwicklungslinien erkannt werden. Beispielsweise ist das Münchner Abkommen von 1938 ein solcher Bruch, mit dem Frankreich und Großbritannien die Tschechoslowakei Hitler auslieferten und später auch wehrlos der Eroberung Polens und der baltischen Staaten gegenüberstanden. Allerdings wird dabei häufig vergessen, dass auch dieser Kniefall vor einem Diktator eine Vorgeschichte hatte. Er kam nicht völlig unerwartet, er hatte seine Vorbereitung. Bis heute ist dies für die unterworfenen Länder ein Trauma, während die Erinnerung daran in der aktuellen Politik Frankreichs, Großbritanniens und der Bundesrepublik weitgehend zurückgedrängt ist. Vor allem die damit verbundene Selbsterniedrigung der Intellektuellen dieser Staaten hat sich in ihrem heutigen Bewusstsein nicht verankert.
Ein derartiger Bruch lässt sich auch an einem Ereignis in der jüngsten Geschichte der Bundesrepublik festmachen. Die Kanzlerin Angela Merkel hatte verkündet, dass das Buch „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin „nicht hilfreich sei“. Danach betrieb sie aktiv auch seine Entlassung als Staatsangestellter. Obgleich hunderttausende Menschen dieses Buch kauften, gab es keinen Aufschrei der deutschen Intellektuellen gegen diesen staatlich betriebenen Rufmord. Soweit die bekannte Geschichte. Mit diesem Ereignis veränderte sich jedoch endgültig und gravierend die intellektuelle Landschaft in unserem Land.
Quasi ex cathedra wurde über einen Autor und eine Diskussion ein Verdammnis ausgesprochen. Forthin gab es keine geistigen Auseinandersetzungen mehr zu Weichenstellungen in der deutschen Politik, die politische Auswirkungen hatten. Selbst der Protest von über 270 staatlich bezahlten Wirtschaftswissenschaftlern gegen die „Griechenlandrettung“ hatte keinerlei politische Folgen, ja im Gegenteil sogar, denn wiederum konnte ein maßgeblicher Politiker, Wolfgang Schäuble, die Autoren – einfach ausgedrückt – als ‚verantwortungslose Dummschwätzer‘ verunglimpfen.
Die Austauschbarkeit der Feuilletons von Zeit, SZ und FAZ
Bis zu diesem Ereignis herrschte in Deutschland ein Konsens, dass über unterschiedliche Auffassungen zu Entwicklungen unseres Landes offen gestritten werden konnte. So wie der „Spiegel“ massiv für einen Ausgleich mit den osteuropäischen Staaten eintreten konnte und später die „FAZ“ für die Vereinigung der beiden deutschen Staaten stritt. Völlig unabhängig davon, ob man die Auffassungen von Sarrazin weitgehend oder aber nur teilweise oder auch überhaupt nicht teilt, zeigte die Publikumswirksamkeit dieses Buches, dass sein Autor offensichtlich ein Thema laut angesprochen hatte, welches breite Schichten unseres Landes bewegte. Nur die Intellektuellen bewegte es nicht, von Ausnahmen abgesehen.
Warum hatte sich nicht – wie beispielsweise drei Jahrzehnte zuvor im Historikerstreit – ein Leuchtturm früherer Diskussionen wie Jürgen Habermas vehement für Meinungsfreiheit eingesetzt? Dem Verdikt der Kanzlerin beugte sich die intellektuelle Elite Deutschlands, und als die Kanzlerin auch noch die Atomwende durchsetzte, war die freiwillige Unterwerfung unter das Kommunikationsdiktat von Union, SPD und Grünen abgeschlossen. Fortan sollte kein intellektueller Aufschrei mehr den Gleichklang zwischen den politischen und den intellektuellen Eliten stören.
Ein prägnantes Beispiel dafür ist die weitgehende Austauschbarkeit der Feuilletons von Zeit, SZ und FAZ. Während 1990 Spiegel und Zeit noch konsequenzenlos gegen die Wiedervereinigung anschreiben konnten, werden jetzt die wenigen Intellektuellen, die den Mut haben, diese „prästabilisierende Harmonie“ zu stören, konsequent diffamiert. Allerdings: Wenn bereits gegen Blogs mit begrenztem politischen und intellektuellen Einfluss wie Tichy‘s Einblick und Achgut Hetzkampagnen initiiert werden, dann muss Angst in den Eliten umgehen.
Es ist die Angst, ohne die Vernichtung Andersdenkender die eigene Position nicht durchhalten zu können. Ihr Meinungsdiktat ist zwar noch nicht vollständig durchgesetzt, aber es nimmt stetig zu. Die Lust am Streiten ist in Deutschland verschwunden, weil die vereinigten Politiker und ihre intellektuellen Absicherer sich in unserer Konsensrepublik behaglich eingerichtet haben.
Die Vorgeschichte dafür ist mehr als vier Jahrzehnte lang. Sie beginnt mit der Kanzlerschaft von Willy Brandt. Über alle folgenden Kanzler hinweg bis zur Eurokrise war es eine glückliche Zeit für Deutschland. Das fast stetige Anwachsen des Wohlstandes führte zu einem höchst eigenartigen Phänomen. Entgegen aller historischen Erfahrung breitete sich das Gefühl aus, diese Prosperität könne nie zu Ende gehen. Die deutsche Außenpolitik wurde zu einer Scheckbuch-Diplomatie, Europa wuchs zusammen und die deutsche intellektuelle Elite schwelgte in Glückseligkeit. Die dabei gleichfalls stetig steigende Verschuldung wurde als ein notwendiges Übel hingenommen, das ja nicht unmittelbar weh tut.
Abwarten und sich glücklich fühlen
Mit Frau Merkel zog ein anderer Politikstil in Deutschland ein. Der Ausspruch Hannah Arendts, dass das „Handeln das eigentliche Werk der Politik“ sei, galt nicht mehr. Nicht mehr die Aktion bestimmte die deutsche Politik, sondern nur noch die Reaktion. Hannah Arendt meinte weiter: „Ein Wesenszug des menschlichen Handelns ist, dass es immer etwas Neues anfängt; … Um Raum für neues Handeln zu gewinnen, muss etwas, das vorher da war, beseitigt oder zerstört werden; der vorherige Zustand der Dinge wird verändert.“ Diese Haltung entsprach nicht mehr der Haltung der deutschen intellektuellen Elite. Das Abwarten und sich glücklich fühlen im erreichten Zustand, das war ihre Welt. Die neue Politik von Merkel hob die Stimmung unter der intellektuellen Elite. Darum ist der Eindruck, dass Merkel ihre Opponenten weggebissen hatte, unzutreffend. Sie hatte nur erkannt, dass auch diese kaum noch eigenen Willen hatten und sich bereitwillig beiseite schieben ließen. Wer schon könnte sich einen Friedrich Merz als einen Bundeskanzler vorstellen! Ich stand einmal während einer Diskussion mit einem Glas Wasser in der Hand einige Zeit direkt neben ihm. Nach einer halben Stunde waren Eiskristalle in meinem Glas.
Weitgehend widerstandslos lieferten sich die deutschen Intellektuellen der oppositionslosen Politik aus, aber dafür hoffierte diese die intellektuelle Elite. Der CDU-Ministerpräsident von NRW verlieh Jürgen Habermas in einem großen Akt der Nächstenliebe den Staatspreis seines Bundeslandes und Habermas genoss es sichtlich, war gerührt und niemand wollte fragen, wer dabei der Tor war. Die Intellektuellen hatten sich endgültig in Selbstgerechtigkeit eingelullt. Die Welt drehte sich nicht mehr um sie, sondern es drehte sich nur noch die Welt in ihnen. Wolf Lepenies stand diesem Prozess als Beobachter bei: „Die Reflexion ist die ursprüngliche Aufgabe der Intellektuellen – die Selbstreflexion ist ihre konstante Bedrohung. Denn das Zurückwenden auf sich selbst birgt die Gefahr in sich, nur noch das eigene Ich, nicht aber mehr die Welt um sich herum wahrzunehmen.“ Das intellektuelle Deutschland will sich seine Pensionsberechtigung sichern, es hat sich weitgehend selbst abgeschafft.
Feindbild Trump als Glücksfall für Europa
Wenn Angela Merkel erklärte, dass ihre Politik alternativlos sei, dann traf dies tatsächlich zu, allerdings in einem anderen Sinne als den von ihr damit gemeinten. Alternativlos nur, weil es keine in einer breiten Öffentlichkeit diskutierten alternativen Politikentwürfe gibt. Damit sind wir intellektuell wehrlos gegen die Gefahren geworden, die unserem Land drohen – hingegen gefallen sich unsere Intellektuellen darin, solche Gefahren konsequent zu leugnen. Die Interessen unserer Nation interessieren sie nicht mehr, schließlich gibt es ja das geeinte Europa.
Wenn aber dieser Einigung Europas Ungemach droht, dann werden die Ursachen dafür in anderen Ländern gesucht. Welch ein Glücksfall für diese Haltung, dass ein Donald Trump amerikanischer Präsident wurde! Die deutschen Intellektuellen schulden den amerikanischen Wählern tiefen Dank, dass sie ihnen wieder ein echtes Feindbild geliefert haben. Indessen liefert dieses nur einen kleinen Zeitaufschub, denn die Verdrängung geistiger und politischer Alternativen hat der intellektuellen Elite ihrer Zukunftsfähigkeit beraubt. Die Geschichte hat intellektuelle Leere stets bestraft.
Um die Verkrustungen in unserer Gesellschaft aufzubrechen benötigen wir einen erneuten „Bruch“, allerdings kann dieser nur aus einem ökonomischen und politischen Zusammenbruch hervorgehen.
Klaus D. Leciejewski hat an verschiedenen deutschen Hochschulen Wirtschaft gelehrt, ist Autor mehrerer Sachbücher und Publizist. Er ist mit einer Kubanerin verheiratet und lebt einen großen Teil des Jahres auf Kuba.