Angenommen, Herrn Häberles Haus brennt. Als die Löschwagen eintreffen, steht bereits der Dachstuhl in Flammen. Das Feuer hat auch auf das Nachbarhaus von Herrn Pfleiderer übergegriffen. Weil der zwei Feuerlöscher im Haus hatte, einen im Parterre und einen im Dachgeschoss, hat Pfleiderer in Eigenhilfe das Schlimmste verhindern können. Sein Haus wird schwer lädiert, es bleibt aber bewohnbar.
Häberles Haus dagegen brennt bis auf die Grundmauern ab. Es war auch deshalb besonders gefährdet, weil beim Bau damals Stroh statt feuerfestem Material als Dämmstoff verwendet worden war. Und versichert war es auch nicht.
Am Tag drauf besichtigen Häberle und Pfleiderer gemeinsam den Schaden. „Weißt du was“, sagt Häberle, „wir haben großes Pech gehabt. Wir müssen nun gemeinsam sehen, wie wir rauskommen aus dem Modder.“ Er schlägt vor, dass sie beide einen Wiederaufbaukredit bei der Bank aufnehmen und alles in einen Topf tun.
Wie sich Herr Pfleiderer wohl entschieden hat?
Vor der gleichen Entscheidung steht auch der deutsche Finanzminister, Olaf Scholz. Die Regierungen von Frankreich, Italien und Spanien haben, auch im Auftrag von sechs kleineren EU-Staaten, die Einrichtung von „Corona-Bonds“ gefordert, die den bedürftigen Europäern helfen sollen, nach dem Ende der Covid-19-Seuche wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen.
Der französische Präsident Emmanuel Macron hat in einem flammenden Aufruf die Europäer aufgefordert, mehr Gemeinschaftlichkeit als bisher walten zu lassen. „Wir werden diese Krise nicht ohne eine starke europäische Solidarität in Bezug auf Gesundheits- und Haushaltsfragen überwinden“, sagte er in einem Interview mit drei italienischen Zeitungen. „Europa muss sich stolz und stark fühlen, weil es das ist.“
Leyens larmoyante Botschaft
Der Appell ist vor allem an Deutschland gerichtet, den europäischen Wirtschaftsgiganten, der zwar auch taumelt, aber vermutlich nicht existenziell bedroht ist. Solidarität bedeutet, das Elend der anderen zu seinem eigenen zu machen. Die Deutschen und die stabileren Staaten sollen den Klingelbeutel füllen, und die schwächeren Staaten in Südeuropa sollen sich, daraus bedienen dürfen.
Deutschland sagt kategorisch nein zum Vorschlag des Franzosen. Ebenso Österreich und die Niederlande sowie die baltischen und die skandinavischen Staaten.
EU-Kommissarin Ursula von der Leyen will nicht Stellung beziehen, sagt nicht ja zu den Bonds, aber auch nicht klar genug nein. Sie zeigt Verständnis für die Hilferufe der Südeuropäer. Jedoch, so sagt sie, man arbeite derzeit nicht daran. Sie will demnächst aber "Vorschläge vorlegen“ In der Sache steht sie wohl bei ihrer Freundin, Angela Merkel, traut sich aber nicht, sich offen dazu zu bekennen. Ihre Performance im Brüsseler Berlaymont ist ebenso kläglich wie früher die im Berliner Verteidigungsministerium.
Ihre larmoyante Botschaft an die „cari amici italiani“ wurde von den Italienern nur verspottet. Ex-Außenminister Sigmar Gabriel sagte im ZDF-Politmagazin „Berlin direkt“, man habe offenbar eine Schönwetter-EU.“ Und: „In der größten Bewährungsprobe seit ihrer Gründung versagt sie bisher vollständig.“
Richtig ist immerhin: Das Corona-Thema könnte brisantes Spaltmaterial freisetzen, das die Einheit Europas ernstlich bedroht. Die EU ist eine Kongregation von Egoisten. Es gibt Staaten auch außerhalb der Südschiene, die vor einem Ausstieg aus der Wertegemeinschaft nicht zurückschrecken würden, wenn sie den Eindruck hätten, dass ihnen die Mitgliedschaft keine materiellen Vorteile mehr bringt.
Die Brüsseler Reaktionen auf den Rückbau von Demokratie und Gewaltenteilung in Polen und Ungarn waren der Einstieg in das osteuropäische Disengagement. Die Fronten haben sich seitdem verhärtet. Nord gegen Süd, reich gegen arm.
Olaf Scholz hat sein Dogma von der schwarzen Null schweren Herzens preisgegeben. Er meint, in Krisenzeiten müssten Staaten auch Schulden machen dürfen. Allerdings keine Schulden, die von anderen getilgt werden sollen. Auch die meisten Wirtschaftsexperten meinen, der deutsche Steuerzahler dürfe nicht zu sehr strapaziert werden, vor allem nicht von Staaten, die schon zu normalen Zeiten ihre Haushalte nicht in den Griff kriegen.
Eine Rede, in der das Wort „Europa“ nicht vorkam
Die Summe sei zweitrangig, sagt Macron locker. Das kann sie aber nur für notorisch säumige Zahler sein. Der Bundestag hat am 24. März ein Soforthilfepaket im Umfang von 156 Milliarden auf den Weg gebracht. Die Summe der Stützungsmaßnahmen steht knapp unterhalb der Billionengrenze. Die zusätzliche Belastung durch Bonds nur für Deutschland wird auf 20 bis 30 Milliarden Euro geschätzt.
Empfängerländer könnten sich stattdessen bei der „Europäischen Investitionsbank“ und dem „Europäischen Stabilitätsmechanismus“ (ESM) um Kredite bemühen. Das wollen sie aber wohl nicht. Liegt das daran, dass dort Hypotheken nur mit strengen Auflagen vergeben werden?
Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, die der deutsch-französischen Freundschaft die Reverenz sonst nie verweigert, lehnt die Corona-Bonds ab. Sie hat begriffen, dass sie nichts anderes sind als die seit vielen Jahren zwischen Berlin und Paris umstrittenen Euro-Bonds in neuem Gewand. Zum ersten Mal seit Jahren hielt die Kanzlerin eine außenpolitische Rede, in der das Wort „Europa“ nicht vorkam.
Auf einem Videogipfel der Staats- und Regierungschefs kam es letzte Woche zur rhetorischen Keilerei. Angela Merkel, so berichteten Agenturen, sei irritiert gewesen über die Aggressivität des italienischen Premiers Giuseppe Conte. Der hockt nämlich im Palazzo Chigi und nimmt übel.
Conte beklagt vor allem den „attentismo tedesco“, den Attentismus der Deutschen, wie er es nennt. Der Terminus bezeichnet ein untätiges, abwartendes Verhalten. Dabei werden Entscheidungen ständig aufgeschoben in der Erwartung, dass die Situation sich irgendwie von selbst. klärt. Conte tut den Deutschen Unrecht. Sie waren in der Anfangsphase der Pandemie aktionistischer als die Italiener. Er vergisst auch, dass schwerkranke Landsleute aus der Lombardei und der Emilia Romagna zur Behandlung nach Deutschland ausgeflogen wurden, weil es daheim an Intensiv-Betten mangelt.
Die Befürworter der Corona- alias Euro-Bonds argumentieren eher politisch und moralisch statt ökonomisch. Der grüne Globalist Robert Habeck, der das Prinzip Heimatlosigkeit als wichtige Norm seiner Politik versteht, hat sich selbstverständlich für die Bonds ausgesprochen. Und ausgerechnet das gewöhnlich stramm profitorientierte Geld-Magazin „Capital“ plädiert dafür, „für eine begrenzte Zeit“ Gemeinschaftsschulden in der Eurozone zuzulassen. „Begrenzte Zeit“ klingt in diesem Zusammenhang paradox. Schuldentilgung ist bekanntlich nicht die stärkste Seite der Südeuropäer.
Auch die Mehrheit der deutschen Bevölkerung hält nichts von Corona-Bonds. Auf dem Blog „Börse.ARD“ stimmten (bis zum letzten Wochenende) 13 Prozent der Befragten mit „Ja, finde ich gut“ und 87 Prozent mit „Um Himmels Willen, nein“.
Womit auch die Frage beantwortet ist, ob Herr Pfleiderer sich in eine Schuldengemeinschaft mit seinem Nachbarn, Herrn Häberle, begeben wird.